Wohnen ohne Schwere
Haus am Platz, Berlin-Zehlendorf
 

Inmitten einer der ältesten erhaltenen Villenquartiere Berlins rund um den Augustaplatz wagte der Berliner Architekt Wolfram Popp eine grazile Stahlkonstruktion für ein 350 m2 großes Wohnhaus, das sich erstaunlich sensibel in sein Umfeld einbettet und Reste des Altbestands in seine Konzeption integriert.

In Zeiten der Wiederkehr von Säulen, Gesimsen und anderen Elemen­ten neoklassizistischer Architektur im Wohnungsbau für gehobene Kreise, erstaunt ein Einfamilienhaus im gutbürgerlichen Berliner Bezirk Zehlendorf schon, wenn es nicht auf historische Reminiszenzen und massive Wände setzt, sondern experimentell Neues wagt. Keine neue Form, kein Blob mit unbegrenzten Ressourceneinsatz wurde hier realisiert, sondern ein ungemein leichtes, fast schwebendes Wohnhaus, das mit seinem grazilen Tragwerk aus Stahl die Grenzen zwischen Außen und Innen aufhebt. Für eine fünfköpfige Familie konzipierte der Berliner Architekt Wolfram Popp, der vor Jahren mit seinen Estradenhäusern das innerstädtische Mehrfamilienhaus neu dachte, ein Haus überraschender Variabilität und Permeabilität.
Intensiv setzte sich der Architekt mit den Raumbedürfnissen und -wünschen seines Bauherrnpaares auseinander, um ihnen eine maßge­schneiderte und zugleich Ressourcen schonende Lösung zu entwickeln. Das Grundstück am Augustaplatz in der Villenkolonie Lichterfelde, die von Berlins ersten Terrainentwickler Carstenn Mitte des 19. Jahrhunderts geplant worden war, stellte dabei eine besondere Herausforderung dar. Zwischen Villen des 19. Jahrhunderts und Bungalows, die nach dem 2. Weltkrieg teilweise die zerstörten Häuser ersetzten, befand man sich in einem Ensembleschutzgebiet mit strengen Auflagen. Eigentlich war hier nur eine 1-geschos­sige Bebauung erlaubt, was bedeutet hätte, dass das gewünschte Wohnhaus mit mehr als 300 m² das Grundstück fast völlig gefüllt hätte und damit kaum mehr Raum für einen Garten möglich gewesen wäre.
Doch ein höheres Nachbargebäude und die erhaltene, hohe Grund­stücksmauer mit Belvedere des im Krieg zerstörten Vorgängerhauses eröffneten dem Architekten Spielräume für eine andere, eine 2-geschossige Lösung, der sich die Genehmigungsbehörde zuzustimmen bereit fand, sofern das neue Haus den landschaftlichen Charakter der Villenkolonie wahrte. Als Sichtschutz und Antipode integrierte Wolfram Popp die alte Mauer, die interessanterweise nicht unter Ensembleschutz stand, in seine Konzeption, um sein Haus mit 350 m² Wohnfläche auf dem relativ großen Grundstück möglichst nahe an die Straße zu rücken und ihm damit gen Südwesten einen weiten Gartenraum zu erhalten. Ungemein leicht und durchlässig erhebt sich darüber das Haus, dessen zwei Ebenen, vom Architekten als „Plateaus“ bezeichnet, ein sehr offenes Wohnen ermöglichen.
