C2C bedeutet, den menschlichen Fußabdruck zu feiern

Prof. Dr. Michael Braungart ist soetwas wie eine lebende und sehr lebendige Legende. Seit Jahrzehnten kämpft der studierte Chemiker und praktizierende Forscher in Sachen Baustoffe und Kreislaufwirtschaften auf allen Kanälen in der Provinz und der ganzen weiten Welt für eine C2C-Gesellschaft. Der ist dann das von ihm und dem amerikanischen Architekten William McDonough erarbeitete Cradle-to-Cradle-Konzept in Fleisch und Blut übergegangen. Von der Wiege zur Wiege zu leben heißt bei ihm – der eine Professur an der Leuphane Universität innehat –, das von der Natur praktizierte und vom Menschen gestörte Gleichgewicht in Sachen Stoffkreisläufe zurückzuholen. Zum Wohle der Natur? Eher zum Wohle der Menschheit, die längst dabei ist, über ihre Möglichkeiten zu leben. Michael Braungart gibt sich unversöhnlich, strahlt zugleich Empathie und die Zuversicht aus, dass wir es doch noch schaffen können..

Das nachfolgende Gespräch ist die verkürzte Wiedergabe unseres DBZ der Podcast, das wir mit Michael Braungart machten. Das Podcast finden Sie auf DBZ.de

Lieber Michael Braungart: „Ein Haus wie ein Baum“, der Titel eines Beitrags von Ihnen, das klingt nach Erdung, nach nachhaltigem Wirtschaften sowieso und irgendwie auch nach einem Märchen. Was kann ich mir unter Ihrem Baumhaus vorstellen?

Das hat eine lange Vorgeschichte. Ich habe 2002 einen Artikel veröffentlicht unter dem Titel „Von Bauhaus zum Baumhaus“ und vor vier Jahren habe ich ein Haus, das wie ein Baum sein soll, auf der Architekturbiennale in Venedig gezeigt. Und jetzt kommt die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und zitiert mich mit genau diesem Vorschlag. Wir brauchen ein neues Bauhaus, das die ökologischen und sozialen Dinge anders berücksichtigt und in diesem Kontext frage ich: Warum nicht ein Haus einmal ganz anders gestalten?! Zunächst einmal das Haus selbst, ein Gebäude, welches die Luft, das Wasser reinigt. Das die Artenvielfalt unterstützt, das Erde erzeugt. Im Augenblick sind unsere Gebäude, was die ökologischen Auswirkungen angeht, eher katastrophal.

Das klingt nach „Baumhaus ein Traumhaus“. Wie nahe sind wir an diesem Traum, solche Häuser auch flächendeckend zu realisieren?

Es geht nicht um Träume. In den Niederlanden beispielsweise setzt sich das viel schneller durch, weil man dort zuerst fragt: Kann ich damit Geld verdienen? In Deutschland fragt man nach der Moral. In den Niederlanden ist der Krankenstand in vergleichbaren Gebäuden etwa 20 Prozent niedriger als bei uns. Das ist bei 1 200 Beschäftigten beispielsweise richtig viel Geld. Schon eine Person, die weniger erkrankt oder eine chronische Erkrankung bekommt, lohnt der Mehraufwand in der Planung.

Man verbindet mit Ihrem Namen grundsätzlich Cradle to Cradle, stört Sie dieser Fokus? Nein, das stört mich gar nicht, weil es ein wesentlicher Teil meiner Arbeit der letzten Jahre ist. Mich stören die Trittbrettfahrer, die daraus dann mehr Knödel to Knödel oder Nudel to Nudel sozusagen machen. Wenn man einmal verstanden hat, dass weniger schlecht nicht gut ist, dann möchte man auch nicht weniger schlecht sein. Die Menschen in Deutschland verstehen unter Umweltschutz, etwas weniger Schweinereien zu machen. Schütz die Umwelt, mach weniger Müll, reduziere den Energieverbrauch, vergeude kein Wasser. Das ist aber kein Schutz, das ist eher so, als würde ich sagen, schütz dein Kind – deine Frau oder deinen Mann, das können Sie sich aussuchen –, und schlage es nur fünfmal anstatt zehnmal am Tag. Das ist kein Schutz, das ist nur weniger Zerstörung. Nein. Der Planet zerstört sich längst. Wir  brauchen keine Neutralität, sondern ein Ziel, das positiv ist, das sagt, im Jahr 2100 werden wir wieder die Gehalte an Kohlendioxid in der Atmosphäre haben, die wir 1900 hatten.

