Konstruktive Emanzipation

Wie die Baukultur von Chancengleichheit für Frauen und Gleichstellung in Planung und Verwaltung profitieren könnte

Gebaute Umwelt betrifft uns alle im Alltag und beeinflusst Verhalten sowie auch die Möglichkeiten im sozialen und wirtschaftlichen Sinne. Es spielt eine wichtige Rolle, wer über die gebaute Umwelt entscheidet und sie plant. Frauen haben beeindruckende und bedeutsame Beiträge zu qualitätsvollerem, sozialerem und leistbarerem Lebensraum geleistet. Wie die Baukultur positiv von einer zukünftig gleichberechtigten Beteiligung von Frauen am Planen und Bauen profitiert, wird im Folgenden anhand von Praxisbeispielen und Einsichten aus der Forschung beschrieben.

Historische Beiträge

Frauen brachten seit dem 19. Jahrhundert wichtige frauenspezifische Alltagsperspektiven in die Planung der gebauten Umgebung ein. Sie entwickelten Konzepte, um Städte- und Wohnbau sozialer und alltagstauglicher zu machen und damit die Emanzipation zu fördern. Sie äußerten Kritik an bestehenden Raumsystemen und –strukturen und formulierten Ansätze zur Modernisierung.

Im Zuge der Ersten Frauenbewegung beabsichtigten Feministinnen in den USA eine Veränderung der Geschlechterbeziehungen durch eine radikale Hauswirtschaftsreform. Mary Stevens Howland und Alice Constance Austin konzipierten visionäre Siedlungen mit gemeinschaftlicher Haushaltung. In Europa entwickelten Frauen und Planerinnen zur Verbesserung der Lebens- und Wohnsituation von Frauen drei emanzipative Wohnreformmodelle: Lily Braun das Einküchenhaus zur Zentralisierung und Kollektivierung der Hauswirtschaft; Hausfrauenorganisationen der bürgerlichen Frauenbewegung die Rationalisierung von Einzelhaushalt und Küche sowie Wohnheime (z.B. Auguste Fickert in Wien) und Wohnungen für alleinstehende, berufstätige Frauen, denen das eigenständige Wohnen verboten war (z.B. Margarete Schütte-Lihotzky in Frankfurt). Im Wiederaufbau der Zwischenkriegszeit entwickelten Frauen neue Standards für den deutschen Siedlungs- und Wohnbau, welche die Alltagsanforderungen von Frauen berücksichtigten, wozu auch erstmalig Gemeinschaftseinrichtungen zählten.

In den Nachkriegsjahrzehnten kritisierten Frauen international die ideologiebehafteten Stadtplanungs- und Wohnbaustandards der Moderne sowie deren negative Auswirkung auf die Lebensverhältnisse von Frauen. Dazu zählten in den Niederlanden VAC Beratende Frauenausschüsse für den Wohnungsbau, in den USA Jane Jacobs und Dolores Hayden, in Deutschland feministische Planerinnengruppen und in England die Matrix Feminist Design Co-Operative. Sie konkretisierten die Wohn- und Alltagsbedürfnisse von Frauen und entwickelten bedarfsgerechte Raumkonzepte. Angestrebt wurde ein sozialer Städtebau mit vitalen Nachbarschaften, wohnungsnahen Versorgungsmöglichkeiten, öffentlicher Verkehrsanbindung sowie einer höheren Beteiligung von planenden Frauen. In Deutschland initiierten und realisierten Frauen autonome Frauenwohnprojekte, Wohngebäude für Alleinerziehende und für Wohnen im Alter. In Deutschland und Österreich wurden ab den 1990er-Jahren frauengerechte Modellwohnprojekte im öffentlichen Wohnbau initiiert und realisiert, unter anderem mittels rein weiblicher Architektinnen-Wettbewerbe.

