Vom Wert der zweiten Reihe
Rückgebäude Reichenbachstraße, München

„Who needs Berlin“ titelte die New York Times, als sie das trendigste und hippste Stadtquartier in Deutschlands heimlicher Hauptstadt und dessen Nachtleben portraitierte: das Glockenbachviertel, das südlich an die Münchner Altstadt grenzt – laut NYT „also known as Gärtnerplatzviertel or Isarvorstadt, depending on whom you ask“.

Das Viertel, dem auch das Erste in Form des Bayerischen Rundfunks einen „Tatort“ widmete, ist nicht nur voller Bars, Clubs und schicker Restaurants, sondern auch der am dichtesten bebaute Stadtteil der Weltstadt mit Herz. Mit einem hohen und intakten Altbaubestand war es einst von Arbeitern und Kleingewerbetreibenden bewohnt. In der Weimarer Re­publik kamen viele Ostjuden dazu, bevor es in den 1960er und 1970er Jahren mit Rainer Werner Fassbinder als Schwulen- und Lesbenviertel bundesweit von sich Reden machte. In den vergangenen zehn Jahren allerdings wird zunehmend die angestammte Bevölkerung verdrängt, das Viertel ist einem klassischen Gentrifizierungsprozess unterworfen. Oder wie es der Hauptkommissar Franz Leitmayr in dem erwähnten Tatort vor einer jubelnden Schar japanischer Touristen ausdrückte: „In Glockenbachviertel there lived normal people, working class people, but now very rich people, very expensive, nur apartments.“

Auch das ambitionierte Projekt in der Reichenbachstraße 22 mit ­13 neugebauten Eigentumswohnungen zu Quadratmeterpreisen von 5 400 bis 7 200 € ist diesem Prozess zuzuordnen. Der Investor, die Euroboden GmbH, versteht sich laut Homepage als Premium-Bauträger und will einerseits mit seinen Immobilien historisches Stadtbild erhalten, andererseits „mit einer konsequent progressiven Architektur den exklusiven Geschmack einer handverlesenen Klientel“ ansprechen. Dass dies kein ein Widerspruch sein muss, zeigt besagtes Projekt. In einem ersten Bauabschnitt wurde das um 1865 errichtete Vorderhaus aufwändigst saniert. Die hervorragende Detaillierung bei der Sanierung des Vorderhauses wirkt gleichsam als optische Ouvertüre für den zweiten Bauabschnitt, einem Neubau entlang der westlichen Grundstücksgrenze: Aus einem weißen dreigeschossigen Block wächst ein zurückgesetzter, bronzefarbener Kubus, der sich mit einem abermaligen Rücksprung über zwei Geschosse erstreckt. Die Reduktion auf klare Strukturen, ein feines Licht- und Schattenspiel sowie wenige, aber hochwertige Materialien untersteichen zusammen mit dem geometrisch gestalteten Innenhof den klientelgerechten Anspruch einer „Town Residence“ schon auf den ersten Blick.

