Faserfassade am Texoversum, Reutlingen

Der Wirtschafts- und Arbeitgeberverband Südwesttextil baut auf dem Campus der Hochschule Reutlingen derzeit das „Texoversum“ – ein Gemeinschaftsprojekt von Allmann Sattler Wappner, München, Menges Scheffler Architekten, Frankfurt und Jan Knippers Ingenieure, Stuttgart. Ein charakteristisches Merkmal des Gebäudes, das als Lehr-, Forschungs- und Innovationszentrum genutzt werden wird, ist die neuartige Faserfassade.

Die heimische Textilindustrie hat sich aufgrund der zunehmenden globalen Konkurrenz mehr und mehr den technischen Textilien zugewandt. Diese sind von wachsender Bedeutung für verschiedenste Technologienbranchen wie den Auto-
mobilbau, Luft- und Raumfahrt, Informatik, Medizintechnik und das Bauwesen. Mit dem Neubau investiert der Bauherr Südwesttextil in eine Zukunftswerkstatt für die Querschnittstechnologie Textil. „Mit dem Bau des Texoversums setzen wir ein sichtbares Zeichen für die textile Zukunft – auch in Form der Architektur des Gebäudes. Mit der erstmalig in dieser Form umgesetzten textilen Fassade und dem offen gehaltenen Entwurf des Gebäudes unterstreichen wir die Innovation der Plattform, die im Texoversum entsteht“, so Südwesttextil-Präsident Bodo Th. Bölzle.

Identitätsstifter Fassade

Das architektonische Konzept spiegelt dies in der internen Verwebung der Funktionen wider, vor allem aber in der indentitätsstiftenden Gebäudehülle. Die Hülle des Texoversum verdeutlicht, wie durch die Synthese von textilen und digitalen Technologien in der Architektur neuartige, genuin digitale Bausysteme ermöglicht werden, die noch vor wenigen Jahren weder plan- noch baubar gewesen wären, und repräsentiert so die Zukunftsfähigkeit faserbasierter Werkstoffe und textiler Techniken.

 

Fassade als Forschungsfeld

Die Fassade des Texoversum zeigt auch, wie das Spannungsfeld zwischen akademischer Forschung und architektonischer Anwendung neue Gestaltungspotenziale freisetzen kann. Aufgrund der zunehmend durch die Regeln der Technik normierten Praxis wird der Brückenschlag zwischen diesen beiden Welten zunehmend schwierig. Um eine bautechnische und zugleich architektonische Innovation dennoch zu ermöglichen, haben sich für die Planung des Texoversums die drei Stuttgarter Professoren Markus Allmann, Achim Menges und Jan Knippers mit ihren Büros zu einer Kooperation zusammengeschlossen. Gemeinsam nahmen sie erfolgreich an dem Wettbewerb teil, den der Bauherr „Südwesttextil – Verband der Südwestdeutschen Textil- und Bekleidungsindus­trie e. V.“ für das Prestigeprojekt ausgeschrieben hatte. 

Der Entwurf der Faserfassade basiert auf der an den Instituten ICD und ITKE der Universität Stuttgart entwickelten, digitalen Fertigungstechnologie des kernlosen robotischen Wickelns von tragenden Großbauteilen. Hierbei werden Endlosfasern von einem Industrieroboter durch ein Harzbad gezogen und dann auf einem Leergerüst so aufgewickelt, dass sich im Verlauf des Prozesses eine zuvor simulierte Form des Bauteils als Gleichgewichtszustand aller Fasern einstellt. Dies bietet im Vergleich zu anderen Herstellungsverfahren für Faserverbundbauteile wesentliche Vorteile: Erstens wird kein aufwendiger und materialintensiver Formenbau benötigt, sondern lediglich ein vergleichsweise einfaches, wiederverwendbares Leergerüst. Mit diesem einen Werkzeug können dennoch eine Vielzahl verschiedener Faserstrukturen und Bauteilgeometrien realisiert werden. Im Fall des Texoversums wurden für die 476 Fassadenelemente lediglich ein dreieckiges Wickelgerüst für das Regelbauteil und ein trapezförmiges für die Eckbauteile benötigt. Auf diese werden jeweils zunächst weiß erscheinende Glasfasern vom Roboter abgelegt. Das so entstehende Bauteil wird dann im gleichen Prozess durch schwarze Kohlenstofffasern an den hochbelasteten Stellen armiert. Der zweite wesentliche Vorteil des Fertigungsverfahrens ist die Möglichkeit der lokalen Ausdifferenzierung der Bauteile durch verschiedene Fasermuster und Öffnungsgrade. Zudem entsteht im Fertigungsverlauf keinerlei Abfall oder Verschnitt, so dass auch der letzte Zentimeter Faserstrang genutzt wird.

 

Integration als Innovation

Die Faserfassade des Texoversums erfordert einen von Beginn an integrativen Ansatz des Planens und Bauens. Form, Material, Struktur und Fertigung werden durch das kernlose robotische Faserwickeln zu einer neuartigen Synthese zusammengeführt. So kann jedes einzelne Fassaden-
element individuell an die Erfordernisse der Nutzung angepasst werden. Ausgehend von drei Basismodulen transformieren sich die Elemente ­entsprechend dem Sonnenverlauf und der Blickrichtungen, was in einem einzigartigen, vielschichtigen Erscheinungsbild resultiert. Die Elemente sind selbsttragend und benötigen keine unterstützende Tragstruktur. Ihre versetzte Anordnung erlaubt freie Durchblicke. Die Faserfassade erfüllt die funktionalen Anforderungen der Absturzsicherung wie auch des außenliegenden Sonnenschutzes.

Das hohe Maß an Integration wird somit zum Impulsgeber für vielschichtige Innovation. Für die Architektur wird die Forschung ästhetisch wirksam, räumlich erlebbar und verleiht dem Gebäude einen eigenen Ausdruck, der den Mitteln unserer Zeit und den Anforderungen der Aufgabe angemessen ist. Ebenso ergeben sich neue sozio-ökonomische Modelle, die digitale Technologien für ein ressourcenschonendes Bauen in einer zunehmend durch Fachkräftemangel geprägten Wissensgesellschaft konsequent nutzen. Die ausführende Firma für die Faserfassade des Texoversum, die FibR GmbH aus Kernen im Remstal, ist direkt aus der universitären Forschung hervorgegangen. Letztendlich erzeugt der Wissenstransfer auch neue Impulse für die Forschung. So konnte in dem Versuchsbau Maison Fibre, der auf der Architekturbiennale in Venedig 2021 ausgestellt war, bereits die Weiterführung der Forschung erprobt werden, indem die robotisch gewickelten Faserelemente zugleich Hülle und tragende Struktur eines begehbaren Bauwerks ausbilden. Ebenso wird an der Universität Stuttgart inzwischen intensiv an dem Einsatz von Naturfasern im Bauwesen geforscht.

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