Das Prinzip der Bekleidung
Wolfgang Pehnt





In der klassischen Moderne galt die Wahrheit als ein ultimatives Ziel der Architekturästhetik – und die Wahrheit war nackt. „Wo zeigt auch... sonst einmal die Wahrheit so rein und unschuldig ihren Körper”, fragte Bruno Taut seine Leser; er meinte die Amsterdamer Börse von Hendrik Petrus Berlage. Der Biograph des großen Kirchenbauers Otto Bartning rühmte: „Die Zweckform steht als nackter Baukörper vor uns.”[1] Klassische Moderne war, salopp gesagt, der Versuch einer FKK-Architektur – zumindest, wenn man ihren Theoretikern glauben will. Doch die Rede vom „nackten Baukörper” enthält einen Hinweis, der zu einer anderen, positiveren Bewertung des architektonischen Kleides führen kann.

Der nackte Körper ist seinerseits auch bekleidet, nämlich mit der Haut. Dank ihres Aufbaus in Schichten, ihres wärmespeichernden Haarbesatzes, ihres Anschlusses an den Blutkreislauf, ihrer Feuchtigkeit und Säuren absondernden Drüsen kühlt und wärmt diese großartige und komplizierte körpereigene Fassade und klima­tisiert unvergleichlich viel besser als die raffinierteste doppelschalige Vorhangfassade. Und Wärmung und Kühlung sind nur zwei ihrer Funktionen.

Das Gewand ist jenseits der Haut die zweite Hülle, Architektur ist die dritte

Die dritte, die Architektur, befindet sich ein Stück weiter von dem zu schützenden Körper entfernt als die zweite, das Kleid. Beide haben vergleichbare Aufgaben: Kleidung filtert Einflüsse der Außenwelt, erhält die Körperwärme oder schützt vor Sonneneinstrahlung, gibt Spielraum für Bewegung, das Haus tut es auch. Beide haben zudem eine darstellen-de, symbolisierende Aufgabe. Sie erfüllen das menschliche Distinktionsbedürfnis. Kleid wie Haus verdeut­lichen die Individualität ihrer Besitzer oder Bewohner wie zugleich ihre Zugehörigkeit zu Altersgruppen, sozialen Klassen, kulturellen Lebensmustern. Sie dienen damit nicht nur dem Ausdruck des Ichs, sondern auch der Orientierung der anderen.

Auskünfte, wie sie die Erscheinungen des Alltags bereithalten, sind für alle eine wichtige Informationshilfe. Je größer das Insiderwissen, desto differenzierter das Unterscheidungsvermögen. Ich habe mir sagen lassen, dass es für einen trainierten Jogger einen großen Unterschied macht, ob er Adidas- oder Puma-Laufschuhe trägt – nicht, weil die einen bessere Luftpolsterung als die anderen aufwiesen, sondern weil das Markenbranding auf unterschiedliche Charakterbilder
der jeweiligen Träger hinweist. Und natürlich lässt es Rückschlüsse zu, mit welcher Architektur sich einer umgibt, sofern ihm seine finanziellen Mittel und das Marktangebot die Wahl lassen; ob er also in einer WG im jugendstiligen Mietpalais lebt, in einem Niedrigenergiehaus mit alternativer Anmutung oder in einem maßgeschneiderten Elbchaussee-Domizil von unseren Spezialisten in Sachen Retrokultur.

Bei beiden Hüllen, bei Kleidung wie Architektur, gibt es Anlässe und Gelegenheiten, wo größere Formendichte, ein größerer Aufmerksamkeitsgrad angebracht, und welche, wo sie wenig sinnvoll sind. Man wird in der alltäglichen Arbeitskleidung sich nicht auffällig vom anderen unterscheiden wollen. Da tun es die Blue Jeans oder der graue Straßenanzug. Gleichheit oder Ähnlichkeit bringt, wie der Kulturphilosoph Georg Simmel in seiner Soziologie der Mode feststellt, nämlich auch Entlastung, die darin liegt, „das gleiche zu tun und zu sein, wie die anderen”. „So ist die Mode nichts anderes als eine [Lebensform], durch die man die Tendenz nach sozialer Egalisierung mit der nach individueller Unterschiedenheit und Abwechslung in einem einheitlichen Tun zusammenfasst”.[2]

