Bergbau in der Stadt

Der Rohstoffschatz in Gebäuden ist immens. Vieles davon lässt sich gut wiederverwerten anstatt als Abfall zu enden. Urban Mining heißt das Prinzip, das auf die Wiederverwendung der in den Städten und Kommunen verbauten Baustoffe abzielt. Als erste Stadt Europas setzt Heidelberg mit dem Pilotprojekt „Circular City – Gebäude-Materialkataster für die Stadt Heidelberg“ auf diesen wegweisenden Ansatz. Doch auch erste Wohnungsbauunternehmen gehen als Pioniere bei ihren Bestandsgebäuden voran.

Text: Matthias Heinrich

Ist das Müll? Nein, sagt die Stadt
Heidelberg und setzt Klimanotstand und Ressourcenknappheit Urban Mining entgegen
Foto: Klaus Venus

Ist das Müll? Nein, sagt die Stadt
Heidelberg und setzt Klimanotstand und Ressourcenknappheit Urban Mining entgegen
Foto: Klaus Venus


Aus den Augen, aus dem Sinn – so lässt sich unser Umgang mit Müll wohl am besten beschreiben. Und das trifft auch auf die derzeit größte Abfallquelle zu: den Abriss von Gebäuden. Rund die Hälfte des Abfallaufkommens in Deutschland machen Bau- und Abbruchabfälle aus, wiederverwertet wird nur ein kleiner Teil davon und das zumeist in minderwertigerer Form. Meist landen bei Umbau- oder Abrissarbeiten Materialien wie Beton, Stahl, Holz oder Kunststoff auf der Deponie oder als Füllmaterial im Straßenbau, obwohl sie für neue Bauvorhaben dringend benötigt und teuer bezahlt werden. Das will Heidelberg nun ändern und setzt als erste Stadt Europas mit dem Pilotprojekt „Circular City – Gebäude-Materialkataster für die Stadt Heidelberg“ auf das sogenannte Urban Mining-Prinzip, übersetzt: „Bergbau in der Stadt“. Mit der ortsansässigen Heidelberg Materials unterstützt eines der weltweit größten Baustoffunternehmen das Vorhaben. Unterstützt wird die Stadt außerdem von der Material-Plattform Madaster, die Konzeption liegt beim Umweltberatungsinstitut EPEA, einer Tochter des Beratungsunternehmens Drees & Sommer SE.

Import und Transport minimieren

Heidelberg will mit dem Pilot-Vorhaben als Pionier der Kreislaufwirtschaft in der Stadtentwicklung und im Städtebau vorangehen. Für die Stadt bedeutet Urban Mining einen entscheidenden Schritt, um ihre Klimaziele zu erreichen. Denn Heidelberg will bis spätestens 2050 klimaneutral werden und den Energiebedarf der Kommune um die Hälfte senken. Urban Mining als eine Art moderner Bergbau in der Stadt kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Ziel des Projekts ist eine vollständige ökonomische und ökologische Analyse des gesamten Gebäudebestands, der in einem digitalen Materialkataster zusammengefasst wird. Das Kataster soll fortan Auskunft darüber geben, welches Material in welcher Qualität und in welcher Menge verbaut wurde. Basierend auf diesen Informationen lassen sich beispielsweise Deponien und Aufbereitungsflächen entsprechend planen und eine regionale Wertschöpfung durch regionale Lieferketten und neue Geschäftsmodelle anstoßen. Das verringert die Abhängigkeit von importierten Rohstoffen sowie die Häufigkeit langer Transportwege.


Beispiel: Materielle Zusammensetzung Mehrfamilienhaus München Baujahr 1962 (in Tonnen (t))
Grafik: Matthias Heinrich, EPEA

Beispiel: Materielle Zusammensetzung Mehrfamilienhaus München Baujahr 1962 (in Tonnen (t))
Grafik: Matthias Heinrich, EPEA


