Lebenszyklus Lehm
Ricola Kräuterzentrum, Laufen/CH

Je höher der U-Wert eines Materials, desto schlechter seine Wärmedämmeigenschaft. Klar! Doch was passiert, wenn ein Material einen schlechteren U-Wert aufweist als ein vergleichbares, ansonsten aber nachhaltiger ist als seine Konkurrenz? Überwiegend folgendes: Architekten und Planer verwenden das Material mit dem besseren U-Wert, damit sie Bauverordnungen einhalten und Energienachweise erfüllen. Nicht so beim Ricola Kräuterzentrum in Laufen in der Schweiz. Mit einer Life-Cycle-Impact Analyse (LCIA) überzeugten Herzog & de Meuron die Behörden von der Nachhaltigkeit der Stampflehmfassade.

Kräuterverarbeitung unter einem Dach
Nach dem Wärmeschutzgesetz des Kantons Basel-Landschaft dürfte es das Ricola Kräuterzentrum nicht geben – jedenfalls nicht mit einer Stampflehmfassade. Und doch, seit Mai diesen Jahres steht am Stadtrand von Laufen/CH das Ricola Kräuterzentrum mit ebendieser. Es vereint die gesamte Kräuterverarbeitung von Ricola unter einem Dach. Mit Maßen von 11 x 29,3 x 111,8 m schlugen Herzog & de Meuron (HdM) ein kompaktes Gebäudevolumen vor.

In der über zwei Geschosse reichenden Lagerhalle werden die Kräuter nun getrocknet, geschnitten, gemischt und gelagert. Das Gebäude ist teilweise unterkellert. Dort befinden sich die Anlieferung, das Förderband und ein Technikraum. Im Erdgeschoss sind alle relevanten Räume für die Kräuterverarbeitung untergebracht – zunächst getrocknet, werden die Kräuter ins Quarantänelager überführt, danach geschnitten und anschließend gemischt. Den Prozess durchlaufen jährlich ca. 1 400 t Kräuter – vom Südwesten in den Nordosten des Gebäudes. Dort befindet sich das Lager mit 12 Hochregalreihen. Die Nebenräume und ein Besucherzentrum auf einer Galerie, das Forum, fassen die Architekten in einem Riegel zusammen. Im oberen Geschoss erlaubt ein großes Panoramafenster den Blick in die Produktion. Ein weiterer Riegel gliedert den Lagerraum in die drei Segmente: der Vorbereitung, der Verarbeitung und der Lagerung der Kräuter.

Thermische und hygrische Analyse
Das Lagern von Kräutern für die Kräuterzuckerproduktion verlangt besondere raumkli­matische Bedingungen. Die Lagertem­­pe­­-­ratur darf 5 Grad nicht unterschreiten und
28 Grad nicht übersteigen. Zudem ist eine relative Luftfeuchtigkeit von < 50 % ganzjährig nachzuweisen.
Aus hygienischen, raumklimatischen und konstruktiven Gründen entwarfen HdM das Gebäude mit einer massiven, 45 cm dicken Stampflehmfassade. Um den Generalplaner von den Vorteilen einer Stampflehmfassade zu überzeugen und zur quantitativen Analyse der raumklimatischen und energetischen Vorteile des Stampflehms wandten sich HdM an Transsolar, Energieplaner aus Stuttgart.
Mit Hilfe von dynamisch-thermischen und -hygrischen Simulationen wies Transsolar den Temperatur- und Feuchtigkeitsverlauf nach sowie die Oberflächentemperatur der Bauteile. Des Weiteren empfahl Transsolar HdM, abgeleitet aus den Untersuchungen, thermisch aktivierte Bauteile für extrem kalte Winterperioden, die Nutzung der Abwärme der nahegelegenen Produktionshallen für eine Notbeheizung und -entfeuchtung sowie eine PV-Anlage auf dem Dach.