Nehmen wir den Baubereich. Würden wir hier ab dem Jahr 2030 nur noch Kunststoffe verwenden, wenn diese aus dem Kohlendioxid der Atmosphäre gewonnen wären, dann wären wir klimapositiv. Nicht klimaneutral. Bei Cradle to Cradle geht es eigentlich darum, 40 Jahre Weltuntergang in Innovation, in Qualität umzusetzen. Und das geht inzwischen wahnsinnig schnell. Es gibt über 11 000 C2C-Produkte auf der Welt. Deutschland habe ich lange – weil ich ja im Ausland war – als abschreckendes Beispiel genutzt. Denn hier meint man, wenn man gründlich etwas vernichtet, hat man schon etwas Gutes getan. Dafür werden überall Verbrennungsanlagen gebaut für das „thermische Recycling“ oder „Circle of Engineering“ oder sonst was. Aber inzwischen bin ich seit zwei Jahren in Lüneburg zurück. Das ist ein schönes Gefühl zwischen lebendig begraben und ganz nett, aber ich kann auf diese Art und Weise nach Lust und Liebe forschen und Dinge umsetzen.

Noch einmal zum Cradle to Cradle, das geht mir immer zu diffus. Aus meiner Haltung heraus ist C2C, die Dinge so zu machen, dass sie nützlich sind, nicht weniger schädlich. Schuhsohlen, Bremsbeläge oder Autoreifen müssen so gemacht werden, dass sie in die Biosphäre gehen, weil sie sich chemisch, physikalisch, biologisch in ihrer Verwendung verändern. Dinge, die nur genutzt werden, wie Waschmaschinen, Fernseher, Fenster oder Fassaden werden so gemacht, dass sie in die Technosphäre gehen. So gibt es keinen Abfall mehr, alles ist Nährstoff für die Biosphäre und die Technosphäre. Das setzt sich immer schneller durch, glauben Sie mir. Praktisch jede Designschule in der Welt, die etwas auf sich hält, lehrt jetzt Cradle to Cradle und praktisch jeder Architekturlehrstuhl berücksichtigt das Thema.

Cradle to Cradle scheint auf dem Weg zu sein. So sehr, dass ein großes Planerbüro wie Drees & Sommer Mehrheitsanteile an Ihrem Unternehmen der EPEA Internationale Umweltforschung GmbH übernommen haben. Bedeutet das, dass Michael Braungart sich jetzt anderen Dingen zuwendet, ziehen Sie sich gar zurück aus dem Geschäft?

Mit der Zusammenarbeit mit Drees & Sommer erhoffe ich mir vor allem, dass wir jetzt endlich die PS auf die Straße bekommen. Die Vereinbarung mit Dreso ist ganz klar: Ab jetzt wird in allen Projekten Cradle to Cradle berücksichtigt, es wird an jeder Stelle umgesetzt. Ich bin es einfach satt, zu sehen, dass zum Beispiel dreihundert Additive im Beton verwendet werden, von denen 200 wirklich absoluter Mist sind; unter Umwelt- und Gesundheitsgesichtspunkten. Oder dass aus hochwertigstem Autostahl nachher primitiver Betonbewährungsstahl gemacht wird. Trotz all dieser Erkenntnisse ist aber noch noch viel Wissenschaft zu machen.

Sind wir vielleicht doch noch nicht so weit für eine C2C-Gesellschaft? Sie hatten zuletzt das Jahr 2050, das menschheitsgeschichtlich übermorgen ist, als Zielgerade für das Erreichen einer Kreislaufwirtschaft in Deutschland angegeben. Ist das realistisch?