Bereits 325 Gebäude im Kataster erfasst

Grundlage für das Kataster bildet der vom Umweltberatungsinstitut EPEA entwickelte Urban Mining Screener. Dabei handelt es sich um ein Programm, das anhand von Gebäudedaten wie beispielsweise Bauort, Baujahr, Gebäudevolumen oder Gebäudetyp deren materielle Zusammensetzung auf Knopfdruck schätzen kann. Die ersten Gebäude sind bereits erfasst: Das Patrick-Henry-Village, eine ehemalige Wohnsiedlung für Angehörige der US-Armee, ist mit rund 100 Hektar die größte Konversionsfläche Heidelbergs. Langfristig sollen hier Wohnungen für 10 000 Menschen und Raum für rund 5 000 Arbeitsplätze entstehen. Noch stehen hier aber 325 Gebäude, die für die neue Siedlung saniert oder abgerissen werden müssen – ein gigantisches Rohstofflager, wie der Urban Mining Screener berechnet hat: Das Patrick-Henry-Village beinhaltet demnach rund 465 884 Tonnen Material, davon entfällt etwa die Hälfte auf Beton, ein Fünftel auf Mauersteine und gut fünf Prozent auf Metalle. Im nächsten Schritt soll das Kataster auf den gesamten Gebäudebestand Heidelbergs ausgeweitet werden. Das Kataster liefert damit eine wichtige Entscheidungsgrundlage für zukünftige Quartiersentwicklungen.

Urban Mining hat Tradition

Für Menschen früherer Jahrhunderte war es selbstverständlich, die Steine alter Burgen oder Anlagen für den Bau von neuen Kirchen oder Siedlungen zu verwenden. Zerstörte Gebäude waren für die Trümmerfrauen die damaligen urbanen Minen. Sie holten aus ihnen so viel an wiederverwertbarem Material heraus wie möglich. Der derzeitige stiefmütterliche Umgang mit den recyclingfähigen Schätzen in den Städten kann sich die Gesellschaft angesichts der Klimakrise, des Rohstoffmangels und steigender Energie- und Entsorgungskosten sowie Baupreise aber nicht mehr leisten.

Die Konzentration von nutzbaren Metallen ist in Städten bereits höher als in natürlichen Lagerstätten – also in Minen. Zudem sind die Materia­lien in einem viel brauchbareren Zustand. Beispielsweise muss nicht erst Erz aus einer Mine weiterverarbeitet werden, sondern der Stahlträger lässt sich direkt aus dem Fundmaterial herstellen. Zu den potenziell wiederverwendbaren Materialien zählt neben Stahl oder Kunststoff auch Beton, der viel zu wertvoll ist, um ihn bei Umbau oder Abrissarbeiten auf der Deponie oder im Straßenunterbau zu entsorgen.


Der von EPEA entwickelte Urban Mining Screener kann auf Basis von Gebäudedaten wie Bauort, Baujahr, Gebäudevolumen und Gebäudetyp dessen materielle Zusammensetzung einschätzen.
Grafik: EPEA GmbH/Madaster

Der von EPEA entwickelte Urban Mining Screener kann auf Basis von Gebäudedaten wie Bauort, Baujahr, Gebäudevolumen und Gebäudetyp dessen materielle Zusammensetzung einschätzen.
Grafik: EPEA GmbH/Madaster


In ganz Deutschland summiert sich die Rohstoffsubstanz der Gebäude auf etwa 15 bis 16 Mrd.  Tonnen, das sind 190 Tonnen pro Person. Unter Berücksichtigung des Tiefbaus wie Straßen ist ein Rohstofflager von fast 29 Mrd. Tonnen entstanden.

Nur zu einem vergleichsweise geringen Anteil sind die durch Bautätigkeiten ausgelösten Stoffströme und -lager bisher räumlich erfasst. Hier geht Heidelberg mit gutem Beispiel voran, die derzeitigen Stoffströme und -lager zu erfassen und so Stellschrauben für deren gezielte Steuerung zu identifizieren.

