Intelligentes Wärmenetz für ein grünes Quartier

Älter als der Eifelturm, denkmalgeschützt und außergewöhnlich: Mit dem Neckarspinnerei Quartier entsteht auf dem Areal einer 1861 eröffneten Baumwollspinnerei in Wendlingen bei Stuttgart ein lebendiges Mischquartier mit einem hochmodernen Energiekonzept. Der weitestgehend denkmalgeschützte Gebäudebestand wird energetisch saniert und durch moderne Umbauten sowie Neubauten weiter verdichtet und aufgewertet. Ein intelligentes Wärmenetz der vierten Generation soll dazu beitragen, die Neckarspinnerei bis 2027 in ein innovatives Stadtquartier mit Null-Emission zu verwandeln. Umgesetzt wird das Ganze mithilfe einer eigens dafür entwickelten IoT-Plattform.

Jeder will es, zu wenige wissen wie: grüne Wärme nutzen – ob für die Heizung, eine warme Dusche oder um Industrieprodukte herzustellen. Noch immer beziehen 80 % deutscher Wohnungen ihre Wärme aus fossilen Brennstoffen[1] und die Energiewende stockt massiv. Wie es auch anders geht, macht die HOS-Gruppe bei der Entwicklung des Neckarspinnerei Quartiers[2] in Wendlingen am Neckar nahe Stuttgart vor. Um das künftige Stadtquartier CO2-neutral zu betreiben, setzt die Bauherrin ein Wärmenetz der vierten Generation um. Das Quartier produziert und nutzt nach der Fertigstellung ausschließlich erneuerbare Wärme, Kälte und Strom. Damit wird die Energieversorgung der Neckarspinnerei trotz ihrer besonderen historischen Bauwerke künftig nicht nur vollständig klimaneutral sein, sondern zusätzlich CO2-Emissionen in Höhe von bis zu 300 Tonnen pro Jahr überkompensieren. Das macht das Projekt zu einem Vorzeigebeispiel für die grüne Wärmewende im Gebäudebestand.

Das hocheffiziente Energie- und Wärmekonzept setzt auf einen smarten Versorgungsmix: Ein spannendes Element des Konzepts ist zum Beispiel ein Laufwasserkraftwerk, das seit der Fabrik­eröffnung das am Neckar gelegene Areal mit Ener­gie versorgt. Klimafreundlichen Strom liefern bald zudem Photovoltaikanlagen auf den Dächern. Zusammen produzieren sie jährlich etwa 4,5 Gigawattstunden Grünstrom. Rund zwei Drittel der erzeugten Energie, davon etwa 62 % aus Wasserkraftwerken und 38 % aus PV-Anlagen, wird mithilfe eines Stromspeichersystems vom Quartier selbst verbraucht und der Rest ins Netz eingespeist. Ihre regenerative Wärme bezieht die Neckarspinnerei künftig über Wärmepumpen aus dem Oberflächenwasser des Neckars und einem großen Eisspeicher. Auch die Abwasserwärme bleibt nicht ungenutzt.

Praxiswissen kombiniert mit Spitzenforschung: Neben einer durchdachten Energie-Infrastruktur ist für den Ausbau grüner und intelligenter Wärmenetze die digitale Vernetzung ausschlag­gebend. So werden auch im Neckarspinnerei Quartier mithilfe der Internet-of-Things-Dienste, kurz IoT, Energiesysteme optimiert betrieben und Lösungen für CO2-Reduktion erprobt. Das Ganze wird im Rahmen des Forschungsprojekts BOOS­TER[3], einem National 5G Energy Hub (N5GEH)-Satellitenprojekt [4], umgesetzt. Geleitet wird das Forschungsvorhaben von Drees & Sommer als Beratungs- und Planungsunternehmen und als direkter Entwickler sowie Anwender der neuen­ IoT-Plattform. Gemeinsam mit dem weiteren Konsortialpartner, der RWTH Aachen, entwickelt das Expertenteam eigens für das Neckarspinnerei Quartier die IoT-Plattform weiter. Die IoT-dienst-basierte Betriebsoptimierung wird dabei in Kooperation mit der HOS Projektentwicklung GmbH als assoziiertem Partner am Beispiel des Neckarspinnerei Quartiers demonstriert.

