Tanzen mit Charles Garnier
Opéra Garnier in Paris/F

An der Ostseite der Opéra Garnier in Paris, einem Mekka für Ballettliebhaber, hat sich ein modernes Phantom niedergelassen: eine weiß-rote Rauminstallation hinter gläsernem Faltenwurf – das Restaurant Opéra, ein Geschöpf der Architektin Odile Decq.

Wo sich um die Mittagszeit eilige Pariser ein „Menu du Marché“ einverleiben, hielten früher die Kaleschen der Herrschaften, die eine eigene Loge in der Oper hielten. Unter der segmentierten Steinkuppel mit ihren mächtigen Säulen und dem hinabragenden Schlussstein kam und ging die Haute Volée, der Charles Garnier im Jahr 1875 einen neobarocken Erbauungstempel und imposanten Repräsenta­tionsrahmen geschaffen hatte. Schon immer war ein Restaurant gewünscht, geplant und wieder verworfen worden. Bis Odile Decq die Aufforderung zum Tanz annahm.

Anschmiegen mit Distanz

Benimmregel Nummer eins im denkmalgeschützten, streng überwachten Nationalheiligtum: keine Berührung, bitte! Weder Decke, noch Säulen oder Wände, einzig der Boden darf mit dem modernen Implantat, einem Mezzanin, auf Tuchfühlung gehen.

Zweite Bedingung: die Glasfassade darf weder eine Tragstruktur aufweisen noch über die Stützpfeiler hinausragen. Zum dritten soll das so installierte Restaurant – vorläufige Lebensdauer zwanzig Jahre – bei Bedarf auch wieder komplett und ohne Spuren zu hinterlassen, demontierbar sein!

Die Architektin ließ sich dazu eine elegante Skulptur einfallen, deren fließende Formen dynamisch aus dem Boden wachsen, sich anmutig um Säulen biegen, an hohen Portalen vorbei, um, ganz nah der so neu erlebbaren Steindecke, frei im Luftraum auszuschwingen.

Das Fassadenglas scheint sich selbst zu tragen – Frau Decq spricht, passend zum „Phantom der Oper“, das hier seine legendäre Heimat hat, von Magie. Dieser Glasvorhang onduliert frei zwischen den Stein­pfeilern Garniers. Lediglich ein horizontales Stahlband setzt einen Akzent. Edelstahlstangen fixieren und verankern es auf sechs Metern Höhe in der Steindecke. Nur diese zwei formal sehr diskreten  Konstruktionselemente stabilisieren die gläserne Hülle!

Ihre Oberkante nimmt die stark wechselnden Konturen der Vorhalle mit ihren Bogenpfeilern auf und ist nahezu unsichtbar mit ihr verbunden. Unwirklich scheinen die Ein- und Ausblicke durch das gebogene Glas, das die Optik verzerrt.

Was trägt man? Weiß, Rot und ein bisschen Schwarz!

Die weiße Außenschale aus Gips, scheinbar aus einem Guss, fügte sich aus verschiedenen Elementen, teils vor Ort, teils im Werk gefertigt, innerhalb eines Jahres zusammen. Die Mezzaninuntersicht berücksichtigt mit ihren Wölbungen und Einbuchtungen akustische Aspekte. Ihre präzise definier­ten gebogenen Formen wurden fertig angeliefert, ebenso alle geraden seitlichen vertikalen Elemente der Aussenschale. Die Innenseite des Mezzanins ist eine Holzkonstruktion, vollkommen textil in Rot ausgekleidet mit  Polsterbänken entlang der Brüstung und Teppichboden, der über eine Treppe und eine Rampe gegenüber in das Erdgeschoss hinab in freie Formen zu fließen scheint. Die Farbe spielt auf die Oper und den bordeauxroten Samt ihrer Bestuhlung an, aber hier ist es ein frischerer, modernerer Ton. Vor allem auf der Mezzaninebene hat man die Wahl zwischen intimen und exponierten, repräsentativen Plätzen, die vertikale Polsterung nimmt den Gast je nach Situation mal in den Arm, mal setzt sie ihn in Szene.

