Archaische Kraft
Neubau eines Zweifamilienhauses in Ennetbaden/CH

Sichtbeton im Wohnungsbau? Diesen vermeintlichen Widerspruch lösen L3P Architekten in ihren unkonventionellen Gebäuden ohne Probleme auf. Ein hervorragendes Beispiel steht in Ennetbaden.

Das Niedrigenergiehaus heißt in der Schweiz „Minergie-Haus“. Entwickelt 1994, hat sich Minergie in der Eidgenossenschaft zu dem Umwelt-Standard am Bau etabliert. Bislang wurden dies- und jenseits des Röstigrabens rund 25 000 Häuser unter diesem Markenzeichen gebaut, mittlerweile erreicht ihr Anteil an der helvetischen Bauproduktion jährlich ein Viertel. Anders als vergleichbare Zertifikate wie LEED oder DGNB konzentriert sich Minergie auf den Verbrauch von Primärenergie. Einfamilienhäuser zum Beispiel dürfen nicht mehr als 38 kWh/m²a verbrauchen, bei Sanierungen sind die Werte etwas höher. Inzwischen entwickelte man schärfere Standards wie „Minergie P“ (weniger als 30 kWH), „Minergie A“ (0 kWH oder weniger) oder „Minergie ECO“ (zusätzliche Anforderungen bezüglich Gesundheit und Ökologie). Und anders als von manchen behauptet, schließen sich in der Schweiz die Erfüllung von Umweltauflagen und Baukunst nicht aus. Daniel Libeskind, Max Dudler oder der helvetische Altmeister Theo Hotz versuchten sich im Minergie-Standard – mit großem Erfolg. Auch die Architekten vom Büro L3P bauen seit Jahr und Tag Gebäude unter diesem Label, seit 2006 sind sie sogar Minergie-Fachberater.
Die von diesem im Zürcher Unterland beheimateten Büro geplanten Gebäude werden europaweit vielfach publiziert. Nicht weil die Architekten brave Erfüllungsgehilfen der Dämmstoff-Industrie sind, sondern weil das Motto des Büros – moderne und innovative Architektur gepaart mit Ökologie und Nachhaltigkeit – nicht nur behauptet, sondern in Dutzenden von architektonisch anspruchsvollen Projekten auch gelebt wird.

Das Minergie-Doppelhaus, das die Architekten für zwei miteinander befreundete Familien entworfen haben, zeigt dies exemplarisch: eine vieleckige Skulptur mit schroffen Schrägen und scharfen Kanten sowie scheinbar spielerisch gesetzte Öffnungen, mal bündig mit Goldrand, mal vorstehend mit Alurahmen. In dieser heterogenen, von Einfamilienhäusern der unterschiedlichsten Epochen, Stile und Größen geprägten Umgebung am Rande der 4000 Einwohner Gemeinde Ennetbaden hat das Gebäude eine hohe Präsenz. Es geht nicht allzu bescheiden unter, tritt auch nicht großspurig auf, sondern weiß sich in diesem nicht einfachen Umfeld zu behaupten. Die besondere, die auffallende Form, die Schnitte und Schrägen des Gebäudes sind nicht der Originalitätssucht der Architekten, sondern in der Hauptsache einer Vereinbarung geschuldet. Einem Versuch den begreiflichen Wunsch der Bauherrn nach möglichst viel Wohnfläche – etwa 210 m² pro Familie – mit dem doch relativ kleinen Grundstück von lediglich 637 m² und der vom Baurecht in Ennetbaden zugelassenen maximalen Auslastung von 0,4 GRZ zu vereinbaren. Boris Egli, verantwortlicher L3P-Partner, weist auf zahlreiche Volumenstudien am Modell hin. Die Architekten stellten sich dem Anspruch, die schwierigen Bedingungen nicht als Einschränkung, sondern als Herausforderung zu sehen und daraus eine besondere Qualität zu entwickeln.