Michael Braungart: Es geht nicht um Kreislaufwirtschaft. Kreislaufwirtschaft ist lineares Denken im Kreis, wie Riesenradfahren. Nein, eine Kreislaufwirtschaft ist etwas anderes als Cradle to ­Cradle. Das ist nur das Minimum. Ich habe mich auf den Begriff Circle Economy oder zirkulierende Wertschöpfung oder Kreislaufwirtschaft auch nur deshalb auf EU-Ebene eingelassen, weil ich wollte, dass Länder wie Bulgarien, Rumänien oder Polen, die nie eine Umweltdiskussion hatten, dafür jetzt auch EU-Geld kriegen können. In Deutschland und in den Niederlanden ist diese sogenannte Kreislaufwirtschaft eher verheerend, man fällt da zurück in die 1980er-Jahre, wo man giftige Flugaschen in Bausteine gemixt hatte und das als Kreislaufwirtschaft ausgab. In Amsterdam nimmt man heute alte PET-Flaschen und macht daraus Fahrradwege und kriegt damit Mikroplas­tik ohne Ende und EU-Fördermittel für die sogenannte Kreislaufwirtschaft. Aber nein: Cradle to Cradle ist etwas anderes. Es bedeutet, den menschlichen Fußabdruck zu feiern, ihn nicht zu minimieren. Es ist ein Triple Topline, nicht ein Triple Bottomline. Das heißt, Dinge zu machen, dass sie wirtschaftlich vernünftig sind, sozial vernünftig und gleichzeitig nützlich für die Umwelt, nicht weniger schädlich. Also nicht den Impact zu minimieren. Endlich können wir jetzt 30, 40 Jahre Weltuntergangsdiskussion in Innovation, in Qualität, in Schönheit umsetzen. Jetzt kommt eine junge Generation, die auf sich stolz sein will, für die die Anerkennung im sozialen Netzwerk wichtiger ist als Geld auf dem Konto. Moral? Das lassen wir besser mal, ich kann das Selbstwertgefühl unserer jungen Leuten hernehmen und das reicht völlig aus für Veränderung.

Herr Braungart, das klingt alles extrem und auch vernünftig und so, als müsse da jeder­ sofort mit dem Kopf zustimmend nicken. Aber leider ist es nicht so.  Muss man eigentlich fachfremd sein – einen Chemiker verbinde ich nicht sofort mit Architektur, nicht mit Hoch- und auch nicht mit Tiefbau –, um das Themenspektrum Bauwirtschaft um Wesentliches in der Diskussion zu bereichern?

Mein Großvater hatte ein Bauunternehmen. Mein Patenonkel ist Maurer von Haus. Also ich bin auch damit groß geworden. Vielleicht fällt es mir als Außenstehendem leichter, weil die Architekten sich viel zu lange und bis heute abhängig gemacht haben und sich bei ihren Auftraggebern eher anbiederten. Ich bin da freier, kann sagen, dass ich in der Muttermilch 2 800 Chemikalien gefunden habe, ein Drittel davon kommt aus dem Baubereich. Für mich ist damit jemand, der ein Gebäude macht, was nicht für Muttermilch geeignet ist, ein unverantwortlich Handelnder.

Ich habe den Vorteil, dass ich etwas feststellen kann, ich kann in einer Jury sitzen und Punkte vergeben. Über Geschmack streiten sich die Leute, über Qualität streiten sie sich, über Schönheit streiten sie sich. Über Chemie kann man nicht streiten, die kann man benennen und die Wirkung der Stoffe kennen wir. Natürlich komme ich von der Materialseite, weil die die einfachste ist. Aber ich arbeite auch gerne mit Architekten zusammen. Ein Christoph Ingenhoven zum Beispiel ist einfach eine helle Freude. Und selbst mit Gerkan, Marg und Partner kann ich auskommen, weil ich res­pektiere, was die können. Wenn die keinen Sondermüll machen wollen, dann müssen sie mit mir zusammenarbeiten.

Warum haben Sie in der BILD keine Cradle to Cradle-Kolumne? Größere Reichweite ...

