Es muss nicht immer der Neubau sein

Architekturlehre im Wandel: Plädoyer für mehr Interdisziplinarität, Open Source und Bestandsbauten

Ein kreativer Umgang mit dem Bestand und das Wissen um zirkuläres Bauen sollte in der Ausbildung von Architektinnen und Architekten eine stärkere Rolle als bisher spielen. Vorbei die Zeiten der vorgefertigten Lösungen. Gefragt sind künftig inter- und transdisziplinär denkende Studierende mit dem Mut, Bestehendes zu hinterfragen. Und Professorinnen und Professoren, die fächerübergreifend Projekte auch mal über mehrere Semester hinweg wachsen lassen. Einziges Manko: Der oftmals zu starre, linear aufgebaute Lehrplan an deutschen Architekturhochschulen steht dem noch zu häufig entgegen. Doch es geht auch anders, wie diese Beispiele zeigen.

„Architekturlehre bereitet Studierende auf die Zukunft vor und die versuchen wir aus der Gegenwart zu antizipieren“, sagt Prof. Marco Hemmerling und benennt damit gleich das Grundproblem. Er lehrt an der TH Köln das Fach Computational Design in Architecture. „Wir befinden uns in einer Zeit, in der sehr viele Transformationsprozesse auf uns einwirken, wie im Themenkomplex des Klimawandels verbunden mit der Frage, wie wir mit unseren Ressourcen umgehen.“ Auch Digitalisierung gehöre zu diesen Megatrends, die die Gesellschaft und damit auch die Architektur verändern. Wir müssen den Nachwuchs vorbereiten, Lösungsansätze und Strategien für die komplexen Fragestellungen der Zukunft zu entwickeln. Dabei gebe es keine vorgefertigten Lösungen. Vielmehr müssten die Studierenden Prozesse gestalten können.

Immer im Blick dabei: der Umgang mit dem Bestand und der Ressourcenverbrauch. Von der Planung an müsse das zirkuläre Bauen, das Denken in Kreisläufen und die Frage nach Suffizienz beachtet werden. „Was brauchen wir wirklich, was wird künftig nicht mehr benötigt und was wird anders genutzt werden?“ In Zeiten von sich durch die Digitalisierung veränderten Arbeitsbedingungen seien das virulente Fragen, die neu verhandelt werden müssten.

Veränderungen in der Ästhetik

Dabei dreht der Umgang mit dem Vorhandenen den Entwurfsprozess unter Umständen um: Welche Baustoffe sind überhaupt verfügbar, um einen Entwurf umzusetzen? Online-Datenbanken zur Wiederverwendung von Baumaterialien, wie Concular und Madaster, sollten hier künftig eine noch größere Rolle spielen. Die Aufmerksamkeit für zirkuläres Bauen scheint zumindest da zu sein: So wurde das Materialkataster Madaster am 24. November mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2024 in der Kategorie Bauindustrie ausgezeichnet, während Concular den Next Economy Award des Deutschen Nachhaltigkeitspreises erhielt.

„Design by Availability“, also das Entwerfen vor dem Hintergrund begrenzter Verfügbarkeiten von Ressourcen, Rohstoffen und Second-Hand-Materialien, stelle andere Anforderungen an den Entwurfsprozess als an das bisherige Planen, bei dem davon ausgegangen wurde, dass alle Materialien zu jeder Zeit verfügbar sind. „Das geht auch mit Veränderungen in der Ästhetik einher“, sagt Hemmerling, so wie jede neue technologische Entwicklung auch auf die Erscheinung der Architektur wirkt. Ihm sei wichtig, ein kritisches Verständnis bei den Studierenden zu entwickeln und Diskussionsräume zu eröffnen. Unterschiedliche Meinungen könnten hier nur befruchten.