Der Entwurfsprozess

Ausgangspunkt des subtraktiven Entwurfsprozesses war ein „verzerrter Quader“, aus dem verschiedene Volumina herausgeschnitten wurden. Um einen nordseitigen, wettergeschützten Zugang zu ermöglichen, wurde das Messer im Erdgeschoss angesetzt. Ein weiterer Schnitt im Erdgeschoss schuf einen Zugang zum von beiden
Familien genutzten Garten. Ein dritter Schnitt, nochmals im Erdgeschoss, ergab eine großzügige Loggia im talseitigen Süden des Gebäudes, ein vierter und fünfter Schnitt beschied dem obersten Geschoss eine offene nach Süden ausgerichtete Dachterrasse und einen eher intimen, wenig einsehbaren Freibereich im Norden. Das volumetrische Arbeiten betraf auch das Souterrain, das, so schrieb es die Bauordnung vor, nur 1,20 m über Niveau herausragen durfte. Obwohl talseitig bis auf die Küche gleichsam ein komplettes Appartement untergebracht wurde, das sich mit einem breiten, etwa 50 cm hohen Fensterschlitz zum Tal öffnet, zählen baurechtlich nur Erdgeschoss und erstes Obergeschoss als volle Wohngeschosse.

Es ist ein Maßanzug, den die Architekten für die Bauherrn geschneidert haben. Ein Maßanzug, der schillert. Denn er spielt subtil mit der Wahrnehmung des Betrachters und sie führt ihn ein ums andere Mal hinters Licht. Das Doppelhaus ist nicht als Doppelhaus erkennbar, und doch gibt es Hinweise auf eine Dualität – neben den ­erwähnten Fenstern beispielsweise bei den Farben der Putzfassade: Überwiegend in einem frischen Grünton gestrichen, sind die Schnittflächen in einem Orange-Braun gehalten. Darüber hinaus erscheint das Gebäude niedriger, als es in Wahrheit ist, und seine enorme Nutzfläche sieht man ihm nicht an. Der Maßanzug wird innen noch deutlicher: etwa in der höchst diffizilen und dabei höchst gelungenen Verschränkung von Wohn- und Verkehrsflächen. Die mal freie, mal geschlossene Treppe, die die dreigeschossige talseitige Wohnung erschließt, wird mal zum Küchenraum, und mal kann ihr Geländer als großzügig breiter Schreibtisch dienen. Die Treppe in der hangseitigen Wohnung, die sich über vier Geschosse zieht, kontrahiert im ersten, den Schlafzimmern vorbehaltenen Obergeschoss zu einem ganz knappen Raum. Im großzügig weiten Dachgeschoss mutiert diese Treppe zu einer Betonskulptur, die ebenso frei wie wild in den Raum ragt. Gerade die Treppenhauswände haben keine weitere Oberflächenbehandlung erfahren. Sie sind wie alle tragenden Wände und die Decken in Sichtbeton gehalten. In der talseitigen Wohnung erhielt auch der Betonboden außer einer Versiegelung keinen weiteren

Belag, in der hangseitigen Wohnung gibt es geölte Eichendielen.

Aus Kostengründen wurde der Sichtbeton in Klasse 2 ausgeführt, also mit glatten Schalungstafeln, die sonst keine weitere Behandlung erfuhren. Der Sichtbeton ist scheckig und manchmal auch schrundig. Im Spektrum von Weiß bis Dunkelgrau zeigt er alle Tönun­gen und wirkt dabei fast erdig. Das aufgeführte Appartement im Souterrain erhält durch den Sichtbeton den Eindruck einer auch von den Kindern, die im Vorschulalter sind, gern genutzten Schlafhöhle. Zusammen mit den in Weiß gestrichenen nichttragenden Wänden, ergibt der Sichtbeton eine fast monochrome Oberfläche. Diese wird mit Farbkleksen aufgelockert, die von Möbeln oder von Mosaiken stammen.

Freilich, sagt Boris Egli, es war ein langer, nicht immer widerspruchsfreier Weg, den er mit den Bauherren zurücklegen musste. Erst am Ende stand der Sichtbeton, der gerade
in dieser authentischeren Qualität eine fast archaische Kraft entfaltet – und eben damit nicht manieriert wirkt wie der angeblich seidig-weiche, nicht nur von den Feuilletonisten gern gepriesene Tadao-Ando-Sichtbeton. In Ennetbaden kombinierten die Architekten
die Archaik des Sichtbetons mit Komfort wie kontrollierter Lüftung und Fußbodenheizung, mit besagten Farbkleksen und einer Aussage über die Tektonik des Hauses. Dass letzteres noch den Niedrigenergie-Standard erfüllt, ist schon fast selbstverständlich.

Enrico Santifaller, Frankfurt a.M.

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