Bis auf das Geschirr zeichnet das Büro ODBC für die gesamte Innenausstattung verantwortlich: Hinter der schwarz-glänzenden Bar am Eingang, die sich um einen Pfeiler windet, versteckt sich die Lounge mit Blick auf die modulierte Unterseite des Mezzanins. Durch die auf und abschwellenden Formen, das Tageslicht und die Stützen unsichtbar integrierte indirekte Beleuchtung entsteht ein nuanciertes Spiel von Licht, Schatten und Farbe. Eine rote Polsterschlange trennt diese Zone vom geschäftigen Treiben vor dem Glasvorhang.

Die schwarzbeinigen, rot gepolsterten Stühle wurden in Kollaboration mit dem italienischen Möbelhersteller Poltrona Frau gestaltet. Unter dem Namen „Phantom“ wird er auf der kommenden Möbelmesse vorgestellt werden. Das sehr bequeme Möbelstück drückt im Kleinen aus, worum es der Planerin vor allem geht: um Wohlbefinden! Alles Störende, wie Lärm oder zu star-
kes Licht, ebenso wie die Technik, die komplett im Mezzaninkörper verborgen ist, wurde verbannt. Trapezförmig geschnittene Tische ergänzt solo oder aneinandergereiht zu sanften Kurven die Innenarchitektur.

Wie im Ballett: Technik und Gefühl für präzise Bewegung

Wie aber bringt man die Formen zum Tanzen? Zuerst einmal ganz klassisch mit einem Skelett aus Stahl, das allerdings vorerst auf eine stützenden Hilfskonstruktion aus Beton gelagert wurde. Die erwähnten vorgefertigten Teile aus Gips und die innere Holzkonstruktion für die Brüstung wurden dann montiert. Die weiteren Arbeitsschritte basieren auf einer ungewöhnlichen Vielzahl von Schnitten. Um beispielsweise einen gewölbten Gipspfeiler zu konstruieren, fixierte man an einer Stahlstütze vertikal in definierten Abständen den Querschnitt aus geschnittenem Sperrholz, den das Element an dieser Stelle aufweist, so dass die Stütze von oben bis unten von Holzscheiben wie ein riesiges Designerregal eingefasst war. Diese Holzteile dienen als Distanzhalter zur Tragstruktur und bestimmen das Volumen der endgültigen Körper. Der Raum dazwischen ist hohl. Metalldrähte, vertikal mit Haften an den Stirnseiten der Holzquerschnitte befestigt, bildeten die erste Schicht eines metallenen Gewebes, welches dann von kartoniertem gelochtem Papier umhüllt wurde. Eine zweite Schicht, diesmal horizontal verlaufende Drähte, wurde fixiert und durch die Löcher im Karton mit der Ersten darunter verbunden. Die grobe Form, um die circa zwei Zentimeter starke Gipshaut aufzutragen, war so definiert. Der Gipsauftrag, das Modulieren, der nahtlose Übergang von den bereits installierten Elementen zu den vor Ort Entstandenen, das Schleifen und Glätten vor dem halbtransparenten Farbauftrag, der den Materialcharakter noch erkennen lässt – all das war Handarbeit! Die Arbeit der Fachleute erregt noch immer das Entzücken der Architektin: "Sie haben das tatsächlich alles mit ihren Händen gemacht. Das sind großartige Leute!", erzählt Odile Decq. Ihre Wertschätzung für gute Handwerker und Spezialisten erinnert an ein Interview aus dem Jahr 2007 in dem sie voll Respekt von den Schiffsbauern spricht, mit denen sie für die Ausstattung der über vierzig Meter langen schwarzen Segelyacht Esense zusammenarbeitete. Es war dieses Projekt, welches sie international bekannt machte.


Spannung und Harmonie: Ein Pas de Deux

Charles Garnier verwendete über dreißig verschiedene Sorten Marmor, um im Auftrag Napoleons III. Glamour herzustellen; Madame Decq setzt dafür Gips und Glas ein. Beide arbeiten, wenn auch in verschiedenen Maßstäben, mit dem Prinzip des kaschierten Metalltragwerks. Erstaunlich, die dabei zu Tage tretende Raumqualität einer umfunktionierten Vorfahrzone, ebenso wie die unbeschwerte, respektvolle und sehr moderne Bewegung der Architektur darin! Chapeau!

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