Neuer Einsatz für alte Baustoffe

Gerade für Beton ist das Potenzial sehr hoch, denn nach Wasser ist Beton der am meisten verwendete Stoff der Welt. Seine Herstellung ist allerdings mit hohen CO2-Emissionen verbunden. Die Herstellung von Zement, dem Bindemittel im Beton, verursacht prozessbedingt hohe CO2-Emissionen, die bislang technologisch unvermeidbar sind. Um den CO2-Fußabruck zu verringern, hat Heidelberg Materials ein Verfahren entwickelt, um den Lebenszyklus aller Bestandteile von Beton zu verlängern. Das Unternehmen forscht daran, Abrissbeton durch neuartige Verfahren zu zerkleinern, sortenrein in seine Bestandteile zu trennen und wieder ganz im Sinne der Kreislaufwirtschaft in den Baukreislauf zurückzuführen. Darüber ­hinaus arbeitet das Unternehmen an einem Verfahren, die anfallenden Feinanteile zu nutzen, um CO2 zu binden und damit den Ausstoß bei der Zementherstellung zu reduzieren. Für dieses Projekt ‚ReConcrete-360°‘ hat Heidelberg Materials kürzlich den Innovationspreis für Klima und Umwelt 2022 erhalten.


Unterstützt von EPEA, Part of Drees & Sommer, und Madaster wird die Bayerische Hausbau das Berliner Huthmacher-Haus nachhaltig und ressourcenschonend
teilsanieren
Grafik: Bayerische Hausbau

Unterstützt von EPEA, Part of Drees & Sommer, und Madaster wird die Bayerische Hausbau das Berliner Huthmacher-Haus nachhaltig und ressourcenschonend
teilsanieren
Grafik: Bayerische Hausbau


Materialkataster bietet Transparenz

Um die Daten zu verbauten Materialien und Bauteilen zusammenzuführen und die Gebäudedaten automatisiert auszuwerten, stellt Madaster für den von EPEA entwickelten Urban Mining Screener die IT-Plattform bereit. Während bei Neubauten das Erfassen des ökologischen Fußabdrucks relativ einfach ist, da die Daten häufig digital vorliegen, gestaltet sich die Buchführung beim Altbau schwieriger. Hier ist eine aufwendige Vor-Ort-Recherche notwendig, um herauszufinden, woraus das Objekt geschaffen ist. Eine bessere Alternative ist jedoch der Einsatz des Urban Mining Screeners, der mit möglichst exakten Schätzverfahren arbeitet.

Madaster wurde im Jahr 2017 in den Niederlanden als gemeinnützige Stiftung gegründet. Die Plattform vermittelt einen Einblick, welche Bauteile und Materialien an welchen Stellen eines Gebäudes zu finden sind und welche Auswirkungen sie auf die Kreislaufwirtschaft und die Umwelt haben. Alle wesentlichen Informationen über Immobilien und deren Bestandteile können in der Onlinedatenbank systematisch gespeichert und nach Bedarf ausgewertet werden. Aufgeführt wird beispielsweise, wie hoch ihr Kohlenstoffgehalt ist und was sie aktuell an der Rohstoffbörse wert sind.

Heidelberg Vorreiter für kreislauffähige Städte

Im Laufe des Jahres wird das Kataster vom Patrick-Henry-Village auf das gesamte Stadtgebiet Heidelbergs ausgeweitet. Neben Informationen zu den verbauten Materialien können in das Kataster auch Informationen wie Energieverbrauch im Gebäudebetrieb, Mietkosten oder Flächenbedarf einfließen. So entsteht nicht nur Transparenz über den Gebäudebestand, sondern eine fundierte Entscheidungsgrundlage für nachhaltiges Bauen. Mit ihrem Pilotprojekt wird Heidelberg zu einem Vorzeigebeispiel für kreislauffähige Städte und Gebäude, die angesichts des globalen Rohstoffmangels und der Klimakrise auch in anderen Städten in Deutschland und Europa zwingend umgesetzt werden sollten.


Welche Bauprodukte und -materialien genau eingesetzt werden, wie groß ihr ökologischer Fußabdruck ist und welchen Wert die eingesetzten Materialien haben, wird in einem sogenannten Building Circularity Passport (BCP) festgehalten
Grafik EPEA GmbH

Welche Bauprodukte und -materialien genau eingesetzt werden, wie groß ihr ökologischer Fußabdruck ist und welchen Wert die eingesetzten Materialien haben, wird in einem sogenannten Building Circularity Passport (BCP) festgehalten
Grafik EPEA GmbH


