Flächiges Gewebe trägt
Carbonbetonbrücke, Albstadt-Ebingen

Ganz ohne Stahl überspannt die weltweit erste Carbonbetonbrücke 15 m. Sie ist ausschließlich mit Kohlefasern bewehrt, die eine extrem hohe Bruchspannung aufweisen. Das Ingenieurbüro Knippers Helbig hat die Fußgängerbrücke entworfen, die statischen Berechnungen erstellt und den Prozess der Zustimmung im Einzelfall begleitet. Die Leichtbaukonstruktion mit minimiertem Materialeinsatz kommt ohne wartungsintensive Details aus, was die Unterhaltskosten reduzieren und die Lebensdauer erhöhen soll.

Für das Land Hessen baute Knippers Helbig Advanced Engineering 2009 eine glasfaserverstärkte Kunststoffbrücke als Prototyp einer neuartigen Autobahnüberführung. 2012 fragte ein Hersteller von Kohlefaserbewehrungen, die solidian GmbH aus Albstadt, das Büro, ob es bei der Entwicklung eines typisierten Brückenentwurfs einer Fuß- und Radwegbrücke aus kohlefaserbewehrtem Beton und der für den Praxiseinsatz notwendigen allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassung unterstützen kann. Kohle­faserbewehrungen haben gegenüber üblichem Bewehrungsstahl drei entscheidende Vorteile: Sie sind viermal leichter (Dichte 1,8 statt 7,8 g/cm³), sechsmal tragfähiger (Bruchspannung 3 000 statt 500 N/mm²) und rosten nicht. Sie kommen mit einer Betondeckung von nur 15 mm aus, so dass Bauteile extrem schlank bleiben können. Ziel des Projekts war, die Möglichkeiten einer komplett stahlfreien Fußgängerbrücke auszuloten und für eine allgemeine bauaufsichtliche Zulassung ein erstes Pilotprojekt vorweisen zu können. „Für solidian waren wir interessant, da wir in unseren Projekten neben den konventionellen Baustoffen auch mit neuen Materialien arbeiten “, erklärt Thorsten Helbig, Gründungspartner des Ingenieurbüros. „Wir stellten uns die Frage, wie man mit diesem neuartigen Werkstoff im Brückenbau entwerfen kann und waren neugierig, die Möglichkeiten des neuen Materials auszuloten.“ Christian Kulas, Abteilungsleiter Textilbeton bei solidian erklärt: „Wir wollen in Zukunft Fußgängerbrücken aus Textilbeton ohne baurechtliche Hürden bauen.“

Ohne Stahl und Vorspannung

2010 wurde in Albstadt-Lautlingen die derzeit längste textilbewehrte Betonbrücke eröffnet. Sie ist noch mit Glasfasern armiert, bei denen die Bruchspannung mit 1 000 – 1 500 N/mm² deutlich geringer ist als bei Karbonfasern. Konstruiert ist sie als Platten-Balken-Typ mit einer Stahlvorspannung. Zwei weitere Textilbetonbrücken stehen nur noch in Oschatz und Kempten. „Wir wollten davon wegkommen, dass wir zusätzlich vorspannen, wie es in allen bisher gebauten Textilbetonbrücken der Fall ist“, erklärt Kai Unterer, verantwortlicher Projektin­genieur bei Knippers Helbig. „In den Anfängen sind wir dabei noch sehr verhaftet gewesen, mit dem, was es gab.“ Die Ingenieure experimentierten mit durch Koppelglieder vorgespannten Brückensegmen­ten sowie diversen Faltstrukturen und fertigten Entwürfe für Brücken mit kleineren Spannweiten, die als Testprojekte realisiert wurden. „Bei dem Projekt ging es darum, eine materialgerechte Konstruktion für diesen Werkstoff im Brückenbau zu finden. Unser Ansatz war, einen Prototypen für Brücken zu bauen, die mit unterschiedlichen Spannweiten an unterschiedlichen Orten eingesetzt werden,“ fasst es Thors-ten Helbig zusammen. „Wir haben uns überlegt, wie man möglichst flächenhafte Bauteile generieren kann mit möglichst wenigen Details, möglichst einfach zu konstruieren, herzustellen und im späteren Gebrauch zu inspizieren. Für Brücken, die eine hohe Detaillierung aufweisen, ist auch der Wartungsaufwand hoch.“ So ist der realisierte Entwurf sehr klar und stringent. Das als monolithisches Bauteil hergestellte Brückendeck hat eine Spannweite von 15 m und eine Breite von 3 m. Es ist als trogförmiger Einfeldträger mit einem Fest- und einem verschieblichen Längslager ausgebildet. Die Wangen des Trogs sind 70 mm dünn, ihre Höhe ist affin zur Biegelinie des Trägers. Die Geländer sind direkt und bündig auf den Wänden über eingelassene Hülsen an­geschlossen. „Dieses Detail zeigt, wie schmal die Wange ist“, sagt Kai Unterer. „Dort sind wir an die Grenzen gekommen, was man mit 70 mm Wandstärke bauen kann.“  Für den Boden genügen 90 mm. „Auf den Belag kann man verzichten, denn die Bewehrung korrodiert nicht“, betont Christian Kulas. Neben dem Belag entfällt auch die Abdichtung und die Wartung sowie ggf. die Erneuerung dieser Bauteile. Die Brücke wurde als ein Fertigteil hergestellt und wiegt lediglich 14 t.