Sich einerseits zu entlasten und sich andererseits zu vereinzeln im Besonderen, sind psychologisch gleichermaßen notwendige Pole. Die Egalisierung, die beispielsweise im Tragen von Jeans liegt, erlaubt trotzdem eine feinere Differenzierung. Es gibt die Wahl der Marken zwischen Levi’s und Armani. Straßenfest, Rock­konzert, Tanzparty, Opernbesuch, Karneval oder Love Parade geben dagegen begründeten Anlass zu aufwendigen und auffälligen Selbstinszenierungen. Ohne dieses Wechselspiel zwischen Normalität und Ausnahme würde das Exzeptionelle nicht wahrnehmbar werden. Lauter Aus­nahmen sind eben keine Ausnahmen. Die Möglichkeit, das Gewöhnliche mit feine­ren Zeichen der Unterscheidung zu versehen, gibt es – wie bei den Jeans – auch im alltäglichen Bauen: in den Proportionen, den Details oder in der Farbe.


Was die zweite von der dritten Haut trennt, das ist das höhere Maß an Materialität und der längere Lebenszyklus der dritten Hülle, der Architektur

Ein Bauwerk ist schwerer als ein Kleid, massiver, physisch dichter, ungleich größer und teurer und nur mit beträchtlichem Aufwand zu entsorgen. Es dient nicht nur einem Menschen, sondern mehreren oder vielen. An seiner Realisierung haben ungleich mehr Personen mitgewirkt.

Anzug und Kleid sind die Sache dessen, der sie trägt. Sie lösen manchmal Bewunderung oder Verwunderung aus, aber betreffen nicht wirklich die Existenz der anderen. Doch ein Bauwerk verändert real den Lebensraum vieler Anderer. Es wirkt als öffentliches Ereignis. Der Regelungsbedarf ist also viel größer. Daher darf man erwarten, dass das Bauwerk länger Bestand hat als die Kleidung, mindestens für die Dauer der Abschreibungsfrist, und dass es daraufhin entworfen wird: ästhetisch haltbarer, weniger auffällig, weniger exponiert und daher weniger veränderungsbedürftig als die kurzfristige und leicht ersetzbare Mode, die irgendwann ihr Ende in der nächsten Altkleidersammlung findet. Die Mode darf spielen, darf witzig sein. Gebaute Witze, denen man wieder und wieder begegnet, sind dagegen schwer erträglich.

Der Baumeister und Architektenlehrer Otto Wagner schätzte schon Anfang des 20. Jahrhunderts den „Wechsel im Geschmack” auf einen Turnus von jeweils sechs Jahren.[3] Alle sechs Jahre etwas Neues! Das Tempo hat heute noch angezogen. Postmoderne, Hightech, Dekonstruktivismus, Zweite oder Dritte Moderne, Reflexive Moderne, Neue Einfachheit, Minimalismus, die Architektur des Blob, die neue Ornamentik, das alles sind Etiketten allein aus den letzten 25 Jahren. Man hat ja heute schon Sorge, wenn ein Projekt eine längere Planungs- und Bauzeit als die üblichen zwei, drei Jahre braucht. Hält sich der Entwurf noch, oder ist die Architekturmode schon längst woanders?