Modellhäuser zum zirkulären Bauen

Der Einsatz digitaler Methoden, Interdisziplinarität und Open Source-Projekte können das zirkuläre Bauen voranbringen, ist Hemmerling überzeugt. So entstanden bei ihm am Lehrgebiet gerade zwei Modellhäuser aus Holz. „Mit unseren Modellhäusern zum zirkulären Bauen zeigen wir, wie sich nachwachsende und kreislauffähige Baustoffe sowie flächensparende Konstruktions- und Bauweisen mit digitalen Prozessen verbinden und vorantreiben lassen“, erklärt Hemmerling. Das Ziel des Realisierungsprojekts: Mit Hilfe eines computergestützten Entwicklungs- und Fertigungsprozesses sollen Privatleute in der Lage sein, mit standardisierten Holzwerkstoffen und automatisiert erzeugten Bauteilen Holzhäuser in Eigenleistung bauen zu können.

Die beiden Modellhäuser bestehen aus einer modularen Holzbaukonstruktion, die als Eigenbausystem konzipiert ist und auf einer durchgängig digitalen Entwurfs- und Produktionskette basiert. Von der parametrischen 3D-Planung, über die CNC-gesteuerte Bauteilfertigung bis zur Aufbauanleitung werden die Informationen über ein digitales Bauwerksmodell generiert und allen Projektbeteiligten über eine Open Source-Plattform zur Verfügung gestellt.

Das erste Haus mit einem diagonalen Schrägdach steht für einen ökologischen Ansatz und setzt auf 25 m² Grundfläche auf natürliche Materialien wie Holz und Lehm sowie ein Gründach und einen minimalen Einsatz an Haustechnik. Das zweite Haus, das mittels zwei ineinander verschränkter Kuben mit Flachdach konstruiert wurde, präsentiert auf der gleichen Fläche ein technologiebasiertes Konzept mit Smart Home-Installationen und einer Heizungskombination aus neuartigen Fassaden-­Solarflachziegeln, PV-Dachmodulen, Kühl- und Heizdeckensegel sowie einer Wärmepumpe.

Die Modellhäuser wurden im Oktober bei den BIM-Tagen 2023 mit dem Green-BIM Award in der Kategorie „Planung von Hoch- und Tiefbau“ ausgezeichnet. Insgesamt waren neben Prof. Marco Hemmerling und seinem Wissenschaftlichen Mitarbeiter Max Salzberger auch Prof. Dr. Arne Künstler, Prof. Ulrich Graffelder, Konstantin Holz, Jan Hennen und Peter Hartenstein von der Architektur-Fakultät der TH Köln an dem Erfolg beteiligt.

Die Experimentalgebäude wurden im Rahmen des EU-Förderprojekts Bergische Rohstoffschmiede am Standort :metabolon des Bergischen Abfallwirtschaftsverbands in Lindlar bei Köln gebaut. Mit Unterstützung der CNC-Tischlerei Bächer Bergmann GmbH und in Kooperation mit Auszubildenden der Handwerkskammer zu Köln wurden damit die ersten beiden Prototypen von insgesamt fünf geplanten Häusern realisiert. Der Clou dabei: Studierende und Auszubildende arbeiteten von Beginn an Hand in Hand und lernten so eine Menge voneinander. Neben der Fakultät für Architektur war auch die Fakultät für Bauingenieurwesen und Umwelttechnik der TH Köln mit der Entwicklung eines parametrischen Gebäudekonfigurators und der Durchführung von statischen Tests mit an Bord. Hemmerling: „Das war eine großartige Kooperation.“

Dem Realisierungsprojekt liegen in der Lehre drei Strategien zu Grunde: Zunächst benötigt es Design Thinking-Workshops, um möglichst viele Ideen in kurzer Zeit zu generieren. Dann folgt ein forschungs-orientierter Entwurfsschritt im Sinne des research-based Design, bevor die Studierenden in Design Build-Projekten ihre Ideen mit der Realität konfrontieren – immer vor dem Hintergrund eines offenen und disziplinübergreifenden Austauschs. Das Wissen zu teilen und ein Fortschreiben von Ideen über mehrere Semester hinweg ist Hemmerling wichtig. Und das sei eben nur mit Open Source möglich. „The power of the many“: Inter- und transdisziplinäre Arbeit führe zu Wertschätzung der eigenen Arbeit und der Ideen der anderen. So war die Zusammenarbeit mit den Tischlerei-Azubis und Bauingenieuren bei der Realisierung der Modellhäuser von unschätzbarem Mehrwert.