Bisherige IoT-Anwendungen konzentrieren sich nur auf spezielle Schnittstellen, Datenformate oder Dienste, wie zum Beispiel den optimalen Betrieb von Heizungsanlagen. Die Wechselwirkungen mit anderen Gebäudeanlagen werden oft vernachlässigt. Das Ergebnis: eine zwar effiziente Heizung, aber ungenutzte Potenziale in der Lüftungs- oder Klimaanlage. Die neue Plattform soll hingegen dafür sorgen, dass jede einzelne Anlage der Neckarspinnerei – von Heizung über Wasserversorgung bis hin zur Lüftung – durchgängig digital vernetzt, aufeinander abgestimmt und über den gesamten Betrieb hinweg kontinuierlich optimiert wird. Die auf diese Weise erprobten Lösungen und gewonnenen Erkenntnisse dienen später als Blaupause für die IoT-basierte Betriebs-optimierung der zukünftigen Quartiere und Gebäudeensembles. Den innovativen Wärmenetz-Ausbau in der Neckarspinnerei fördert auch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) mit der Bundesförderung für effiziente Wärmenetze (BEW).

Pflege des Kommunikationsnetzwerks als Organisationsaufgabe

Bei der in der Neckarspinnerei verwendeten IoT-Plattform handelt es sich um eine Open-Source-Plattform, die mit dem Schwerpunkt funkbasierter IoT-Lösungen im Energiekontext von der RWTH Aachen und der TU Dresden entwickelt wurde. Im Rahmen des Forschungsvorhabens N5GEH - BOOSTER wird diese Plattform nun von Drees & Sommer im Neckarspinnerei-Projekt eingesetzt, um zielgerichtete Dienste für die Echtzeit-Optimierung von Gebäuden und Anlagen zu entwickeln und zu evaluieren. Als Pilotgebäude dient dabei das auf dem Neckarspinnerei-Areal liegende und bereits sanierte Gebäude Pentagon – ein ehemaliges Baumwolllager, das nach Sanierung heute schon als Start-up-Hub fungiert. Zeitgleich wird die Plattform von der RTWH Aachen weiterentwickelt.

Zum jetzigen Zeitpunkt überführen die Forscher der RTWH Aachen zusammen mit den IT-Spezialisten von Drees & Sommer die IoT-Plattform in eine Produktivumgebung auf einer Cloud eines kommerziellen Cloud-Service-Anbieters. Weiterhin erfolgt die Integration von Schnittstellen unterschiedlicher Hersteller in die neue IoT-Plattform, was viel Know-how erforderte. Besonders herausfordernd ist es dabei, diverse Kommunikationsprotokolle zu harmonisieren, um Datenpunkte zu lesen, in der Cloud zu speichern und aus der Cloud schreiben zu können, was die Experten mittels selbst entwickelten, intelligenten Softwarebausteinen lösen. So hat sich für nachgerüstete IoT-Komponenten vor Ort die Kommunikation mittels LoRaWAN (Long Range Wide Area Network) als erfolgversprechend erwiesen. Um Datenpunkte aus der bestehenden Gebäudeautomation zu integrieren, ist es zudem erforderlich, punktuell industrielle Gateway-Lösungen einzusetzen. Je mehr Funktionen die Kommunikationssysteme über IT nutzen, desto wichtiger ist deren ungestörte Verfügbarkeit für den Gebäudebetrieb. Die Pflege des Netzwerks ist daher eine Organisationsaufgabe mit zunehmender Relevanz. Mit Blick auf die Cyber-Security-Anforderungen einer IoT-Plattform widmet das BOOSTER-Projekt dieser Thematik aus diesem Grund besondere Aufmerksamkeit.

Nutzerbedarfe und individuelle Steuerung weiterhin im Fokus

Damit die IoT-Dienste ihre Wirkung dauerhaft entfalten können, ist zudem die Akzeptanz derartiger Systeme seitens des Nutzers entscheidend. Daher ist es unabdingbar, dass es für den Nutzer – wie auch bisher – möglich ist, seine Arbeits- oder Aufenthaltsumgebung direkt zu beeinflussen. Das beinhaltet zum Beispiel die Möglichkeit, bei Bedarf die Raumtemperatur vorzugeben oder über Fenster für frische Luft zu sorgen. Im Beispiel des Pentagon-Gebäudes wurden daher Raumbediengeräte installiert, die nun, im Gegensatz zu der Einstellung einzelner Heizkörperthermostatventile, eine zentrale  Nutzerschnittstelle im Raum bieten. Weitere Berührungspunkte dieser Art sind zum Beispiel der Sonnen- und Blendschutz oder die Beleuchtungssteuerung.

Die Anzahl der Endgeräte im Pilotgebäude Pentagon auf dem Neckarspinnerei-Areal liegt im jetzigen Planungsstand bei ca. 80 Sensoren und Aktoren, darunter die Ventilantriebe der Heizkörper, einige Raumbediengeräte und punktuell ergänzende Sensoren. Diesen Ausbau verwendet Drees & Sommer für die Implementierung einer prädiktiven Regelung der Heizflächen in Form eines IoT-Dienstes, die sowohl Wetterprognosen als auch anlagenseitige Parameter berücksichtigt. Mit diesem Dienst wird eine kontinuierliche Optimierung der Heizungsanlage des Gebäudes bewirkt, wobei das Optimierungsziel in Abhängigkeit des Betriebsmodus der übergeordneten Wärmeversorgung verändert werden kann.

