Balkon mit Meerblick
Fußgängerbrücke am Stadthafen Sassnitz

Der intern im Büro Schlaich Bergermann + Partner existierende Spruch: „Wenn Du eine Brücke siehst, die Du nicht siehst, dann ist sie von uns“ trifft auch bei der Brücke in Sassnitz zu. Vor allem, weil die Konstruktion hier im Hintergrund steht – im wahrsten Sinne des Wortes.

Nach dem Fall der Mauer 1989 ergab sich für das Ostseebad Sassnitz die Notwendigkeit struktureller städtebaulicher Veränderungen. Der Hafen – schon seit 1878 Startpunkt für Fährverbindungen nach Skandinavien – war zu Zeiten der DDR nur für den westdeutschen Verkehr zugänglich. Im Zuge des Städtebauförderprogramms des Landes ­Mecklenburg-Vorpommern wurde er neu eröffnet, die Fähr-Anlegestelle abgerissen und die Revitalisierung des Hafenbereichs und Wiederein­gliederung in das Stadtbild von Sassnitz durch eine direkte Brückenverbindung beschlossen.

Der Rügener Ingenieur Ulrich Müther, berühmt durch seine Schalenbauten wie den Teepott in Warnemünde, die Muschel in Glowe oder die Rettungsstation in Binz, empfahl der Stadt Sassnitz, sich mit diesem Thema an Schlaich Bergermann und Partner zu wenden. Die Ingenieure machten sich an eine Konzeptstudie, deren Ziel es war, die bestmögliche Lösung zur Überwindung des Höhenunterschieds und Verbindung der Stadt mit dem Hafen zu finden.

 

Randbedingungen

In ihrer Machbarkeitsstudie untersuchten Mike Schlaich und Andreas Keil zunächst verschiedene Zugangsvarianten. Die Wahl der Konstruk­tion hing ab von zahlreichen Randbedingungen:


Topographie der Umgebung

Die Kreidefelsen, Ursache des großen Geländesprunges von 22 m zwischen Stadt und Hafen, konnten weder statisch noch dynamisch hoch be­lastet werden. Auch direkt vor der Böschung auf Hafenniveau konnten keine Stützen gestellt werden, da sich dort eine Zubringerstraße zum Hafenbereich befindet. Im weiteren Verlauf der Brücke liegt ein denkmalgeschützer Bau. Der gesamte Bereich musste also stützenfrei überspannt werden. Erst auf dem unteren Stück bis zum Glasbahnhof konnten Stützen eingeplant werden.

Verkehrsführung der Stadt

Alle Straßen im Ortskern weisen rechtwinklig auf die Böschungskante. Die Gebäude und die Ausrichtung der Erschließung des Hafenbereichs verlaufen parallel zur Böschung. Dieser Richtungswechsel musste im Brückenverlauf berücksichtigt und ausgeglichen werden.


Barrierefreie Erschließung

Eine der wesentlichen Anforderungen war die hindernisfreie Er­schließung des Hafens. Ein gekrümmter Brückenverlauf generiert im Vergleich zur direkten Verbindung der Start- und Endpunkte zusätz­liche Länge und ermöglicht die erforderliche Neigung der Gradiente.


Wahrzeichen der Region

Der Wunsch der Stadt war es, die Brücke zu einem Erkennungszeichen über die Grenzen der Region hinaus werden zu lassen. Die Konstruktion sollte Ihren Teil dazu beitragen.

Balkon mit Aussicht

Die Lage der zukünftigen Brücke mit Blick über den Hafen – oben der berühmte Sachsenblick, von dem aus schon die Urlauber zu DDR-Zeiten auf den Fährhafen und die Fähren geschaut haben, an deren Fahrten nach Schweden sie gerne teilgenommen hätten, aber nicht durften – ließ die Idee des Balkons am Meer entstehen.

Zusammen mit den technisch-konstruktiven Beweggründen versprach die Anordnung der Aufhängung der Brücke auf der Landseite und eine gekrümmte Brückendeckanordnung eine vielversprechende Variante zu sein. Nachdem sich die Planer dazu entschieden hatten, war es nur noch ein kleiner Schritt, die für den gekrümmten Grundriss am besten geeignete, einseitige Aufhängung zu entwickeln. Eine solche Brücke benötigt nur einen Mast, wodurch Böschung und Hafenbereich geringstmöglich verbaut werden.

In weiteren Studien wurde die optimale Spannweite des seilgestützten Brückenteils über den Böschungsabschnitt und das denkmalgeschützte Gebäude ermittelt und der verbleibende Teil durch einen sehr ökonomischen und schlanken, im Gegenschwung gekrümmt verlaufenden Rampenbrückenteil mit Anschluss am Glasbahnhof vervollständigt. Damit war es möglich, das genau definierte Gesamtbudget einzuhalten.

