Ein Oscar für alle Fälle
Das neue Festivalhaus in Ravello darf nicht scheitern ­– könnte aber

Wie treffen sich Richard Wagner und Oscar Niemeyer, oder sollte man besser fragen, wo? Sie treffen sich an der Amalfiküste, diesem spektakulär schönen Küstenstreifen südlich von Neapel, der alljährlich Touristenmassen anzieht und mehr oder weniger gut verdaut. Der auch Antisemit und der auch Revolutionär treffen sich in Ravello, einem kleinen Küstenstädtchen rund 300 Meter über dem post­kartenblauen Meer. Denn Wagner ist es zu verdanken, dass in Ravello, in welchem manche Pasticceria oder manches Hotel Namen seiner Opernprotagonisten trägt, seit 1953 das schon weltbekannte Ravello-Festival alljährlich Musikkenner und Musikliebhaber anzieht. Und Oscar Niemeyer ist es zu verdanken, dass dieses Festival nach mehr als einem halben Jahrhundert nun ein Auditorium, eine Konzerthalle, endlich einen Ort erhalten hat. Mittlerweile ist das Festival so etabliert, dass ihm die Fixierung auf einen Ort nicht mehr schaden kann.

Initiator des Projektes waren der Präsident der Fondazione Ravello, Domenico De Masi, und weitere Festivalträger. Sie suchten und fanden in dem Brasilianer Niemeyer einen kongenialen Architekten. Das war um die Jahr­tausendwende. Erste Skizzen und erste Pressemeldungen von dem Projekt brachten allerdings professionelle und selbsternannte Landschaftsschützer in Stellung. Ihnen war der Niemeyer-Entwurf wie überhaupt jeder Neubau im sensiblen Landschaftsbild der Küste der Horror schlechthin. Doch übersahen sie dabei zweierlei, und die Gerichte, die zeitweise über den Projektfortgang zu entscheiden hatten, bestätigten diese Fehlsicht: Erstens ist die Küste seit ihrer Entdeckung als campania rustica durch römische oder neapolitanische Patrizier ganz und gar nicht mehr natürlich intakt sondern wunderbar dicht bebaut und bestens erschlossen. Zum zweiten hat die Einführung des Systems der Condono, also des systematischen Ablasshandels, die Region bereits so verändert, dass man sie nach dem von Silvio Berlusconi und seinen Mannen initiierten Ausverkaufs italienischer Eigenarten nicht wiedererkennen möchte. Und ausgerechnet in Ravello liegen dem Bürgermeister aktuell noch rund 800 Condono vor, mit welchen Bürger ihre genehmigungsunfähigen Neu- oder Umbauten nachträglich über eine geringe Strafzahlung legalisieren können.

Doch 2008 endlich ging es los. Im Januar 2010 wurde das Auditorium Oscar Niemeyer Ravello genannte Bauwerk eröffnet; mit Musik natürlich. Jetzt sollte der Neubau mit
Plätzen für rund 500 Zuhörer das Festivalprogramm aufnehmen sowie ein über das ganze Jahr verteiltes Programm zeigen. Sollte, denn urplötzlich gab die Gemeindeverwaltung das Konzerthaus für das Festival nicht frei. Streitpunkt zwischen dem Bürgermeisteramt und der seit 1953 bestehenden Fondazione Ravello sind offene Fragen der Nutzung des Neubaus und der Programmgestaltung. Ist damit gleich zu Beginn die Absicht De Masis unterlaufen, für die Città della musica ein Kulturbauwerk mit Signalcharakter in Ravello zu schaffen, das in der Lage ist, das Disparate des Städtchens auszusöhnen? Denn von Bau­typologien und -qualitäten in dem 2 000-Seelenstädten gibt es viele . Das neue Auditorium sollte hier Gravitationspunkt werden zwischen dem Dom und den Villen Rufolo und Cimbrone einerseits und dem vielfach selbstgezimmerten Bürgerhäusern andererseits.

Doch städtebaulich ist das Auditorium, ­für das Niemeyer seinen Entwurf der Stadt schenkte und zum Dank dafür Namensgeber der Musikhalle ist, ein ziemlicher Brocken. Wenngleich für Musikhäuser der heutigen Zeit ein recht bescheidener Bau, thront der monolitische, geweisste Ortbetonbau in einer Serpentine der Via della Repubblica und beherrscht sein Umfeld im Hang und den Blick auf diesen von unten herauf. Hier steht er verloren und wie vorübergehend abgestellt zwischen der übrigen, unspektakulären aber eben typisch italienisch authentischen Bebauung. Ein Eindruck, der sich verflüchtigt, betritt man den weiten Vorplatz, eigentlich das Dach der Garage und einiger Nebenräume. Hier wirkt der im Querschnitt halbelliptische Bau dynamisch, seine vollverglaste Eingangsfront unter dem nur auf der Hangseite zum Platz gezogenen Dach zeitlos schön. Ohne Umwege gelangt man über ein Minifoyer gleich in den langgestreckten Saal. Zum Hang hin sind die aufsteigenden Zuhörerreihen geordnet, zur steil abfallenden Küste die flexible Bühne. Bewegliche Böden, verschieb­bare, akustisch wirksame Raumteiler holen das Maximum aus dem Minimum heraus. Das aufs Meer gerichtete Fensterauge ist vom Bühnenrückraum verdeckt, doch in den Pausen oder nach der Vorstellung ist dieser Raum mit spektakulärer Aussicht klassischer Foyerraum.

Das Gebäude wurde – in Süditalien kaum möglich – von dem Camorra-unabhängigem Bauunternehmen, der Firma Edilatellana, errichtet. 18,5 Mio. € hat das Auditorium gekostet, zur Gänze von der EU finan­ziert. Doch wo der Streit über die Realisie­rung längst Geschichte ist – eine Auseinandersetzung über den Niemeyer-Entwurf selbst hat es nicht gegeben – birgt der Streit über die künstlerische Hoheit die Gefahr des Scheiterns auch der Architektur. Denn das Ziel, ein ganzjähriges Veranstaltungsprogramm auf die Beine zu stellen, ist in weitere Ferne gerückt: Das Winter-Festival ist in die Kathedrale des Nachbarorts Minori abgewandert; ein weiterer Veranstaltungsort des Festivals ist das Tasso-Theater von Sorrent.

Öffentliche Architektur muss mehr sein als sie selbst. Ihre Berechtigung ist gegeben, wenn ihre Architektur den Selbstzweck überwindet; oder sie wird zum – wie im 19. Jahrhundert – Paradoxon einer Bauruine von Anfang an. Für Ravello und die Musik möchte man das nicht hoffen; Oscar mag es egal sein, seine Welt ist die der schönen Kurven, und die hat er um eine vermehrt. Be. K.


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