Bewehrung aus Glas
Bürogebäude Eastsite VIII, Mannheim

In Mannheim bauten Fischer Architekten das erste Gebäude der Welt, dessen Fassade vollständig als Textilbetonsandwich ausgeführt wurde. Bewehrung und Verankerung der Außenschale bestehen aus tragenden Glasfasertextilien. Dadurch fällt die Vorsatzschale mit nur drei Zentimetern extrem dünn aus. Die innovative Sandwich-Fassade ist das Ergebnis integraler Zusammenarbeit zwischen Fertigteilwerk, Textilbetonentwicklern und Architekten.

Beton-Sandwich-Elemente für Bürofassaden
Wer sich einen Überblick über die Entwicklung der Betonsandwich-Bauweise in den vergangenen 15 Jahren verschaffen will, ist im Gewerbegebiet „Eastsite“ in Mannheim-Neuostheim richtig. Die vier- bis fünfgeschossigen Bürohäuser weisen ausnahmslos Sichtbetonfassaden aus Fertigteilen auf. Zwar ähneln sich Proportionen, Geschosshöhen und Fensterrhythmen, trotzdem zeigt jedes Gebäude ein eigenes Gesicht. Mal schmücken Großbilder in Fotobeton die Fassade, mal schuppenartig versetzte Sandwichelemente oder Fertigteile in Form von Leiterplatinen. Alle elf bislang entstandenen Bauten entwarfen Fischer Architekten. Die Mannheimer Planer gewannen 2001 einen städtebaulichen Wettbewerb für das Konversionsgelände und loten dort seitdem die Möglichkeiten der Beton-Sandwich-Bauweise aus.

„Wir sind Plattenbaufans“, sagt Büroleiter Dominik Wirtgen. Mit
innovativen Konstruktions- und Gestaltungstechniken will er gängige Vorurteile gegenüber dem Plattenbau widerlegen: „Vorfertigung von flüssigem Stein ist etwas Tolles! Nicht nur weil sie seriell und günstig ist: Wir sind auch frei in der Formgebung und können die Oberflächen im Werk in einer ungeahnten Bandbreite bearbeiten.“

Jüngstes Kind der Architekten ist das Eastsite VIII: Der viergeschossige Bürobau ist das erste Gebäude der Welt, dessen Fassade vollständig als Textilbeton-Sandwich ausgeführt wurde. Bewehrung und Verankerung der Außenschale bestehen aus tragenden Glas-
fasertextilien. Dadurch fällt die Vorsatzschale mit 3 cm extrem dünn aus.

70 Prozent Materialersparnis
Normalerweise benötigt Betonstahl eine gewisse Betonüberdeckung als Korrosionsschutz: Bei Außenbauteilen sind für Betonstahl B500B zwischen 30 und 40 mm vorgeschrieben. Für Fassadenplatten führt dies zu mindestens 80 mm Schalendicke. Beim Eastsite VIII besteht die Bewehrung der Vorsatzschale dagegen aus speziell für den Betonbau entwickelten, alkali-resistenten (AR) Glasfasern, die nicht korrodieren. „Dadurch können wir auf passiven Korrosionsschutz verzichten und benötigen nur noch wenige Millimeter Überdeckung, um die Kräfte vom Beton in die Bewehrung einzuleiten“, sagt Christian Kulas, Abteilungsleiter Textilbeton von solidian. Der Textilbetonanbieter entwickelte das neue Sandwichsystem, das beim Eastsite VIII erstmals großflächig zum Einsatz kam. Die Firma Dreßler Bau, die schon Eastsite I bis VII baute, fertigte die Betonelemente im Werk vor. Mit der B.A.U., dem Stamminvestor auf dem Areal, fand sich zudem ein innovationsfreudiger Bauherr.

„Im Vergleich zu einer konventionellen Vorsatzschale aus Stahlbeton sparen wir knapp 70 % Material“, sagt Kulas. Teuren Architekturbeton, aber auch Stahl: In der 1 600 m² großen Fassade stecken 950 kg Glasfasern, für eine herkömmliche Vorsatzschale würden 2 900 kg Stahl benötigt. „In der Folge sinken Gewicht, Primärenergieeinsatz sowie Transport- und Krankosten für die Montage. Zusätzlich gewinnt der Bauherr 7 − 9 cm je laufenden Meter vermietbare Fläche.“ Beim Eastsite VIII sind das unterm Strich rund 30 m².

