Albert Kahn, Industriearchitekt

Ein Werk- und Lebensbericht anlässlich seines 70. Todestages. Von Prof. Dr. Miron Mislin, Berlin

Am 8. Dezember 1942 starb Albert Kahn, dessen innovative Fabrikbauten einen großen Beitrag zur Entstehung der modernen Architektur geleistet haben. Noch am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war die Industriearchitektur ein Stiefkind der Architektur, die im Schatten des Eklektizimus sich kaum entfalten konnte. Albert Khan gehörte zu den wenigen Architekten, die die Industriearchitektur auf ihre technisch-rationale Aufgabenstellung zurückgeführt hat. (Bild 1)
 
Biografische Skizze
Albert Khan wurde in Rhaunen, 35 Km südwestlich von Mainz am 21. März 1869 als erstes Kind von Rosalie und Rabbi Joseph Khan geboren. Wirtschaftliche Probleme führte die Familie mit den sieben Kindern zur Übersiedlung nach Detroit/Michigan in Nordosten der USA, wo sie 1880 ankam. Der Vater, Joseph Kahn, fand dort keine geeignete Stelle als Rabbi und musste seine Familie u.a. als wandernden Obsthändler ernähren. Albert hatte schon mit elf Jahren verschiedene Jobs annehmen müssen. Möglicherweise unter Vermittlung von J. Melcher bekam Albert Khan eine Stelle als Lehrling im Architekturbüro von Mason & Rice in Detroit. Die Lehre dauerte damals vier Jahre. 1891, nach einem einjährigen Studienaufenthalt in Westeuropa, wurde Khan „Chief Designer“ im Büro von Mason & Rice.

Nach zwölf Jahren Praxis als Bauzeichner und Chefdesigner machte sich Albert Khan mit den Teilhabern A. Trowbridge und G. Nettleton 1896 selbständig. Die Büropartnerschaft dauerte bis 1900, die darauf folgende mit Ernst Wilby bis 1918. Von 1904 bis zu seinem Tod am 8. Dezember 1942 führte Khan über 2500 Fabriken weltweit aus. Sein Büro mit über 450 Mitarbeitern in den dreißiger Jahren war eines der größten in den Vereinigten Staaten von Amerika.
 
Die frühen Fabrikanlagen
Zu den Inkunabeln der Industriearchitektur gehört sein erster großer Auftrag für die Automobilfabrik von Packard Motor Company in Detroit von 1905. Es handelt sich um die Fabrik Nr. 10, die aus Stahlbeton, zweigeschossig, 98 x 18,30 m groß mit Stützen im Abstand von 9,82 m gebaut wurde. Das Stahlskelet aus Stützen und Decken wurde nach dem „Kahn System“ bewehrt. Die Verwendung des Stahlbetonskeletts ermöglichte eine Konstruktion mit großen Fensterflächen von der Decke bis zum Fußboden (Abb. 2). Auch das nächste Projekt war für eine Automobilfabrik von Geo N. Pierce in Buffalo, N.Y. von 1906. Auch hier bestand die tragende Konstruktion aus Stahlbeton. Es folgten mehrere mehrgeschossige Fabrikbauten, wie z.B. die Burrough Adding Machine Co. (1907), Chalmers Motor Car Co. (1907) und die Mergenthaler Linotype Co. (1907), die in Stahlbetonbauweise mit vorgefertigten Metallrahmenfenster gebaut wurden. Erhalten ist eine Bauzeichnung für den Neubau der Burroughs Adding Machine Co. vom 12 Oktober 1916  (Bild 3). Nach dem Querschnitt lässt sich eine konstruktive Ähnlichkeit mit den Ford-Bauten der gleichen Zeit feststellen. Es gab keine Trenn- oder Zwischenwände. Dadurch ergab sich ein offener Raum, der für jede Produktionsänderung flexibel war.

Highland Park
1908 erhielt Albert Khan den ersten Auftrag von Henry Ford für den Bau einer neuen Automobilfabrik in Highland Park, bei Detroit, Michigan. H. Ford wollte das neue „Modell T“ herstellen, das er im Zusammenhang mit neuen Fertigungsmethoden produzierte. Bei der Planung der Fabrik orientierte sich Khan an dem Modell von Packard Fabrik Nr. 10. Das nach Süd-(Bild 4, 5)Westen zur Woodward Avenue ausgerichtete Gebäude wurde 1909 als viergeschossiges Stahlbauskelett mit einer Länge von 264 m und einer Tiefe von 23 m errichtet. Die tragende Konstruktion setzte sich aus einem kombinierten Stahlskelett mit Betondecken zusammen. Auch hier waren keine Zwischenwände vorgesehen. Von der Decke bis fast zum Fußboden erstreckte sich das Glas, so dass hier der Prototyp einer „Tageslichtfabrik“ verwirklicht werden konnte. Durch die offenen Räume konnte der Einbau von Fließbändern und von anderen Transportrutschen schnell eingerichtet werden.
 