Skalierbarkeit der IoT-Plattform und weitere Anwendungsmöglichkeiten

Das Neckarspinnerei Quartier eignet sich für das Forschungsprojekt deshalb besonders gut, da es sowohl bestehende als auch bereits modernisierte und in Modernisierung befindliche Gebäude umfasst. Zudem handelt es sich um ein Mischquartier mit den Nutzungen Wohnen, Arbeiten, Gastronomie, Handel und Kultur. Die an diesem Beispiel weiterentwickelte Plattform, genauso wie die auf Gebäude und Anlagen angewendeten Dienste und die Bibliotheken sind somit skalierbar und für vielfältige Liegenschaften, Gebäude und Anlagen nutzbar. Zukünftig lässt sich auf diese Weise weitere Technik integrieren, wobei die Art und Weise, wie dies geschieht, über den tatsächlichen Aufwand entscheidet. Grundlegend für die Adaptionsfähigkeit ist beispielsweise die modulare Struktur der entwickelten Lösungen. Eine entsprechende Fachkenntnis und Weitsicht im Zuge der Entwicklung von IoT-Komponenten und -diensten sind somit wesentlich.

Welche Anwendungsfälle solche Systeme künftig noch bieten, hängt stark von der jeweiligen Immobilie, ihrer technischen Ausstattung und den Zielen des Auftraggebers ab. Für die Neckarspinnerei zeichnen sich in absehbarer Zeit im Gebäudebereich Dienste zur Bedarfsminimierung und aufseiten des Wärmenetzes zur Optimierung der Wärmeerzeugung, der Koordination der einzelnen Aggregate und der regenerativen Wärmequellen sowie als Be- und Entlademanagement für die thermischen Speicher ab. Ein vielfältiges Potenzial für die Einbindung in den Systemverbund (engl.: system-of-systems) bieten zudem die Ener­gieversorgung in den Gebäuden oder die E-Mobilität sowie die Verwertungsstrategie des lokal erzeugten, überschüssigen Grünstroms.

Grünes Wärmenetz geht nur mit grünem Bestand.

Ein wichtiger Baustein des Wärmenetzkonzepts stellt auch die Bestandssanierung dar. Dafür nahm das Drees & Sommer-Expertenteam den historischen Gebäudebestand, darunter insbesondere den Spinnerei-Hochbau, den Shed-Bau und das Batteur-Gebäude genau unter die Lupe. Das Ergebnis: Für einen klimaneutralen Betrieb müssen alle Bestandsbauten so saniert werden, dass sie durch Wärmepumpen versorgt werden können. Dafür sind unter anderem eine mit dem Denkmalschutz vereinbare Dämmung, Flächen-Heiz-Kühlsysteme und ein Lüftungskonzept mit maximal natürlichem Lüftungsanteil notwendig. Erst diese Maßnahmen an den Gebäuden und dem für die Neubauten vorgesehenen Plus-Energie-Standard schaffen die Voraussetzungen für eine vollständige Versorgung aus regenerativen Energiequellen. Ein unsichtbares, aber entscheidendes Element stellt zudem eine vorausschauende Betriebsstrategie dar. Sie hilft, den Einsatz der Speicherkapazitäten so zu koordinieren, dass über das gesamte Jahr hinweg ein klimapositiver Betrieb erreicht werden kann.

Insgesamt wird das fertige Areal rund 50 000 m² Geschossfläche verteilt auf die Bereiche Wohnen, Arbeiten, Handel und Kultur umfassen. Daneben ist ein Mobilitätskonzept mit guter Anbindung des Quartiers an den öffentlichen Nahverkehr sowie einem Rad- und Fußgängernetz geplant. Im Ergebnis entsteht mit der Neckarspinnerei bis 2027 ein nachhaltiges und attraktives Quartier für Familien, junge Unternehmer:innen und krea­tive Köpfe. Den gemeinsam mit der IBA’27 und der Stadt Wendlingen für das Neubaugebiet ausgeschriebenen städtebaulichen Wettbewerb gewann Anfang März letzten Jahres der Entwurf von Rustler Schriever Architekten und gornik denkel Landschaftsarchitekten.

Links
[1] BMWK: 65 Prozent erneuerbare Energien beim Einbau von neuen Heizungen ab 2024: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/Energie/65-prozent-erneuerbare-energien-beim-einbau-von-neuen-heizungen-ab-2024.pdf?__blob=publicationFile&v=6
[2]Neckarspinnerei Quartier: https://www.neckarspinnerei-quartier.de/
[3]https://n5geh.de/booster/
[4]https://n5geh.de/
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