Manches hat die Städte aufregender gemacht, aber wenig davon hat sie wohnlicher werden lassen

Oft scheint es, als seien diese Stilgebärden nichts als Oberflächenphänomene. Ob Postmoderne oder Minimalismus, es herrschen nach wie vor: unvernünftiger Flächenverschleiß, erhöhtes Anspruchsdenken (mehr als 40 m² Wohnfläche pro bundesdeutscher Person, 1950 waren es noch 15 m²!­[4]), zunehmender Verlust des öffentlichen Raums, Perforierung der Randzonen, vermehrter Bedarf an individuellem Verkehr, sprich Auto, den auch die vorübergehende Reduzierung der Pendlerpauschale nicht stoppen konnte. Für ihn produzierten die repräsen­tativen Marken, zumindest bis zum großen Crash, zwölfzylindrige Superfahrzeuge mit „überragendem Drehmoment” und schamlosem Spritverbrauch. „Ein unvergleichliches Fahr­erlebnis”, wie ihre Werbung behauptete.[5] Wenn heute Museen eingeweiht werden, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie Autos enthalten.

Ein Umsatz an Formenmaterial mit „überragendem Drehmoment” erschwert auch die Sprachfähigkeit selbst, die Lesbarkeit der Architekturformen.


Was steht für was, wenn alles überdreht?

Was besagt das Label Gehry oder Zaha Hadid – außer dass der Bauherr die Ranking Charts der Architekturprominenz kennt? Wie viel an Prestigegewinn bringen die Icon Buildings ein, wenn inzwischen auch Herford und Bad Oeynhausen sich eines Gehry rühmen können? Schon bald stehen wir da mit den Sensationsbauten, die wir gar nicht mehr so hinreißend finden, wenn die Premie­rengäste abgezogen sind und die Architekturkritik sie nicht mehr feiert, weil sie längst das nächste Architekturereignis zelebriert. Die wir aber weiterbewirtschaften müssen, weil sie nun einmal da sind. Die zweite Haut kann man leicht wie­der ablegen, die erste gar nicht und die dritte nur schwer. Manche Aufgaben erfüllen Haut, Kleidung und Architektur jeweils auf ihre Weise parallel zueinander, wenn auch in unterschiedlichem Abstand zu ihren Schutzbefohlenen, darunter die wichtigsten: der Schutz und der Ausdruck derer, die in ihnen stecken. Aber die Bedingungen und die Mittel, mit denen sie es tun, sind ganz unterschiedlich.

Ich verkenne nicht, dass es ungleich schwer­er geworden ist, das Symbolische am symbolisierenden Kleid zu gestalten. Einmal, weil heute fast alle größeren Bauten „Kleiderarchitektur” sind. Gleichgültig, ob ihre Stahl- oder Stahlbetonskelette außen Glas oder Stein aufweisen, es handelt sich um das, was Gottfried Semper die Bekleidung des „structiven Gerüsts” genannt hat.[6] Der Name für vorgehängte Fassaden beispielsweise drückt den Bezug aufs Textile ja schon aus: Curtain Wall, die Vorhangfassade. Der Spielraum für den Architekten ist größer geworden, was die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von der Konstruktion betrifft.

Die digitalisierten Methoden der Bearbeitung erlauben Freiheiten, die zuvor undenkbar waren. Was einst auf dem Papier bleiben musste, weil es nicht realisiert werden konnte, schaffen computergesteuerte Metall- oder Steinfräsen allemal. Das macht es nicht leichter, sondern schwerer. Denn Beschränkungen – durch Konstruktion, Programm, Parzellenzuschnitt – bringen die Phantasie eines Architekten wirkungsvoller auf Trab, als wenn nichts definiert und alles möglich ist. Bedingungen schärfen Charaktereigenschaften.

Baumaterialien wurden einst tunlichst in der Nachbarschaft der Baustelle gewonnen, um Transportkosten zu sparen. Heute können die Kleiderstoffe der Architektur – wie in der Textilindustrie – von weither importiert werden, weil Arbeitslöhne auf anderen Kontinenten billiger sind als im alten Europa und Transportkosten im Vergleich zu den Arbeitskosten keine Rolle spielen.


Was symbolisiert das architektonische Gewand dann noch?