Semesterübergreifende Projekte

Bis Ende 2025 sollen drei weitere Modellhäuser hinzukommen. Während die ersten beiden Häuser sich den Nachhaltigkeitsthemen Technologie und Ökologie widmen, folgen dann Gebäude zu den Themen Administration, Gesellschaft und Ökonomie. „Die Häuser sind ein Beispiel, das gut zeigt, wie gesellschaftliche Fragestellungen mit digitalen Methoden in architektonische Lösungen überführt werden können“, so Hemmerling.

Fest steht aber auch: So eine projektbezogene Lehre steht dem linearen, additiven Curriculum an deutschen Hochschulen oftmals entgegen. Die Modellhäuser zum Beispiel gehen auf eine Masterthesis von Hemmerlings Mitarbeiter Max Salzberger aus dem Jahr 2018 zurück und wurden seither semesterweise vorangetrieben. Nur so sind solche Realisierungsprojekte im akademischen Kontext möglich. Hemmerling: „Wir brauchen mehr Formate, in denen unterschiedliche Themen zusammenkommen!“ Mehrere Lehrende in integrierten Projekten. Dafür sind Blockveranstaltungen wie eine Summer School oft besser geeignet als das allwöchentliche Seminar. Eine weitere Erkenntnis: Schulisches Denken, dass es die eine richtige Lösung gibt, bringe uns bei den heutigen komplexen Fragestellungen nicht weiter, ist Hemmerling überzeugt.

Werteeinschätzung für den Bestand

Ortswechsel zu Prof. Dr.-Ing. Linda Hildebrand von der RWTH Aachen. Dort hat die Architektin eine Juniorprofessur für das Lehrgebiet Rezykliergerechtes Bauen inne. Sie wünscht sich angesichts von Klimakrise und digitaler Transformation eine Architekturausbildung, die für ihren Lehrbereich aus zwei Teilen besteht: Zum einen brauche es ein Grundlagenwissen zur Umweltwirkung, so dass eine gewisse Sensibilität vermittelt wird gegenüber den Bereichen Design und Konstruktion. Und dann gebe es noch ein Spezialwissen, das je nach Interesse vermittelt werden könnte. Dort sollten Werkzeuge und Methoden erlernt werden, um die Umweltwirkung eines Gebäudes zu berechnen. Wichtig wäre auch: den Bestand lesen zu lernen – in kultureller, ökonomischer und ökologischer Hinsicht, „so dass es dafür eine Werteeinschätzung gibt.“

Landmarks tauen nicht als Vorbilder

Derzeit habe sie den Eindruck, dass dies an den Architekturhochschulen noch nicht genügend stattfinde. „Es gibt zwar Positivbeispiele, aber das geschieht noch nicht flächendeckend“, so Hildebrand. Es gebe vor allem Baukonstruktionslehrstühle, die diese Themen in die Grundlehre miteinbringen. Auf der anderen Seite gebe es einzelne Institute, die das im Fokus haben. Aber: „Wir brauchen das als Standard in der Grundlehre.“ So wie die Energie­effizienz irgendwann neu war, brauche es jetzt Leute an den Architekturhochschulen, die die Themen rund um das zirkuläre Bauen vertreten.

„Wir erfahren gerade, dass es ganz dringend eine Bauwende braucht“, sagt Hildebrand. Es seien ohne Frage Meisterwerke in der Vergangenheit entstanden, aber: „Diese Landmarks taugen nicht als Leuchtturmprojekte unter Berücksichtigung der planetaren Grenzen.“

Es änderten sich Parameter, Prozess und die Haltung gegenüber dem Bestand. Ein Weiterschreiben am Historischen spiele eine große Rolle in der Vermittlung der Werte. Ein Beispiel, dass ihr dazu einfällt: Bei der EU-Vertretung in Brüssel wurden verschiedene Fenster aus den verschiedenen EU-Ländern eingebaut. „Der Wert, der darin steckt, der könnte uns auch ökologische Potenziale erschließen lassen.“

In den letzten 150 Jahren ist viel passiert im Bauen. Sie sei dankbar dafür, was wir da erforscht haben. „Wir haben inzwischen einen hohen Anspruch an Raumkomfort“, sagt Hildebrand. Doch genau das müsse jetzt neu verhandelt werden. Es sei immer ein Abwägen von Ökologie und Komfort. Die Themen der Energieeffizienz sind bereits gut in der Lehre verankert, während die Themen der Gebäudesubstanz noch neuer seien. „Das ist auch eine Frage für den Entwurf“, ist Hildebrand überzeugt.

