Dächer zu Tanzflächen

Klimagerät, Lüftungsanlage, Abgasrohr, Rauch- und Wärmeabzug – die Lis­te der Prota­go­nist:­innen des auf Bitumenbahnen gebetteten, unbewegten Schauspiels auf den Flachdächern unserer Städte liest sich seit Jahrzehnten spannungsverheißend wie die Inhaltsangabe einer Flasche Mineralwasser. Wäre es nicht an der Zeit, das Ensemble zu vergrößern und vor ein anständiges Bühnenbild zu stellen? Vor allem in großen Städten rücken die (dringend notwendigen) Nachverdichtungsbemühungen Kleingartenbesitzenden zu Leibe, die durch ihre Wohnsitua­tion in Mietobjekten ohne zugehörige Grünflächen keine Möglichkeit der Aneignung privater Außenräume haben. Zugleich liegen hektarweise unbewirtschafteter Flächen nur ein, zwei Treppenläufe entfernt und warten darauf, von nachbarschaftlichen Initiativen bepflanzt und betanzt zu werden. Wohnblöcke und ­Bürotürme, Parkhäuser und Einkaufszentren, Universitäten und Schulen – sie bilden eine menschengemachte, von Straßenschluchten durchzogene, steinerne, stählerne und gläserne Topografie, die von Wanderwegen und Parks überzogen werden will. Jedes Gebäude, jeder Straßenzug, jeder noch so eng bebaute Stadtteil kann Qualitäten entwickeln, mit denen Pauschalreisekataloge und Hotelbuchungsportale alpine Sehnsuchtsorte bewerben. Eine Fernsicht über die Dachlandschaften offenbart mobile und fixe Orien­tierungspunkte wie Baukräne, Funktürme und Bürohochhäuser vor der Kulisse eines sich im Sonnenverlauf verändernden Himmels, der im urbanen Alltag meist nur aus der Froschperspektive sichtbar ist.
Diese Sicht weckt Assoziationen an dörfliche Strukturen mit wenigen, dafür prägnanten Hochpunkten in Form von Kirchtürmen und dem ein oder anderen erloschenen Schlot einer alten Ziegelei, der sich über eine meist homogene Dachlandschaft erhebt.
Das Erlebnis von Einsamkeit und Ruhe auf den höchs­ten Türmen, Zip-Line-Action von Blockrand zu Blockrand, free-floating-electric-micro-Zeppelin-sharing-Systeme für den unkomplizierten Individualverkehr von Attika zu Attika – die Möglichkeiten der Nutzung scheinen unbegrenzt. Wie viel mehr haben unsere Städte zu bieten, wenn man sich erlaubt, hin und wieder einen Perspektivwechsel vorzunehmen und das Flachdach zum Stadtraum zu erklären? Rein ins Treppenhaus, raus ins Vergnügen! Weg vom dröhnenden Straßenlärm, raus aus der stickigen Luft! Jede Nutzer:innengemeinschaft erhielte ihr eigenes, von ihren Mitglieder:innen in Zusammenarbeit mit einer Stadt-auf-der-Stadt-Planungsgesellschaft entwickeltes Konzept. Damit würden Dachflächen urbar gemacht und ihrem neuen einzigartigen, weil mit Ideen und Erfahrungen, Wünschen und ­Träumen gefütterten Verwendungszweck zugeführt. Obst- und Gemüsegärten, angelegt mithilfe eines von Lan­dschaftsarchitekt:innen kon­zipierten Baukastensystems, teilten sich die fünfte Fassade mit multifunktionalen Dachterrassen für ­Yogasessions, Tanzabende und Geburtstagsfeiern, mit Freiluftkinosälen, von Im­ker:innen bewirtschafteten Wildblumenwiesen und Hängemattengärten für das in immer heißeren Sommern nicht unattraktive Schlafen unter freiem Himmel.
Nicht alle Dachflächen sind gleichermaßen für die ganze Stadt begehbar. FürViele gelten die Eingangstüren der Mehrfamilienhäuser und die Drehtüren der Bürokomplexe als Filter – für einige Wenige gibt es Zugänge über Außentreppen und -aufzüge. Brückenschläge ergeben sich dort, wo sich Nutzer:in­nengruppen zusammenschließen und sich Synergien zwischen den Dachorten ergeben.
Eine Stadt, deren Dächer zum Stadtraum dazugehören, bietet nicht nur die Möglichkeit des Genusses von Sonnenuntergängen und der Flucht vor dem Chaos des motorisierten Verkehrs. Sie hält ein bislang unausgeschöpftes Potential an Räumen und Flächen zur Aneignung bereit, die vielleicht dafür sorgen können, dass mehr Identifikation mit dem eigenen Lebensraum stattfindet, dass nachbarschaftliche Verbindungen gestärkt werden und die pandemiegebeutelte Stadtgesellschaft wieder näher zusammenrücken kann.
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