River Rouge
Bereits 1916 nach dreijährigen Erfahrung mit der Fließbandproduktion in der mehrgeschossigen Fabrikbauten am Highland Park hatte sich gezeigt, dass aufwendige technische Ergänzungen notwendig waren, wie Treppenhäuser, Fahrstühle und steile Transportbänder. Zu den Vorteilen der ebenerdigen Hallen gehörte die Baukonstruktion. An Stelle der teuren Schalungen für den Stahlbeton bot der Stahlbau die Vorteile des schnelleren Aufbaus (Bild 6, 7). 1918 war es soweit das Fabrikgebäude wurde am River Rouge bei Dearborn, Michigan das erste Gebäude in Flachbauweise als „B“-Building bekannt, in Stahlbauweise errichtet. Die „B“-Building, auch „Eagle Plant“ genannt, wurde als fünfschiffige Montagehalle gebaut, von denen ein Schiff höher als die anderen geplant, aber nicht so ausgeführt wurde. Alle Hallenschiffe zusammen nehmen eine Breite von 109 m ein. Das höhere Schiff wies eine Höhe von 19,38 m auf, das niedrigere Schiff eine Höhe von 11,90 m. Die Dachkonstruktion setzte sich aus Dreieckfachwerkbindern zusammen. Beim zweiten niedrigeren Schiff führte Kahn das Oberlicht in „V“-Form ein, das als  „Pond-Truss“ gegen die Feuergefahr entwickelt wurde. Da sich die tragende Konstruktion hinter der Fensterflächen befand, handelte sich hier um eine „Curtain Wall“ Anordnung. An der Giebelfassade fallen die großen, durchgehenden Fensterbänder auf, die sich über vier Hallen mit einer Länge von über 62 m erstreckten. Le Corbusier hatte das Motiv des durchgehenden Fensterbandes erst 1926 zum ersten Mal bei der Villa Savoye in Poissy bei Paris ausgeführt.
 
Walter Gropius und Hannes Meyer bauten das Faguswerk in Alfeld 1911-1915 mit einer halbwegs geltenden Curtain Wall Fassade, die vitrinenartig konstruiert wurde.
 
Die Glasfabrik
Die spezifischen Produktionsbedingungen verlangten nach einer angemessenen Gestaltung der Produktionsräume der Fabrik zur Glasherstellung für die Automobile von Ford. A. Kahn fand eine interessante Lösung mit einem rechteckigen Grundriss von 86 x 230 m und eine Bauweise mit flexiblen Räumen. Die Pläne lagen im Oktober 1922 vor. Ein Stahlskelett wurde ausgeführt. Das Dach war nicht mehr flach, sondern erhielt die „V“ Form, aber nicht nur als Oberlicht, sondern über das ganze Dach. Der Dachwinkel zeigt eine Neigung von 35 Grad mit einem Öffnungswinkel der beiden Seitenlängen von 110 Grad. Der Effekt der mit Glas bedeckten 286 m langen Fassaden ist überwältigend. (Bilder 8, 9, 10, 11)
 
Fabrikbau in der Sowjetunion 1929-1932 (Bilder 12, 13)
Seit 1919 gab es Kontakte zwischen der Sowjetunion und Henry Ford, die damals einige tausend Traktoren und Autos gekauft hat. Ford sollte im Rahmen der amerikanischen Technologietransfers neben Maschinen auch Planungs- und Baumethoden liefern. A. Kahn wurde von Ford für die Planung und Konstruktion aller Industriebauten vorgeschlagen. 1929 kam es zum Vertragsabschluss. A. Kahn lieferte Pläne für Traktorenfabriken, Gießereien, Flugzeughallen und Automobilfabriken für mehr als 22 Städte mit insgesamt 521 Industrieanlagen. Die Montagehalle der Traktorenfabrik in Stalingrad war eine langgestreckte Anlage von 364 x 71,50 m. Der Querschnitt zeigt ein Stahlskelett mit Strebenfachwerken. Fast futuristisch wirken die 364 m langen Fassaden mit durchgehenden Glasfronten.
 
Spätere Bauten

Eine der Marksteine in der Entwicklung flexiblen Großhallen mit denen neue architektonische Möglichkeiten erprobt werden, stellt die 1937- erbaute Montagehalle für Flugzeuge von Glenn L. Martin in Baltimore/Maryland dar. Die stützenfreie Halle war 95 x 128 m groß. Die 95 m langen Fachwerkbinder waren 9,15 m hoch. Unterhalb der Binder blieb eine Höhe von 13,30 m für die Unterbringung von Flugzeugen frei (Bild 14, 15) Auch die späteren Bauten von A. Khan aus der zweiten Hälfte der dreißiger Jahren demonstrieren eindrucksvoll die Möglichkeiten der Tageslichtbeleuchtung und der stützenfreien großen Spannweiten (Bilder 16, 17).

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