Spezielle Fassadenanalyse

Mit hygrischen und thermischen Simulationsmodellen belegte Transsolar zwar die glättende Wirkung des Lehms auf die Luftfeuchte und Raumtemperatur, jedoch lassen sich mit konventionellen Fassadenmaterialien wesentlich bessere Wärmedämmeigenschaften erzielen. In einer Studie verglich Transsolar anhand des Gesamtenergiebedarfs des Gebäudes eine Stampflehmfassade mit einer Kalksandsteinfassade mit
Wärmedämmverbundsystem und Sandwichpaneelen in Leichtbauweise. Das Ergebnis: Der U-Wert der Stampflehmfassade ist mit 1,7 W/m²K dreimal so hoch als die Werte der Kalksandsteinfassade und der Sandwichpaneelfassade in Leichtbauweise. Beide weisen, mit einem U-Wert von 0,5 W/m²K, deutlich bessere Wärmedämmeigenschaften auf.

Das Wärmeschutzgesetz des Kantons Basel-Landschaft schreibt auch für niedertemperierte Gebäude, wie das Ricola Kräuterzentrum, einen U-Wert der Fassade von max. 0,5 W/m²K vor, den die Stampflehmfassade bei einer Dicke von 45 cm mit 1,7 W/m²K nicht erfüllt.

Um dennoch die Sinnhaftigkeit des Stampf­­lehms gegenüber den alternativen Fassaden nachzuweisen, schlugen Transsolar eine LCIA vor. In sieben Punkten bewertet
die LCIA alle relevanten Umweltauswirkungen für den Lebenszyklus des Gebäudes in der Konstruktions-, der Nutzungsphase
inklusive Sanierung und der Rückbauphase – ganzheitlich und materialspezifisch. In die ganzheitliche Betrachtung fließen ebenfalls die materialimmanente graue Energie ein, sowie der Energiebedarf während einer 100 Jahre langen Nutzung.

PE International Stuttgart führte die Ana­lyse mit dem Ergebnis durch, dass für den Standort Laufen und den Gebäudetypus die ungedämmte, massive Stampflehmfassade die eindeutig nachhaltigste Fassadenvariante ist. Da sie in den 100 Jahren Betrachtungszeitraum nicht saniert werden muss und am wenigsten CO2 bei der Herstellung produziert. Das überzeugte, Bauherrn wie Behörden!

Konstruktion und Technik

Ebenfalls früh in die Planungsphase involviert war Martin Rauch, Lehmbauexperte aus Österreich, mit seiner Firma Lehm Ton Erde Baukunst (LTE). In verschiedenen Workshops entwickelten HdM, LTE und das Team gemeinsam mit dem Bauherrn die Fassade. „Dadurch, dass die Bauherrschaft auch in die Planungsworkshops eingebunden war und wir Vor- und Nachteile der Stampflehmfassade aufzeigten, konnten wir sie nach und nach von der Qualität des Materials und von der Seriosität der Planungsbeteiligten überzeugen und so das nötige Vertrauen schaffen,“ beschreiben HdM den gemeinsamen Prozess, der notwendig war, um den Bauherrn für ihre Idee zu begeistern.
Aufgrund der knappen Bauzeit von 15 Monaten entschied man sich Fassadenelemente vorzufertigen, da für die Montage nur die Monate zwischen April und Oktober in Frage kamen. Denn die Temperatur darf während des Versetzens nicht unter 0 Grad fallen. In einer nahegelegenen Farbikhalle schichtete und verdichtete Rauchs Team Lehm, Mergel und Kies zu 50 m langen Wänden, die sie in etwa 5 t schwere Elemente unterteilten und trocknen ließen.
Um die Fassade vor Erosion zu schützen, sind Fugen aus Traskalk mit eingestampft.
Es entstanden insgesamt 666 Blöcke, die auf der Baustelle zu einer selbsttragenden Fassade geschichtet wurden, indem sie über Ankerschienen miteinander verbunden wurden. Zur Stabilität sind die Stampflehm-Elemente in dem Stahlbeton-Tragwerk verankert, das weitgehend im Innenraum sichtbar bleibt. Auf jeder Seite durchbricht lediglich ein großes Kreisfenster mit einem Durchmesser von 5,5 m die Fassade.
HdM ist ein Gebäude gelungen, das ästhetische Ansprüche erfüllt und sich durch seine nachhaltige Herstellung auszeichnet – rezykliert man die Fassade des Kräuterlagers, bleibt hauptsächlich Lehm und Trasskalk – gedämmt ist nämlich nur der beheizte Teil des Gebäudes. S.C.
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