Identität muss heute erfunden werden, sie ergibt sich nicht mehr aus kulturellen Traditionen und Bedingungen des örtlich verfügbaren Materials. Keine lokalen oder regionalen Besonderheiten mehr, keine materielle Verbundenheit von Bau und Landschaft, aus der das Gebäude erwächst, nur die Verfügbarkeit von allem und jedem, den Globalismus von Angebot und Nachfrage.

Das Ornament ist aus der Verbannung zurückgekehrt, außen an den Bauwerken, innen als Tapeten, flächendeckend und weitgehend bedeutungsfrei. Denn die größere Schwierigkeit besteht darin, in dieser mobilen, multikulturellen Gesellschaft überhaupt eine Symbolik zu entwickeln, die lesbar für andere ist und damit auch ein Identifikationsangebot, das man annehmen oder ablehnen kann und dem man eigene Identifikationsmodelle entgegensetzen könnte. Die feinen symbolisie­ r­enden Unterschiede funktionieren offenbar leichter zwischen Prada und Versace, Adidas und Puma, Mercedes und BMW als zwischen den architektonischen Starprodukten der Metropolenwelt.

Was wäre also zu tun, damit Architektur ihre Mitteilungsfähigkeit bewahren oder wiedererlangen könnte?

Das Tempo der Veränderungszyklen drosseln. Identität kann sich nicht bilden, wo es alle paar Jahre zu einem Relaunch des Erscheinungsbildes kommt. Sich fragen, wo die gro-ßen Auftritte lohnen und wo nicht. Strategien der Angemessenheit finden. Qualität ist keine Frage von Auffälligkeit. Nicht das Neue unbesehen propagieren, sondern prüfen, ob es und was es besagt. Ausdruck ist Ausdruck von etwas und kein Zweck an sich. Manchmal meine ich, es müsste so etwas geben wie eine „Ökonomie der Aufmerksamkeit”, eine Art Management der Bilder, eine freiwillige Selbstkontrolle des Architekturgeschäfts.

Natürlich wird es das nicht geben. Wo wäre auch die Instanz, die über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Bilderproduktion urteilte? Aber darüber öffentlich zu verhandeln und zu streiten, das müsste Sache des Architekturdiskurses sein. Es könnte auch Thema jener viel beschworenen Bemühung sein, die da „Baukultur” heißt. Denn Kommunikation, Mitteilung und Ermöglichung von Mitteilung sind unverzichtbare Aufgaben des Bauens. Sie sind es nach wie vor und erst recht bei der disparaten Vielzahl der Sprachen und Dialekte einer Gesellschaft, die fragmentiert und pauschalisiert zugleich ist.

Sprachlos kann gebaute Umwelt werden, wenn sie stumm und verbissen der eiligsten Gewinnmaximierung folgt. Oder wenn sie vor lauter Aufgeregtheiten nichts als weißes Rauschen erzeugt und die einzelne Äußerung nicht mehr als solche identifizierbar wird. Wenn nur das Uniformwesen oder nur die Haute Couture herrschen. Aber wenn Umwelt sprachlos wird, werden wir, die sie bewohnen, es auch. Die Identität einer Person, von Gruppen von Personen, von Gesellschaften hängt auch damit zusammen, dass sie sich in ihrer Welt erkennen können, dass sie sich in ihrer dritten Haut so wohl fühlen wie in ihrer ersten und zweiten.

[Vortrag in gekürzter Fassung]


Literaturangaben

[1] Bruno Taut. Die neue Baukunst in Europa und Amerika. Berlin, 1929. S. 39. – Ernst Pollak. Der Baumeister Otto Bartning. Bonn, 1926. S. 23.

[2] Georg Simmel. Philosophie der Mode. Moderne Zeitfragen 11. Berlin (1905). S. 8ff.

[3] Otto Wagner. Einige Skizzen, Projecte... Band 3. Wien, 1906. unpag.

[4] Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung. Raumordnungsbericht 2000. Bonn, 2000. S. 35ff.

[5] BMW-Werbung für 7er BMW. März 2003.

[6] Gottfried Semper. Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten. Frankfurt, 1860, Bd.1, S. 227

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