Statik mit Stahlbetonanalogie

Während Platten-Balken-Brücken linear bewehrt und häufig vorgespannt sind, sollte hier vorwiegend flächenhaft bewehrt werden. Die Bewehrungen liegen im Boden vierlagig und in den Wangen zweilagig möglichst nahe an den Oberflächen (s. Schnitt BB). „Im Entwurfsprozess war vor allem wichtig, wie man so flächige Bewehrungen ausnutzen kann“, betont Kai Unterer. Eine der Herausforderungen war dann auch die statische Berechnung. „Auch die Bemessung solcher Brücken ist ja noch nicht in einer Norm gefasst“, gibt Thorsten Helbig zu bedenken. „Mit unserer Arbeit entwickeln wir also nicht nur eine Konstruktion, sondern auch eine Bemessungsvorschrift für nachfolgende Projekte.“ Die Ingenieure rechneten mit einer Stahlbetonanalogie, die das Verhalten des Bauteils in ausreichend genauer Näherung beschreibt. Sie wählten eine Carbonbewehrung mit einer Öffnungsweite von etwa 30 mm, so dass mit genormten Betonen mit einem Größtkorndurchmesser von 8 mm gearbeitet werden kann. In den Ecken kamen Bewehrungen in U-Form mit 23 cm langen Schenkeln zum Einsatz. Damit der Beton ohne Lunker eingefüllt werden kann, wird auf den innen liegenden Seiten des Bewehrungs-Us auf die längs verlaufenden Faserstränge, die so genannten „Längs Rovings“, verzichtet. Die Fasern werden bei der Produktion in die benötigte Form gebracht. Im Fertigteilwerk oder auf der Baustelle können sie nicht mehr ge­bogen werden. Der verwendete hochfeste Normalbeton C55/67 enthält Feinstzuschläge. Die Schalung des Bodens wurde mit einer perforierten Matte belegt, die der fertigen Oberfläche ihre Rauigkeit gibt.

Zustimmung im Einzelfall

Der Einsatz von kohlefaserbewehrtem Beton ist in Deutschland bauaufsichtlich noch nicht geregelt. Deshalb war als objektbezogener Verwendbarkeitsnachweis eine Zustimmung im Einzelfall (ZiE) notwendig. Dazu musste die Stahlbetonanalogie der Ingenieure durch statische Versuche am Institut für Massivbau an der RWTH Aachen (IMB) validiert werden. Sergej Rempel vom Institut stellte das Gutachten zum Tragverhalten aus. Dazu überprüfte er die Berechnungen in einem iterativen Verfahren und erweiterte die Stahlbetonanalogie. Denn während Carbon linear elastisch ist, wird Stahl vor dem Versagen plastisch. „Die ansetzbaren Materialeigenschaften sind nicht direkt vergleichbar, so dass ich die Stahlbetonanalogie angepasst habe“, betont Sergej Rempel. Für das IMB führte er mehrere kleinteilige und größere Versuche, etwa zur Ecke zwischen Platte und Trogwand durch. „Das Geländer war ebenfalls ein etwas kniffliges Detail“, ergänzt Kay Unterer. „Auch diesen Anschluss haben wir mit Versuchen nachgewiesen.“ Sergej Rempel leitete auch den finalen Versuch: die Zerstörung einer ganzen Brücke. Ein Probekörper in Originalgröße wurde beim Hersteller Max Bögl zerstörend belastet. Viele kleine, fein verteilte Risse, wie erwartet im Biegezugbereich, zeigten, dass der Verbund zwischen Beton und Bewehrung gut funktioniert. „Man sah, dass das ganze Material ausgenutzt wird“, erklärt  Projektingenieur Unterer. Als Versagenslast hatte er 60 t berechnet. Die Brücke hat letztendlich bei 62 t versagt. „Damit hat sich gezeigt, dass unsere Modellierung ziemlich deckungsgleich mit der Realität ist“, freut sich Thors-ten Helbig. „Die Brücke brach zudem exakt an der Stelle, wo wir es berechnet hatten.“ Nächstes Ziel ist eine allgemeine bauaufsichtliche Zulassung für diesen Brückentyp. Solidian hat sie schon beim DIBt beantragt. Und dann steht der Vorstoß in den Straßenbrückenbau an. „Kein anderes Material ist besser für den Straßenbrückenbau geeignet als Carbonbeton“, meint dazu Christian Kulas. „Da ist noch nicht alles erforscht. Aber in fünf Jahren kann das anders aussehen.“ Thorsten Helbig ergänzt: „Für mich ist wichtig, dass wir schätzungsweise 1/3 bis 1/2 weniger Material als bei Stahlbeton brauchen würden. Wenn wir es schaffen, den Eigengewichtsanteil so deutlich zu reduzieren, generieren wir effizientere und nachhaltigere Tragwerke.“

Lebenszyklus

In Testversuchen konnte gezeigt werden, dass eine Carbonbewehrung vom Beton sortenrein getrennt werden kann. Im Labormaßstab konnte sie auch ein zweites Mal als Bewehrung für Betonbauteile verwendet werden. Eine Übertragung in den Industriemaßstab steht allerdings noch aus. Alternativ kann die Bewehrung klein geschreddert und als Kurzbewehrung verwendet oder thermisch verwertet werden.

Die Brücke erhielt den „Innovationspreis der Zulieferindustrie Betonbauteile“. Auch wenn es sich um ein kleines Projekt handelt – das Thema hat Zukunft. Carbon Concrete Composite C³ ist das derzeit größte deutsche Forschungsprojekt im Bauwesen mit zirka 45 Mio. € Fördermitteln. Auch Knippers Helbig bearbeiten das Thema weiter. Gerade haben sie einen Entwurf abgegeben, der das Brückenelement mehrfach verwendet, um einen größeren Bahnübergang zu gestalten. Achim Pilz, Stuttgart

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