Bewehrung aus Glasfasern
Um die Grundrisse jederzeit verändern zu können, setzen die Architekten innen auf weitgespannte, unterzugsfreie Decken. Die Fertigteil-Innenschale wurde konventionell aus 220 mm Stahlbeton ge-
gossen, damit sie die Endeinspannmomente aus der Ortbeton-Flachdecke sicher aufnimmt. 160 mm EPS-Wärmedämmung vervollständigen das Sandwich. Innen- und Außenschale verbindet ein Schubgitter aus epoxidharzgetränkten AR-Glasfasern. Es besteht aus Zehntausenden gebündelten und netzartig zusammengelegten Fasern. Das Epoxidharzbad formt die Gitter zu steifen, formstabilen Bewehrungsmatten. Ihr Vorteil: Während Edelstahlanker Wärmebrücken darstellen, ist die Wärmeleitfähigkeit der Glasfasern nahezu vernachlässigbar.

Bewehrungen und Schubgitter sind jedoch bislang nicht genormt. solidian hat für das Sandwich-Element eine allgemeine bauaufsichtliche Zulassung beantragt, die für das Frühjahr 2016 erwartet wird. Für das Eastsite VIII erhielt Dreßler Bau vom Regierungspräsidium Tübingen eine Zustimmung im Einzelfall. Da eine allgemeine Zulassung fehlte, machte der Bauherr den Betonexperten strenge Auflagen: „Bei nur einer Woche Verzögerung hätten wir sofort in Stahlbeton weiterbauen müssen“, sagt Christian Kulas.

Schalungstechnik vom Feinsten
Die 148 Sandwich-Elemente der Fassade wurden im Fertigteilwerk von Dreßler Bau vorgefertigt. Gemeinsam entwickelten Architekten und Betonspezialisten drei bis zu 3,7 m hohe und 4,2 m breite Grundtypen: ein T, ein I und ein umgedrehtes L. Das Schubgitter wurde mit Kabelbindern an der Textilfasermatte und an der konventionellen Bewehrung der Innenschale befestigt. CS-förmige Gitterstege bilden die Dämm-ebene. „Die Stege vereinfachen die Montage: Wir müssen die Dämmung dazwischen nur einbauen und sie nicht, wie bei den sonst von uns verwendeten Plattenankern, aufwändig ausschneiden“, sagt Heiko Jahr, Leiter Technisches Büro des Fertigteilwerkes von Dreßler Bau. Da das Schubgitter in die Kategorie B 3 „leicht entflammbar“ eingestuft wurde, schotteten die Handwerker Fensterlaibungen, -brüstungen und -stürze zusätzlich mit 20 cm breiten Mineralwollstreifen ab.

Eine Herausforderung war die Schalung: Die Fensternischen sind in gold-eloxiertem Aluminium Metall eingefasst. Daher wurden die Beton-Fertigteile an den Anschlussstellen zur Laibung auf 10 mm Dicke abgetreppt. „Die Elemente mussten an den Nuten exakt zusammenlaufen“, sagt Jahr. Um saubere, scharfe Kanten zu bekommen, maßen die Betonbauer die Schalung mehrfach nach und verfugten sie dauerelastisch. „Wir hatten anfangs Bedenken, dass uns beim Ausschalen wegen der großen Platten und dem Schalungssog Betonecken wegplatzen. Aber es ist nichts passiert.“

Beim Betonieren testete das Fertigteilwerk mehrere Verfahren. „Zunächst probierten wir, durch das Gitter zu betonieren, aber da die Glasfasermatten extrem flach und breit sind, zeichnete sich das Gittermuster an der Fassade ab“, sagt Jahr. Letztendlich laminierten die Betonbauer den Textilbeton: Beton und Glasbewehrung wurden abwechselnd in Lagen
in die liegende Schalung eingebracht – zunächst 15 mm Beton, dann die Glasfasermatte, dann weitere 15 mm Beton.

Erfolgsrezept integrale Planung
Bislang stehen vom Eastsite VIII nur Rohbau und Fassade, die Fertigstellung ist für Juli 2016 geplant. Um den Beton flächendeckend zur Bauteiltemperierung einzusetzen, verzichten die Architekten innen auf abgehängte Decken. Der Fensteranteil von maximal 40 % wirkt sommerlicher Überhitzung entgegen. Den Energieverbrauch senken zudem eine geregelte Lüftung mit Wärme- bzw. Feuchterückgewinnung, eine Photovoltaik-Anlage sowie eine Beleuchtung mit tages- und präsenzabhängigen LED. Der Primärenergiebedarf liegt bei 55 kWh/m²a.

Tragwerksplaner, Bauphysiker und Haustechniker wurden schon in der Vorplanung einbezogen. Mit „stockwerk“ haben die Architekten dafür eine eigene Generalplanungsgesellschaft. „Wir denken Gebäude von vornherein als Ganzes“, sagt Dominik Wirtgen. „Das macht es einfacher, nachträglich etwas zu ändern.“ Michael Brüggemann, Mainz

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