Klar ist aber auch: Nicht jedes Gebäude lohnt, in alle Einzelheiten zerlegt zu werden. Sinnvoller sei es manchmal, einzelne Komponenten herauszunehmen. „Das ist sehr klar ein Bedarfsmarkt“, sagt Hildebrand. Denn ein langes Lagern sei zu teuer. Bauteilbörsen würden stark kuratiert oder bieten on demand an. Am Ende müssten auch bei der Zirkularität Aufwand und Nutzen gegenübergestellt werden – Wert, Information und Ressourcen müssen zusammen passen.

Zu großer Stellenwerk des Neubauentwurfs

Ein anderer Ansatz ist es, die Lebensdauer eines Gebäudes zu verlängern. „Wir sollten eigentlich von vornherein vermeiden, dass etwas Müll wird“, sagt Prof. Dr.-Ing. Uta Pottgiesser. Sie lehrt Baukonstruktion und Baustoffe an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe sowie Heritage & Technology an der TU Delft (NL). Außerdem setzt sie sich als Vorsitzende von Docomomo International für den Erhalt von Bestandsgebäuden weltweit ein. „Das Wissen, wie man mit Bestand umgeht, ist scheinbar zurückgegangen“, hat sie beobachtet. Oft seien ältere Gebäude nicht gut gepflegt worden, so dass der Schritt zum Abriss dann nicht mehr weit sei. Es erfordere Fachkenntnisse bei Architektinnen und Architekten genauso wie bei den ausführenden Firmen, um angemessen auf die Bestandsbauten reagieren zu können.

Wie gehe ich mit der Konstruktion um, wie mit Baumängeln? Welche Empfehlungen kann ich Bauherren geben, die aus Kostengründen selbst Hand anlegen möchten beim Umbau? Auch dies könnten verstärkt Themen der Ausbildung an den Hochschulen sein.

Allgemein nimmt der Wohnungsbau laut Pottgiesser noch nicht genügend Raum in der Architekturlehre ein. „Wie macht man einen guten Grundriss auf einer kompakten, kleinen Fläche – auch das muss gelehrt werden.“ Der immer noch große Stellenwerk des Neubauentwurfs hat auch mit dem Bild des Architekten in unserer Gesellschaft zu tun als einer kreativen Person, die etwas Neues schafft. 80 Prozent unseres benötigten Gebäudebestands ist aber bereits gebaut. „Doch der Großteil der Lehre setzt sich immer noch mit dem Neubau auseinander“, kritisiert Pottgiesser. Den wertschätzenden und kreativen Umgang mit dem Bestand müsste jeder Studierende zumindest einmal in seinem Studium verpflichtend im Curriculum stehen haben.

Nachhaltigkeitszertifikate kennenlernen

Dazu müssen sich laut Pottgiesser aber auch die Vorgaben der Politik ändern. Bestandsumbauten mit Neubauten gleichzusetzen, könne da nicht zielführend sein. Vielmehr müsse das Bauen im Bestand finanziell wie energetisch in einem angemessenen Rahmen ermöglicht werden. „Studierende sollten dann auch die Grundlagen von Zertifikaten z. B. der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen  (DGNB) oder von Europäischen Produktdeklaratio­nen (EPD) im Studium lernen“, sagt Pottgiesser.

Entscheidend aber ist, dass in der Praxis auch tatsächlich nachhaltiger gebaut wird. In der Schweiz ist Recyclingbeton schon lange Standard, während man in Deutschland noch daran forscht, sagt Pottgiesser. Hier seien auch Politik und Gesellschaft gefordert. 

Letztlich ist Docomomo International, deren Vorsitzende Pottgiesser ist, genau deshalb 1990 gegründet worden, um Bauten und Siedlungen der Moderne mehr Wertschätzung zukommen zu lassen und sie zu erhalten. Auch eine frühe Form von Nachhaltigkeit.

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