Zeitgenössische Vorhaben

Seit 1998 ist auf europäischer Ebene die Umsetzung des Gender Mainstreamings festgelegt. Gen­der Planning gilt dabei als Leitprinzip für planende und bauende Disziplinen. Die Integration von Gen­der Aspekten soll in Planungsstrategien, Planungsprozessen sowie der Nutzung und Aneigenbarkeit von gebauter Umwelt erfolgen. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Recht von Frauen, mit ihren Bedürfnisse gehört zu werden, mitzubestimmen, gleichberechtigt teilzuhaben beziehungsweise von Expertinnen vertreten zu werden. Wegweisende Beiträge für soziale, alltagsgerechte Städte, die von Frauen in verantwortungsvollen Positionen in der Stadtplanung stammen, stehen hierbei beispielhaft und stellvertretend für viele andere:

1998 bis 2009 initiierte und lenkte die Stadtplanerin Eva Kail in der Stadt Wien, Magistratsdirektion Bauten und Technik, die Leitstelle für Alltags- und Frauengerechtes Planen und Bauen. Mittels Evaluierungen wurden genderspezifische Bedürfnisse in Stadtquartieren, im öffentlichen Raum, im Freiraum sowie im Wohnbau erhoben. Realisierte gendersensible Pilotprojekte waren Wegbereiter für Planungsprozesse und -standards, die heute im Handbuch „Gender Mainstreaming“ in der Stadtplanung und Stadtentwicklung von 2013 nachzulesen sind.

Ab den 2000er-Jahren verantworteten zwei Frauen maßgeblich die Aufwertung von New York: Amanda Burden, von 2002 bis 2013 Vorsitzende der Stadtplanungskommission und Direktorin der Stadtplanung, initiierte die Umzonung von 124 Stadtvierteln, die Schaffung neuer Wohn- und Gewerbeflächen sowie öffentlicher Uferbereiche und Parks wie den HighLine Park. Jeanette Sadik-Khan, Planungsstadträtin von 2007 bis 2013, ließ 60 öffentliche Plätze und 4 000 km Radwege schaffen und initiierte die Umgestaltung des Times Square zur Fußgängerzone.

Auch in Barcelona sind Frauen maßgeblich für die Gestaltung öffentlicher Bereiche unter Miteinbeziehung von Bewohnerinnen verantwortlich. Seit 2015 strebt die spanische Metropole unter der Bürgermeisterin Ada Colau mittels einer gendersensitiven, feministischen und intersektionalen Stadtplanung sowie demokratischen Prozessen in der Entscheidungsfindung einen sozialen urbanen Wandel an. Zu den Hauptakteurinnen zählen Col-Letiu Punt6, eine 2005 gegründete Kooperation von Architektinnen, Soziologinnen und Stadtplanerinnen. Mobilität aus einer weiblichen Perspektive zu betrachten, spielt in der Stadtplanung Barcelonas eine zentrale Rolle. Neue Superblocks mit verkehrsberuhigten Begegnungsbereichen in dicht bebauten Gebieten erlauben den Verkehr nur an ihren Rändern.

Auch Paris hat mit Anne Hidalgo eine Bürgermeis­terin, welche die Stadt radikal freundlicher für FußgeherInnen und RadfahrerInnen und zugleich unattraktiver für Autos macht. Das Einmischen von Frauen in die Mobilitätsdiskussion nimmt auch in Deutschland zu.

Eine Verknüpfung von wohn- und frauenpolitischen Angelegenheiten erfolgt seit 2018 im Gemeinderat der Stadt Wien durch die neu zusammengelegten Ressorts Wohnbau und Frauen unter Stadträtin Kathrin Gaál. Im Fokus stehen Alleinerziehende. Das initiierte „Wohnmodell für Alleinerziehende“ ermöglicht erschwingliche und innovative Wohnformen wie Klein- und Clusterwohnungen, Wohnheime und Übergangswohnungen samt Gemeinschaftseinrichtungen in geförderten Wohnungsneubauprojekten und erkennt „alleinerziehend“ als dringenden Bedarf in der Wohnungsvergabe an.

Diese Beispiele veranschaulichen, wie wichtig es ist, unterschiedliche Lebenswirklichkeiten in der Planung zu berücksichtigen und eine gebaute Umgebung zu schaffen, die von allen gleichwertig genutzt werden kann und für alle gleich qualitätsvoll ist. Dabei bedeutet Planen und Bauen für Frauen, ihre durch care-Verpflichtungen zumeist vielfältigeren Lebensalltage zu berücksichtigen. Dazu zählen Anforderungen an Mobilität, Stadtquartier und Wohnumfeld. Idealerweise werden Frauen mittels Partizipation in Planungsvorhaben eingebunden.