Implantiert sind hier alle Sekundärräume - eingestellt in ein Raumkontinuum und reversibel - Speisekammer und  Toilette im Erdgeschoss sowie die Individualräume im Obergeschoss. Große Schie-
beelemente anstelle von Türen erlauben wiederkehrend sehr rasch veränderbare Raumbeziehungen, die verführerisch zur Zirkulation einladen und immer neue Raumeindrücke gewähren. Zumal alle Raumimplantate deutlich von den weitgehend transparenten Rändern des kompakten Hauskörpers mit 8,80 m Breite und 20,80 m Länge abgerückt wurden, sodass fast an jedem Ort die ganze Länge und Breite des Hauses erfahrbar ist. Schwellenlose Übergänge kennzeichnen dieses Raumkontinuum, das im Erdgeschoss mit großformatigen Skyframe-Schiebeelementen und im Obergeschoss mit einer überraschenden, umlaufenden Sitzbank aufwartet, die visuell die Grenzen von Außen und Innen nahezu auflöst. Was sich bruchlos im Obergeschoss auch nach Innen fortsetzt, dessen Kinder- und Elternraummodule dank stets zweier Raumzugänge und vieler Schiebetüren ganz offen wirken, aber sich im nächsten Moment in ein geheimnisvolles Labyrinth verwandeln können. Raumgrenzen sind hier nie etwas Gegebenes, sondern allein eine Frage der Wahrnehmung und der jeweiligen Nutzung, was sich bruchlos in der Einheit von Popps Denkarbeit von Konstruktion und Raum auch Außen fortsetzt. Vertikal geschichtet und visuell oszillierend wirkt sein Haus mit langen, umlaufenden Glasbändern und zwei filigran-farbigen Lammellenmanschetten als Brüstungs- und Attikaband im Obergeschoss. Wie Strichcodes ohne Materie umfangen sie den Raum mit einem sehr luziden Farbenspiel. Weniger Wände im konventionellen Sinne stellen sie dar, als flirrende, leichte Farbstriche, die mit einer unauslotbaren Tiefe vor das Haus gesetzt sind. Wofür der Architekt bewusst die Gebäudeecken als Negativecken ausführte, um geradezu demonstrativ die Fügung aller Teile bloß zu legen und zugleich den Hauskörper unmissverständlich als Volumen und nicht als Masse erscheinen zu lassen.
Diese Raum- und Körperkonzeption war allein mit einer Stahlkonstruktion möglich. Einer Stahlkonstruktion aus HEB 120-Profilen und vorgefertigten Sichtbeton-Hohldielen mit 8,20 m Spannweite, die von sehr grazilen Stahlstützen mit nur 120 mm Durchmesser in einem Achsabstand von 3,10 m getragen werden. Unsichtbar für die Nutzer und Besucher des Hauses wurden alle Unterzüge in die Decke integriert, die über Kopfbolzen mit der Decke verbunden sind. Der Kniff, die Träger an den Stützen vorbei zu führen, ermöglichte eine elegante Schattenfuge zwischen den Stützen und Trägern auszubilden, die das konstruktive Trag-und Lastkonzept des Hauses weiterhin erfassbar macht. Ein Konzept, das die Decke als Scheibe ausbildet und alle Wind­lasten direkt in die Decken ableitet.
Da hier völlig auf tragende Wände verzichtet wurde, was Geld sparte, waren Zugstab-Verbände zur Aussteifung des Hauses erforderlich. Jedoch ihr überaus graziler 24 mm Durchmesser und ihre Platzierung, jeweils in der Mitte jeder Hausseite, beeinträchtigt die Erfahrung des Raums und seiner Konstruktion nicht. Einer ungemein leichten Konstruktion, deren Stützen leicht zurückgesetzt entlang der Außenwände im Achsabstand von 3,10 m in die Tiefe eines Raumes führen, dessen Grundriss frei disponibel und variabel ist – mit 2,90 m Raumhöhe im Erdgeschoss und 2,70 m im Obergeschoss.
CO2-neutral
Alle geschlossenen massiven Teile der Fassade, das Brüstungs- und Attikaband wurden aus MHM-Massivholz vorgefertigt und an das Stahlskelett angehängt. Dank der Nutzung von Geothermie über eine Wärmepumpe und 5 Erdwärmesonden in 99 m Tiefe konnte auf eine Wärmedämmung verzichtet werden, wie auch das Erdgeschoss mit rahmenlosen Skyframe-Glaselementen ausgestattet werden. CO2-neutral erfolgt der Betrieb des Hauses, das zugleich 40 % leichter als ein konventionelles Wohnhaus ist – sehr ungewöhnlich für ein derart „gläsernes“ Haus, dem man solche Effizienz nicht zutrauen würde.
Wolfram Popp erforschte sehr intensiv und erfolgreich die Gegebenheiten des Ortes und Programms. Auf aufwändige Verschattungselemente verzichtete er ebenfalls, da eine 100-jährige Eiche südwestlich des Hauses im Sommer ausreichende Verschattung bietet. Eine nur auf den ersten Blick simple Kiste tritt den Beweis an, dass Stahlbau auch im Wohnungsbau Zentraleuropas Sinn macht und energetisch wie ästhetisch neue Wege aufzeigen kann. Es braucht Architek­ten wie den Querdenker W. Popp, die von Experimenten nicht die Finger lassen können und auf die Suche nach neuen Lösungen gehen. Claus Käpplinger, Berlin
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