Um Wohnungen im Premiumsegment auch ökonomisch erfolgreich realisieren zu können, verlangt der Markt von Bauträgern und Architekten jenseits des architektonischen Vokabulars und der städtebaulichen Einbindung eine Gratwanderung zwischen verschiedenen Polen: Maßanzug versus Konfektion, persönliche Note versus nivellierende Wirtschaftlichkeit, handwerkliche Raffinesse versus industriellem Standard. Thomas Unterlandstättner, der mit seinem Team die Sanierung des Vorderhauses und den Neubau des Rückgebäudes plante, hat kluge Antworten auf solche Probleme gefunden, wobei ihm bei allem Eingehen auf individuelle Wohnbedürfnisse vor allem an einer einheitlichen Erscheinung der Hoffassade gelegen war. Er nennt dies „demokratisches Wohnen“ – was eher missverständlich, aber in einer Stadt, die auf glanzvolle Inszenierung der jeweils eigenen Manier äußerst großen Wert legt, nachvollziehbar ist. Bei den mit WDVS verputzten, weißen Geschossen des Rückgebäudes kommt Unterlandstättner mit zwei Fensterformaten aus, die er aber bei jeder der zwischen 53 und 257 m2 großen Wohnungen variiert: einem Querrechteck mit 160 x 150 cm, das mit einem massiven, bronzefarbenen Rahmen in der Ebene der Fassade, und einem Längsrechteck mit 75 x 150 cm, das tief in der Laibung liegt. Obwohl der südlichere der beiden Hauseingänge durch eine Einkerbung, der nördliche durch ein L-winkliges, massives Stahlblech gebildet wird, haben sie durch die verwendeten Materialien und die raumhohe Festverglasung eine gewisse Ähnlichkeit. Kritik im Detail, aber durch eine Entscheidung des Bauherrn bedingt: Die indirekt beleuchtete Briefkastenanlage wurde in den generösen Eingangshallen positioniert, dadurch haben Fremde leichteren Zugang ins Haus. Auch das südliche, innenliegende Treppenhaus wirkt kleinlich – die Erschließungszonen mussten zugunsten der verkaufbaren Quadratmeter auf´s Äußerte minimiert werden -, das nördliche dagegen, obwohl genauso groß, erhält durch die großen Fenster erheblich mehr Licht und damit Großzügigkeit. Details wie in die Schwellen eingelassene Fußabstreifer, Türklinken und Aufzugsschilder aus Bronze bzw. dunkel anodisiertem Edelmetall sowie von den Fertigteiltreppen farblich abgesetzte, sich wie eine Spirale nach oben windende Treppenwangen, bringen die Eleganz zurück, die die Dimensionen vermissen lassen.

Unabhängig von der Größe der Wohnung hat der Architekt die Individualräume in den Osten, Wohn- und Essräume sowie die sehr geräumigen Balkone in den Westen platziert. Auf Grund des trapezförmigen Grundstücks springt der Baukörper im Westen sägezahnartig zurück. Dadurch sind Wohnungen bis zu 15 m tief. Doch eine Gebäudeschneise im Süden und raumhohe Fenster­türen bzw. Festverglasungen sorgen ordentlich für natürliches Licht. Überhaupt ist das Lichtkonzept auf das Wohnen in der zweiten Reihe und die umliegen­de dichte Bebauung komponiert. Es gibt präzise Einschnitte in die Fassade, die den Einblick verwehren, doch den Ausblick erlauben, die geflochtenen, bronzefarbenen Edelstahl-Brüstungen der Balkone, präzise, festverglaste Einschnitte in das Gebäudevolumen – insgesamt bietet die Architektur introvertierte, aber auch eher extrovertierte Bereiche. Der Wechsel von Privat­heit und Öffentlichkeit wird gewahrt. Die Fassade im vierten und fünf­ten Geschoss aus hinterlüfteten, geprägten Edelstahl-Tafeln wirkt wie der Panzer einer Schildkröte.

„Für Euroboden ist Architektur mehr als gestalteter Wohnraum, sie ist die kulturelle Zusammenkunft von Ort, Raum, Geist und Zeit“, heißt es auf der Homepage des Bauträgers. Mit dieser Wertschätzung der Architektur über alle Marketingstrategie hinaus und mit der Beauftragung von Büros wie Allmann Sattler Wappner, Hild und K. (renovieren derzeit das Vorderhaus Reichenbachstraße 20), Muck Petzet oder Thomas Unterlandstättner konnte Euroboden in den vergangenen Jahren bei Premium-Wohnungen Zeichen setzen – Zeichen, die auch andere, im gleichen Segment arbeitende Bauträger unter Zugzwang setzten. Dass die Renaissance der Städte einkommensstarke Schichten von den Speckgürteln in die Innenstadtbereiche zurückbringt – und das, wie im Fall Reichenbachstraße 22, auch noch mit hochwertiger, keinesfalls aber protziger Architektur, dem kann sich Niemand verschließen. Das liegt nicht in der Verantwortung von Bauträgern und Architekten. Es ist die Aufgabe der Städte, deren Haushalte von dieser Renaissance über den gestiegenen Lohn- bzw. Einkommenssteueranteil entlastet werden, Instrumente zu entwickeln, die Verdrängung der angestammten Bevölkerung zu verhindern. Enrico Santifaller, Frankfurt

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