Charlotte Perriand: Grand comfort
Nach der großartigen Ausstellung zu Friedrich
Kiesler und Walter Pichler im letzten Jahr nun eine große Schau zu Leben und Arbeiten von Charlotte Perriand. „L‘Art d‘habiter / Die Kunst des Wohnens“ ist die Schau in Krefeld betitelt und tatsächlich wird uns das geboten, was wir vielleicht nicht mehr sehen wollten, insgeheim aber vielleicht erhofften: Glanz und Gloria des Ikonischen im 20. Jahrhundert.
Ich gestehe es gleich zu Beginn: Ich bin auch nach Krefeld gereist, um einmal in meinem Leben auf diesem Sessel Platz zu nehmen, dem „Fauteuil grand comfort, grand modèle“. Längst ist dieser Ur-Sessel – ein Entwurf Charlotte Perriands von 1928 – als „LC2“ zu einem teuren Vorzimmerrequisit einer gediegenen Kanzlei, ein domestiziertes Massenmöbel für Architektur-, Design-Aficionados geworden. Sein Leder hat glatt zu sein, das Rohrgestänge blankes Chrom. Charlotte Perriands Grand comfort dagegen: lackiertes Rohr, das Leder der eher wulstigen, kissen- nicht flächenähnlichen Auflagen ist beinahe noch lebendig, in Bewegung. Die Kissen scheinen mit ihrem Stahlrohrrahmen sehr sanft und doch bestimmt und andauernd zu kämpfen. Und, sehr wesentlich: der Prototyp, der, mir direkt gegenüber, zum Hineinsetzen geradezu aufzufordern scheint, ist leicht nach hinten gekippt! Diese Erwartungshaltung eines Möbels ist derart nicht umgesetzt und gerade im Vergleich zu seinen bis heute produzierten Nachfahren ist mir dieser Kippwinkel ein anrührendes Zeichen des Willkommenseins.
Tatsächlich erkundigte ich mich bei den Museumsmitarbeiterinnen, ob ein Platznehmen und kurzes Verharren möglich sei. Die entgeisterten Blicke, mit denen meine Frage stumm kommentiert wurden, waren Antwort genug; ich ließ es.
Was wir insgeheim erhoffen, hören wir den Namen der französischen Architektin und Gestalterin Charlotte Perriand (1903–1999), sind genau diese Begegnungen. Einmal vis-a-vis der Möbel und Rauminteriors stehen, die bis heute und weltweit die Sammler zu Tränen und die Käufer in den Ruin treiben. Nicht allein die (teils) Original-Möbel – so ja auch die ebenfalls vor Ort seiende Liegen-Ikone „Chaise longue basculante“, oder „LC4“ –, auch Fotografien, Leuchten, Architektur und textile Kunst, Zimmerarrangements und Zeichnungen, Skizzen und ein längeres Film-Interview sind in Krefeld anzuschauen, anzuhören, anzufassen … Nein, das Letztere eben leider nicht; oder nur bei ausgewählten Dingen, die einer der Hauptleihgeber und Sponsoren, die Firma Cassina, zur Verfügung gestellt hat inklusive Platznehmens (auf den neuen Möbeln im Nachbau der Interieur-Herbstausstellung von 1929, „L‘équipement intérieur d‘une habitation“).
Auf drei Häuser aufgeteilt
Die Fülle des Materials, die im Kaiser Wilhelm Museum allein nicht untergebracht werden konnte, durfte in die Häuser Esters und Lange gleichsam hinüberschwappen. Zu dritt bilden die his-torischen Institutionen mit durchaus kontroverser architektonischer Herkunft die „Kunstmuseen Krefeld“. Thematisch gegliedert zeigen die beiden Mies-van-der-Rohe-Häuser Charlotte Perriands Verständnis vom Gesamtkunstwerk auf dem Hintergrund ihrer Aufenthalte in Japan, Indochina und Brasilien. Hier überrascht den oberflächlich informierten Verehrer die offenbar freundschaftliche Zusammenarbeit der Gestalterin mit dem Maler Fernand Léger und dem japanisch-us-amerikanischen Bildhauer Isamu Noguchi (Haus Lange).
