Switch House, die Tate-Erweiterung in London von Herzog & de Meuron

Eine schöne, eine irgendwie runde Zahl: 336 000. So viele Ziegelsteine benötigten die Bauleute, um die Fassade der New Tate Modern zu bekleiden. Und dabei setzten sie die dunkelbraunen Steine auf Lücke, webten gleichsam den Fassadenstoff zum Fassadenkleid à la Semper.

Der Entwurf des Erweiterungsbaus der Tate Modern stammt von Herzog & de Meuron, Basel, die auch schon die Tate Modern realisierten. 1995 gewannen sie den Wettbewerb für das zweite Stammhaus und hatten damit, wie Jacques Herzog in einem Interview mit der DBZ sagte, „den Fuß in der Tür zum internationalen Architekturgeschäft“.

Tate Modern, vorher die „Bankside Power Station“ und ein Kraftwerksbau des Architekten Giles Gilbert Scott, der auch das wesentlich bekanntere Kraftwerk, die Battersea Power Station, plante, wurde 2000 eröffnet. Herzog & de Meuron hatten den großen Ziegelbau von innen gestaltet, lediglich ein monumentaler Lightbeam auf dem Dach kündete, sehr dezent, von neuer Nutzung.

Schnell hatte das Museum Probleme mit Ausstellungs- und Serviceflächen, was einmal den rasant steigenden Kunstankäufen und zugleich den deutlich unterschätzten Besucherzahlen zu verdanken war. Tate Modern ist, wie vielleicht die Museumsinsel in Berlin, ein Muss für Touristen, für Kunstliebhaber sowieso. Insgesamt sind es mehr als fünf Millionen Besucher, die das Haus pro Jahr besuchen. Es sollte ein Erweiterungsbau her, das nun eröffnete „Switch House“, das die Ausstellungsfläche mit 20 000 m² um mehr als 60 % vergrößert. „Switch House“ nun
deswegen, weil der zehngeschossige Anbau dort am Kraftwerk steht, wo einmal die Transformatoren standen. Und ebenfalls dort,
wo unterirdisch riesige Öltanks standen, die schon 2012 zu multifunktionalen Räumen ausgebaut wurden. Über diesen Tanks schraubt sich der spitz zulaufende, pyramidale Turm noch über den Ziegelriegel am südlichen Themseufer empor, was jedem hier oben ein fantastisches Panorama über „inner London“ garantiert. Und auch Blicke in die direkt benachbart stehenden Luxuswohnprojekte wie das „Neo Bank Side“ von Rogers Stirk Harbour + Partners. An diesem wie weiteren Projekten sieht man, wie sich die Arbeit des Entwicklungsmotors, der die Tate Modern für die Southwark ja sein sollte, ausgewirkt hat: Der vor zehn Jahren noch schäbige, aber mit viel Potential gesegnete Borough hat sich – zumindest in den ersten Reihen (zur Themse) – zum Spielfeld für Spekulanten und Anleger verändert. Womit die versöhnende Wirkkraft, aber auch die Dynamiken des Unfertigen, Unscharfen in diesem Stadtteil gleich abgewürgt erscheinen.

Die Ausstellungsräume des „Switch House“ sind funktional und erinnern, wie schon die Behandlung der großen Tanks, an die Küppersmühle in Duisburg. Auch die aufwendige Planung der Treppen und Treppenhäuser, die mit Verschiebungen und gebrochenen Wegelinien arbeiten, lassen an ältere Projekte aus dem Basler Büro denken. Was allerdings nicht an die Vergangenheit erinnert, ist der Wechsel der Fassade von transparent zu geschlossen. Zeigten die ersten
Visuals noch eine Glashaut über einer aus wild gestapelten Räumen gebildeten pyramidenähnlichen Struktur, zeigt die Ziegelfassade nun ein Volumen, das konsequent nach außen geschlossen ist. Bis auf die schmalen, horizontal laufenden Fensterbänder, die Licht in die Vorräume, Treppenräume und Foyers bringen, erscheint der Bau monolithisch.
Dieser Wechsel ist, so Herzog & de Meuron, nicht einer Kostenfrage geschuldet. Die Architekten reagieren mit ihm auf die gläsernen Fassaden der schon angesprochen Luxusbauten in direkter Nachbarschaft, der sie sich hier nicht anbiedern wollten.

Von innen erscheint die Fassadenhaut
weniger geschlossen, mit dem richtigen Abstand organisiert unser leistungsfähiges Sehzentrum trotz aller Sichtbeschränkung immer wieder vollständige Bilder von der Außenwelt.

Mit dem Neubau wird nun endlich auch der spektakulärste Raum der Tate Modern in eine zentrale Position gerückt: Die so genannte Turbinenhalle erschließt jetzt ganz zentral sämtliche Ausstellungs- und Vortragssäle. Ihre gewaltigen Dimensionen werden durch einen unter dem Dach liegenden Verbindungssteg noch einmal und ganz anders sichtbar.

Mit dem Neubau ergreift die Tate die Chance, ihre weltgrößte Sammlung moderner Kunst in beiden Teilen des Museums ganz neu zu präsentieren. Im Neubau wird Kunst aus rund fünfzig Ländern der Welt gezeigt. Dass davon rund die Hälfte von Frauen stammt, ist im von Männer dominierten Kunstmarkt extrem ungewöhnlich und könnte als ein Zeichen dafür interpretiert werden, dass über den Brexit hinaus zumindest die Londoner nicht bloß weltoffen sind, sondern auch in der Frage der Geschlechtergerechtigkeit eine führende Position einzunehmen gedenken. Alles das sind Gründe, endlich wieder einmal ins Ausland zu reisen. Wer schnell ist, braucht vielleicht noch kein Visum! Be. K.

P. S.: Trotz zunehmender Tendenz Englands, in die niemals „splendid“ gewesene „isola-tion“ zurückzufallen, könnten Herzog & de Meuron demnächst noch ein Fussballstadion (Projektnr. 429, Stadion für den FC Chelsea) und ein Hochhaus (Projektnr. 404 One Wood Wharf) fertigstellen; beide Projekte natürlich in London!

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