Erste Best Practice-Beispiele

Damit das Konzept Urban Mining flächendeckend funktioniert, gilt es, die Akteur:innen der Bauwirtschaft auf der Makro-, aber auch Mikroebene flächendeckend zu überzeugen. So muss auch bei der Bestandssanierung das Urban Mining-Konzept Einzug halten. Wie Kreislaufwirtschaft und Urban Mining im Bestand und auf Gebäudeebene funktionieren, das demonstriert die Bayerische Hausbau nun bei der Teilsanierung des Huthmacher-Hauses in Berlin. 1957 nach Plänen der Architekten Paul Schwebes und Hans Schoszberger erbaut, umfasst das Hochhaus 16 Stockwerke und ist ein markanter Hochpunkt der Berliner City West. Es ist Teil des Zentrums am Zoo entlang Hardenberg- und Breitscheidplatz, das mit seiner modernistischen Nachkriegsarchitektur symbolisch für die Lebenswelt im alten Westberlin zur Zeit des Mauerbaus steht und ein bedeutendes Zeugnis des Wiederaufbaus in Berlin ist.

Im Rahmen der Bauaufgabe wird zusammen mit dem Umweltberatungsinstitut EPEA und Madas­ter ein Pilotprojekt durchgeführt: Hierzu analysiert EPEA die bestehenden Bauteile und eingesetzten Baustoffe und bildet die Daten in einem Gebäude-ressourcenpass (Building Circularity Passport, BCP) ab, wo sie gemäß ihrer Kreislauffähigkeit bewertet werden. Die gesammelten Daten werden dann in die Gebäudedatenbank Madaster hochgeladen, so dass dann eine Vielzahl von für die Projektentwicklung hilfreiche Gebäudedaten zur Verfügung stehen.

Regierung plant Klimaführerschein

Mit dem digitalen Ressourcenpass, einer Art Klimaführerschein fürs Gebäude, wie ihn auch Bundesbauministerin Klara Geywitz fordert, greift die Bayerische Hausbau der Zukunft vor: Denn die in Europa und Deutschland geplante Regulierung wird die Branche früher oder später zu Materialkreisläufen zwingen; und damit dazu, beim späteren Abriss, ein Gebäude als Rohstofflager für neue Bauten zu nutzen.

Auch die GWG Städtische Wohnungsgesellschaft München hat über EPEA ein Urban Mining Konzept inklusive Stoffstromanalyse für ein aktuell in Bearbeitung befindliches Sanierungsgebiet erstellen lassen. Derzeit wird nach externen und internen Abnehmer:innen für Bauteile und Materialien gesucht. Zudem plant das Unternehmen ein weiteres Pilotprojekt, bei dem die Systematik nach dem Building Circularity Passport in Betracht kommt. Der Anspruch der GWG in München ist, dass der Gebäuderessourcenpass nicht eine Formalie gegenüber Behörden und Banken wird, sondern einer lebenszyklusorientierten und ressourcenschonenden Bewirtschaftung dienen kann.

Umbau darf kein Synonym für Abriss sein

Im Neubau hat die Branche mit Plusenergiehäusern und vielen weiteren energetischen Standards und Maßnahmen bereits einen sehr guten Stand erreicht. Darüber hinaus treiben Drees & Sommer wie auch deren Tochter, das Umweltberatungsinstitut EPEA GmbH, den Cradle-to-Cradle-Ansatz voran: Ein kreislauffähiges Materialkonzept für sämtliche Branchen, für das beide Unternehmen im Bausektor sicherlich als Pionier stehen. Das Sorgenkind ist noch immer der Bestand. Hier darf Umbau kein Synonym für Abriss sein. Kein Weg führt daher an der Wiederverwendung von Baumaterialien und deshalb Urban Mining vorbei.


Autor: Matthias Heinrich ist Teamleiter bei der EPEA GmbH – Part of Drees & Sommer am Standort in München. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Nachhaltiges Bauen an der Technischen Universität München und hat zum Thema Stoffstrommanagement und Urban Mining im Bauwesen promoviert
Foto: Drees & Sommer

Autor: Matthias Heinrich ist Teamleiter bei der EPEA GmbH – Part of Drees & Sommer am Standort in München. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Nachhaltiges Bauen an der Technischen Universität München und hat zum Thema Stoffstrommanagement und Urban Mining im Bauwesen promoviert
Foto: Drees & Sommer

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