In Haus Esters wird das Werk Charlotte Perriands nun endlich (weil letzte Station der Ausstellungsreise in Krefeld) durch ausgewählte Positionen der modernen und zeitgenössischen Kunst kontextualisiert, was teils allerdings auch ein wenig schräg gerät oder an den Haaren herbeigezogen, vielleicht weil die „Highlights aus der Designsammlung der Kunstmuseen Krefeld“ eben nicht auf den ersten und zweiten Blick eine tragbare Brücke zwischen den Gestalterinnenwelten schlagen. Überhaupt ist die Dreiteilung eher eine Zweiteilung zwischen Haupthaus am Josef-Beuys-Platz und den beiden benachbarten Villen in der Wilhelmshofallee. Etwa 3 km Fußweg liegen zwischen dem Wilhelminischen und der Ziegel-Moderne, man kann aber – so am Infotresen – den Bus nehmen, das reduziere die Gehzeit auf etwa 12 Minuten.
Was aber zu verbinden ist, was wie selbstverständlich eine Einheit bildet, ist die Architektur der Mies-Villen aus den Jahren 1928/29 mit den Möbeln, mit der Kunst, mit dieser ganzen Idee von einer neuen Zeit. Hier die Reibungspunkte, hier die Spinnfäden zwischen Berlin und Paris zu sehen und sie körperlich spüren zu können, das allein macht die Bespielung der beiden Häuser im Perriand-Kontext extrem wertvoll.
Charlotte und Le Corbusier
Angedeutet war es schon, dass das Verhältnis zwischen dem Meister und Charlotte Perriand das war, das Le Corbusier mit allen Frauen hatte: Er konnte sie nicht als gleichwertige Gestalterinnen anerkennen, der Architekt war ein konservativer Avantgardist. Als sich Charlotte Perriand 1927 im Atelier Le Corbusiers vorstellte, soll dieser der Legende nach zunächst ablehnend reagiert haben: Man besticke bei ihm keine Kissen, warum also solle er sich der Könnerschaft einer jungen Frau versichern?! Doch dann sah er auf einer Ausstelllung im „Salon des artistes décorateurs“ erste Möbelentwürfe von ihr und ahnte wohl, dass Charlotte Perriand wertvoll für sein eigenes Werk sein könnte. Sie wurde eingestellt und der Meister übertrug ihr die Verantwortung für – richtig! – den Bereich Inneneinrichtung. Neben dieser Arbeit absolvierte sie eine Ausbildung als Architektin (als größeres Architekturprojekt kamen die Bauten im Wintersportgebiet Les Arcs Ende der 1960er-Jahre).
Mit LC und seinem Cousin Pierre Jeanneret entwickelte sie die Möbel, deren erste Skizzen möglicherweise auf LC zurückgehen, deren Detaillierung über technische Zeichnungen und deren Ausführungsdetail sowie die Materialisierung bei ihr lagen. Zunächst wurden alle drei noch als Entwerfer genannt, Perriand an der Spitze (so beim Patent für die LC-Liege „Chaise longue basculante“). In den Folgejahren und Jahrzehnten wurden die drei Namen in ihrer Reihung verändert. Heute ist meist nur noch LC der Verfassername/die Typenbezeichnung.