Wer wie plant, ist für alle von Bedeutung

Das belegt auch das 2020 veröffentlichte ‚Handbook for Gender-Inclusive Urban Planning and Design‘ der Weltbank. Das ultimative Ziel ist hier eine inklusivere wirtschaftliche und soziale Entwicklung und Geschlechtergleichstellung. Dahin führt nur eine nachhaltige, inklusive und geschlechtergerechte Stadtplanung. Diese ist laut der UN Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verpflichtend umzusetzen (UN, SDG 11). Dazu ist die volle Teilhabe von Frauen sowie Chancengleichheit verpflichtend (UN, SDG 5) und genderinklusive Planungs- und Designentscheidungsprozesse sind erforderlich.

Das männlich geprägte Berufsbild kann in hohem Maße davon profitieren, wenn es sich weiblichen Standpunkten, Praktiken und Erfahrungswelten öffnet. Eigenschaften, Kompetenzen und Erfahrungen von Frauen beeinflussen die Arbeitskultur, was sich speziell im Planungssektor positiv auf Prozesse und Projekte auswirken kann. Dazu gehören folgende Qualitäten, die im Rahmen einer Berufsfeldstudie in der Wohnungswirtschaft in Wien erhoben wurden (Riss, S., Lechner, C., Mundt, A., Amman, W.: „Frauen in der Wohnungswirtschaft. Karrierebedingungen, Erhöhung der Frauenrepräsentanz“, Wien 2019). Die Befragung von weiblichen Führungspersonen ergab folgendes Resümee: Frauen werden als kommunikativer, teamorientierter, weil auch hilfsbereiter, eigeninitiativer und verlässlicher eingeschätzt. Sie gehen mit mehr Ernsthaftigkeit an Aufgaben heran, agieren gewissenhafter und haben eine sehr hohe Einsatzbereitschaft. Ein größerer Frauen­anteil in Unternehmen, in der Führungs­ebene und in Teams verbessert die Kommunikation, Offenheit, Kreativität, Innovation und Produktivität. Zudem sind die Umgangsformen besser, auf KunndInnenbedürfnisse wird stärker eingegangen, der Output ist größer und Projekte werden wirtschaftlicher.

Ebenso werden Themen und Projekte ganzheitlicher betrachtet. Frauen sind prozessorientiert und intuitiv, emotionaler mit den Projekten verbunden, soft facts werden daher auch berücksichtigt. Schaffensqualität und Kreativität mit allen am Planungs- und Bauprozess Beteiligten sowie den NutzerInnen werden als wichtig erachtet. Im nachhaltigen Planen und Bauen geht es vermehrt um integrale Planung mit kooperativen Prozessen. Dafür weisen Frauen besondere Fähigkeiten auf wie das Einnehmen von Positionen anderer und das Ändern von vorgefassten Meinungen. Sie bringen differenzierte Betrachtungsweisen ein und wertschätzen ExpertInnenwissen mehr. Frauen bringen eine andere Sensibilität in Planung, Reflexion und Entscheidungsebenen ein.

Chancen einer nachhaltigen Entwicklung

Wenn die zunehmende Diversität von Städten sich daher eins zu eins in Planenden und Planungsverantwortlichen abbildet, die Komplexität der Realität eingefangen wird sowie mit alternativen Arbeitsweisen, Entwurfsprozessen und -methoden die Raumproduktion erweitert wird, kann eine sozial gerechtere gebaute Umwelt erzeugt werden.

Mehr Frauen in der Baukultur bedeuten daher auch mehr Lösungen für in der Planung unterrepräsentierte Themen und Probleme und damit einen nachhaltigen Einfluss auf die Umsetzung konkreter Bauaufgaben und städtebaulicher Verflechtungen. Gleichberechtigung ist daher nicht nur für Frauen eine Chance, sondern für die ganze Gesellschaft. Dies ist vor allem in Zeiten von Globalisierung und Klimawandel wichtig, um größere Nachhaltigkeit zu erzielen.

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