Mir ist die Deutsche Bauzeitschrift wichtiger als die Bildzeitung. Ich bin aber auch auf den eher populären Kanälen unterwegs, so letztens noch im Fernsehen. Da kann ich wirklich anschaulich erklären, was Cradle to Cradle ist und der Moderator, der sonst eher ein Zyniker ist, war in dieser Sendung mein größter Fan. Wir brauchen definitiv nicht mehr diese Nachhaltigkeit, die den Leuten ein schlechtes Gewissen macht. In der Forstwirtschaft ist Nachhaltigkeit etwas Tolles, aber ich will nicht die nächsten 10  000 Jahre auf dem gleichen Schreibtischstuhl sitzen. Es geht um Qualität und Innovation. Nachhaltigkeit stabilisiert das Bestehende. Wenn das Bestehende falsch ist, wird es gründlich falsch.

Vorletzte Frage: Wer hat Sie in all Ihrem Tun geprägt, wen würden Sie nennen?

Mit 16 hatte ich eine Chemielehrerin, die war wunderschön und ich war total verliebt in sie. Wahrscheinlich habe ich mich deshalb schon so früh mit dem Fach beschäftigt. Und dann kam der Club of Rome Report „Grenzen des Wachstums“ heraus, damit hatte ich in meiner bildungsbürgerlichen Familie ein Argument, warum Chemie auch berufsperspektivisch so interessant ist. In den Folgejahren bin ich praktisch von Universität zu Universität gezogen, insgesamt 15 oder 16 Universitäten, damals musste man noch zu den Leuten hin. Bei mir war das der Chemiker und Mediziner Friedhelm Korte, der mich nachhaltig beeinflusst hat. Der hatte damals die ökologische Chemie erfunden, ihm haben wir das „Institut für Ökologische Chemie“ zu verdanken.  Dann gibt es die Deutsche Gesellschaft für nachhaltiges Bauen (DGNB) mit dem zurzeit wirklich besten Zertifizierungssystem. Die anderen sind eher dafür da, den Investoren das Haftungsrisiko ein bisschen abzunehmen. Aber selbst wenn alle Gebäude weltweit LEED-Platin-zertifiziert würden, würde die Erdtemperatur immer noch über 3,5 °C ansteigen. Ich sage das durchaus selbstkritisch, weil ich LEED in den USA mitbegründet habe.

Ich bin einfach gerne, wie Madonna sagen würde, der Material Boy für die Leute. Ich kann ihnen das Back-up liefern, was gesunde und umweltverträgliche Materialien sind, die einen Fußabdruck schaffen, der wirklich nützlich ist. Wenn wir die Umweltdiskussion so weiterführen wie bisher, dann machen wir uns die Mitmenschen zu Feinden. Ich möchte stattdessen eine Kultur der Großzügigkeit haben, der intelligenten Verschwendung. In jedem Gebäude können Cradle to Cradle Elemente umgesetzt werden, so habe ich schon einmal mit Drehtüren experimentiert, mit denen man die Kaffeemaschine betreiben konnte. Wenn man in jedem Gebäude so fünf bis zehn Dinge macht, die Spaß machen, versöhnen wir den Menschen mit dem Gebäude und dann gibt es auch keinen Vandalismus.

Michael Braungart, der „Material Boy“. Das ist doch ein schöner Schluss und ich sage Danke für das Gespräch.

Sehr gerne. Aber noch ganz kurz das: Wir sollten endlich das Weich-PVC, vor allem aber PVC insgesamt aus dem Baubereich herausnehmen. Ein Wunsch, den ich äußern würde, hätte ich zu Weihnachten einen frei. Und das zweite wäre der Baustahl. Und das dritte wäre die Verwendung von Altpapier, die eigentlich nicht sein kann, solange giftige Druckchemikalien verwendet werden. Materialien wie Gips, Gipskarton etc. sind ideale Cradle to Cradle-Materialien, die völlig unnötig durch Recycling entwertet werden. Also wir müssen die Dinge neu und anders denken und keine Kompromisse mehr eingehen wie beim PVC.

Wenn das ein Werbeabspann gewesen wäre, hätte ich Sie unterbrochen! Ich schließe mich aber sehr gerne Ihren Wünschen an.

Mit Michael Braungart unterhielt sich DBZ-Redakteur Benedikt Kraft am 1. Dezember 2020 via Telefon. Das komplette, ausführliche Gespräch gibt es als DBZ der Podcast auf DBZ.de

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