Ob diese durchaus nicht Einzelfall seiende Grenzverletzung, die Übergriffigkeit des Meister (s. auch LCs nichtbestellte Wandmalereien in Eileen Greys Villa E.1027) Charlotte Perriand veranlassten, das Atelier Le Corbusiers Anfang der 1940er-Jahre zu verlassen, ist noch nicht untersucht. Wie überhaupt das Biografische Charlotte Perriands in Krefeld stark hinter ihre Arbeiten zurücktritt. Allenfalls der Film von Jacques Barsac, „Charlotte Perriand. Den Lebensraum im 20. Jahrhundert gestalten“ von 1985, der in Krefeld gezeigt wird, könnte aus den Äußerungen Perriands hier und da Vermutungen, vage Rückschlüsse zulassen. Im Film erscheint die Frau – hier in den frühen Achtzigern – sehr resolut, auf sich selbst fokussiert und nur sehr wenig geöffnet bezüglich persönlicher Dinge.
Aktualität
Die Frage, ob denn eine – in Deutschland erste große Perriand-Retrospektive – Ausstellung zum Werk einer Ikone der Moderne in diesen Zeiten noch aktuell sei, will ich mit Ja beantworten. Denn über das sinnliche Erleben der in Krefeld nachgebildeten Interiors, der seltenen Möglichkeit, zahlreichen Möbeloriginalen sehr nahe gegenüberzustehen, abgesehen von diesem Erlebenkönnen weisen viele Aspekte des Werks auf heutige Problemstellungen (Ressourcenverbrauch). Mit „Cellule“ von 1929 sehen wir Gestaltungsstrategien, die wir heute wieder verfolgen: Die neue Typologie unserer Lebensräume beschreibt sie mit „auf das Wesentliche reduziert“, Modularität erlaubt Nutzungsweite und die Senkung der Produktionskosten.
Ihrer auf Effizienz getrimmten und als universell verstandenen „Wohnzelle“ fehlt möglicherweise ein Hauch Biedermeier, den wir heute über Lehm- und Holz- und Textiloberflächen zurückgewinnen. Die GFK-Schalen, die Küchen als Modul aufnehmen, die durchgehende Präzision und Oberflächenperfektion kommt sehr offensichtlich aus dem Regelsetting des CIAM und vergleichbarer radikaler Foren, die gänzlich und für immer mit dem Vergangenem brechen wollten.
Allerdings wird der stringente und auf Lebens-umstandsbewältigung zielende Ansatz der Moderne auch im Werk Charlotte Perriands zunehmend gebrochen. So wirkt das von Studentinnen der TUM nachgebaute „Refuge Bivouac“, eine Schutzhütte für die Berge aus den späten 1930er-Jahren (zusammen mit dem Ingenieur André Tournon) mit seiner rohen Möblierung wie ein Fremdkörper in der Ledermöbelsitz- und Glastischlandschaft. Begleitet von Fotografien der jungen Frau, die die Natur feiert und offenbar auch sich selbst, steht die mit Aluminium verkleidete Holzkiste auf dem imaginären Berggipfel, der eine Natur verkörpert, deren Reinheit auch für Farben und Formen ihrer Entwürfe steht.
Mehr Farbe, mehr Textil, mehr Struktur finden wir in den späteren Arbeiten, die teils von den Reisen nach Japan oder nach Asien beeinflusst sind und zurückkehren zur Idee vom „Fauteuil grand comfort“, der uns allen zu sagen scheint: „Nehmt Platz und bleibt etwas länger.“ Was man unter die Ausstellung in Krefeld insgesamt schreiben möchte.
Benedikt Kraft/DBZ
Die Ausstellung „Charlotte Perriand. L’Art d’habiter / Die Kunst des Wohnens“ läuft noch bis zum 15. März 2026 im Kaiser Wilhelm Museum, Haus Esters, Haus Lange, www.kunstmuseenkrefeld.de, eine Kooperation der Kunstmuseen Krefeld mit dem Museum der Moderne Salzburg und der Fundació Joan Miró, Barcelona. Kuratiert von Katia Baudin mit Waleria Dorogova, mit besonderer Unterstützung von Pernette Perriand-Barsac und Jacques Barsac von den Archives Charlotte Perriand. Ein Katalog soll Anfang 2026 erscheinen. Das Haus bietet neben Führungen auch Workshops an (u. a. „Perriand interaktiv erleben“)