 

Konstruktion

Die letztlich verwirklichte Brückenvariante besteht aus zwei Teilen. Oben am Sachsenblick beginnt der Weg hinunter zum Hafen auf einer 119 m langen, frei spannenden Seilbrücke, die in ihrem Verlauf fortgeführt wird in einer Rampenbrücke, deren 124 m lange Verbundkonstruktion von neun Stützenpaaren getragen wird. Am Übergangspunkt der beiden Brückenteile werden die Horizontalkräfte durch Fachwerkdiagonalen aus 14 m Höhe in den Baugrund abgeleitet. Die Diagonalen sind zugleich als Treppenzugang ausgebildet und ermöglichen den direkten Zugang von der Brücke zum Platz ohne Umweg über den Glasbahnhof.

 

Rampenbrücke

Im Grundriss sind – dem Verlauf der Brücke folgend – gekrümmte Walzprofile mit querverlaufenden T-Profilen horizontal ausgesteift. Die 20 cm starke Betonplatte liegt im Verbund mit den Stahlträgern und beteiligt sich so am Lastabtrag. Die schlanken Stahlrohr-Stützen stehen in ca. 12,5 m Abstand und sind biegesteif im Stahlbau des Überbaus und mit Gewindestangen in den Fundamenten verankert. Zur zusätzlichen Queraussteifung wurden in jeder dritten Stützen-achse diagonale Verbände angeordnet.

 

Seilbrücke

Die Seilbrücke besteht aus wenigen Hauptelementen: Tragseil, Hängerseile, Hängerrahmen und Überbau-Hohlkasten. Der Überbau ist nur auf seiner Innenseite über Hängerseile im Abstand von ca. vier Metern an den Tragseilen der Brücke angeschlossen. Die einseitige Aufhängung soll den Balkoncharakter unterstreichen und ermöglicht dem Besucher die uneingeschränkte Aussicht auf die Ostsee beim Gang über die Brücke.

Die Art der Konstruktion ergibt sich geradezu technisch aufgrund des gekrümmten Verlaufs des Überbaus im Grundriss: Generell gilt, dass im Überbau gekrümmter Brücken bei einseitiger Aufhängung lediglich ein Druck-Zug-Kräftepaar in Brückenlängsrichtung auftritt. Es muss keine ungewünschte Torsion durch den Überbau in die Auflager eingeleitet werden.

Anders als bei früheren Brücken der gleichen Konstruktionsart planten die Ingenieure hier in den Hängerseilachsen biegesteife Rahmen unterschiedlicher Höhe ein. Die genaue Geometrie ermittelten sie durch computergestützte Formfindung und Strukturoptimierung. Dadurch konnte sichergestellt werden, dass die Verlängerung der Systemlinie eines jeden Hängers durch den Schwerpunkt des Stahlüberbaus verläuft.

Um das in jeder Achse sicherzustellen ergeben sich, entsprechend der Lage eines jeden Rahmens im Grundriss, zur Brückenmitte hin zunehmende Rahmenhöhen. Durch diesen Trick konnte die Überbaustruktur effizient als einfacher Hohlkasten ausgeführt, die Längskräfte im Überbau weitestgehend vermieden und die Auflagerkräfte an den exponierten Widerlagern 14 m über dem Rügenplatz und in der wenig tragfähigen Kreideböschung kontrolliert werden.
Das Abspannen der Mastspitze mit Seilen in zwei Achsen zur Böschung hin begrenzt effektiv die Verformungen der Brücke, ohne unnötig große Biegesteifigkeit im Brückenhohlkasten zu erzeugen, wodurch unerwünschte Querbiegemomente angezogen würden. Diese Maßnahme reduzierte die maßgebenden vertikalen Verformungen um 75 %.

 

Schwingungen und Wind

Die geringere Steifigkeit von Fußgängerbrücken im Vergleich zu Straßenbrücken kann zu Schwingungen führen, die durch den Schrittrhythmus „aufgeschaukelt“ werden.

Um das dynamische Verhalten der Brücke in Sassnitz in dieser Hin­sicht zu verbessern, wurde der Überbau mit einer 12 cm starken Betonplatte beschwert. Zur Sicherheit planten die Ingenieure Öffnun­gen für einen nachträglichen Einbau von Schwingungstilgern im Brückendeck ein, die aber nach erfolgreich bestandenen Schwingungstests ungenutzt wieder geschlossen wurden.

Aufgrund der geografischen Lage am Meer mit teilweise heftigen Stürmen musste in aufwendigen aeroelastischen Windkanaluntersuchungen das windinduzierte Schwingungsverhalten betrachtet werden. Die Ergebnisse beeinflussten bereits in der Planungsphase die Geometrie des Überbaus und veranlassten den Einbau von strömungs­unterbrechenden Windblechen auf der dem Meer abgewandten Seite, so dass eine mögliche Anregung in jedem Fall außerhalb der eigenen Resonanz gehalten wird. Planer/SG

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