Arbeiten im Bestand. Zehn Jahre an fünf Orten

DBZ Heftpartner Andreas Krauth und Urs Kumberger, Teleinternetcafe, Berlin

Wo hört Bestand auf und wo fängt Zukunft an? Wie alt muss Bestehendes werden, um Bestand zu sein? Wie kann Bestand von gestern noch morgen Bestand haben? Das vorliegende Heft widmet sich dem Bauen im Bestand. Was ist das aber ­eigentlich: „Bauen im Bestand“?

Architektur und Städtebau verstehen wir per se als ein Bauen im Bestand. Unsere Arbeit ist in der Realität verankert und existiert nicht im luftleeren Raum. Immer geht es um das Weiterdenken einer bestehenden Situation, eines Ortes. Jedes Narrativ, jede Idee, jede Planung ist eingebettet in einen Kontext – in einen Bestand. Bestand verstehen wir natürlich baulich und räumlich, aber auch sozial, ökologisch, ökonomisch, kulturell und atmosphärisch. Wichtiger Aspekt unserer Arbeit ist der produktive Umgang mit den Beziehungen zwischen Neuem und Vorgefundenem.

Im nächsten Jahr wird unser Büro Teleinternetcafe zehn Jahre alt. In diesen Jahren sind wir als Büro innerhalb Berlins schon mehrmals umgezogen. Wir haben an fünf sehr unterschiedlichen ­Orten im Bestand gearbeitet. Jeder Ort bot andere Bedingungen und bildete einen neuen Kontext für unser produktives Zusammenkommen. Jeder war Quelle für Inspiration und Reflexion.

Zweimal umgenutzte Wohnung

Unsere ersten Wettbewerbe haben wir noch zu Hause in der Küche bearbeitet – Laptop zwischen Espressokocher und Nudelsieb, Modelle unterm Bett. Später zogen wir als Untermieter in die Zweitwohnung eines Barbesitzers ein, direkt über seiner Bar in Kreuzberg. Dichter Berliner Block, sogenannte Gründerzeit. Die Wohnung diente als Lärmpuffer zwischen Bar und darüber liegenden Wohnungen, als Schlafplatz für den Barkeeper nach der Spätschicht und nun auch als Architekturbüro. Wohnen und Arbeiten, auf engstem Raum verzahnt, war für uns gelebte Praxis. Die Wandelbarkeit des alten Wohnungsgrundrisses fasziniert noch immer.

Lagerraum und Werkhalle

Unser zweites Büro lag in einer denkmalgeschützten ehemaligen Fabrik. Unser kleiner aber 5 m hoher Atelierraum wurde bis dahin als Lager genutzt. Er lag direkt an einer über 200 m² großen Werkhalle, über die wir in unser Büro gelangten und die allen NutzernInnen des Hauses zur Verfügung stand. Genutzt wurde sie als temporäre Erweiterung der Werkstatt, für große Testaufbauten, für Veranstaltungen oder einfach als Treffpunkt im Haus. Das Tolle an diesen Räumen war wohl nicht der bauklimatische Standard, das gute Raumklima. Toll war die Großzügigkeit der Räume, waren die kreativen Nutzungsmöglichkeiten und die Atmosphäre. Ein mittelmäßiger Kaffee im Stehen in einer ungeheizten Industriehalle kann richtig gut schmecken.

Ladenlokal im Gründerzeitblock

Unsere nächste Station lag in Neukölln. Von nun an arbeiteten wir in einem Erdgeschoss Ladenlokal, im Hinterzimmer eines Grafikbüros. Wir genossen die urbane Stimmung inmitten des alten Gründerzeitquartiers, in direkter Nähe zum Tempelhofer Feld. Die Bank vor unserem Schaufenster war ein besonders geliebtes Detail. Die Lichtverhältnisse unseres Berliner Zimmers waren schluss­endlich aber ein Grund, warum wir hier dennoch nicht alt wurden.

Büroetage in gemischtem Gewerbebau

Heute sitzen wir, nun schon seit einigen Jahren, zusammen mit einigen LandschaftsarchitektenInnen in einer offenen Etage eines alten Gewerbebaus in einem dichten Berliner Hinterhof. Die Nutzungen im Haus reichen von einer Autowerkstatt, einer Holzwerkstatt, Designern, Architekten und Landschaftsarchitekten bis hin zu Wohnungen. Das „Vorderhaus“ ist ein eingeschossiger Zweckbau, der einen türkischen Supermarkt beheimatet. Es ist ein urbanes, bunt gemischtes Haus. Herausragend ist die große Ka­pazität der alten Gebäudestruktur für Transformation und Veränderung. Sie liefert den Rahmen, der die Nutzungsmischung innerhalb des Hauses überhaupt erst möglich macht.

Seit fast zehn Jahren arbeiten wir nun also schon im Bestand; im Bestand und mit dem Bestand. Viele Themen, Aspekte und Fragen, die uns in unserer Arbeit umtreiben, finden wir in dem Kontext, in dem wir uns bewegen. Unser Denkraum reicht dabei von banalen Alltagsbeobachtungen bis zu philosophischer Gesellschaftskritik. Manchmal finden wir hier Antworten, manchmal aber auch das Gegenteil: Was kann man vom Bestand von gestern für den Bestand von morgen lernen? Warum feiern die Gäste beim Sommerfest im voll asphaltierten Innenhof so gerne? Warum klappt die Nutzungsmischung im Bestand so mühelos, im Neubau dagegen kaum? Was ist der Zusammenhang zwischen beliebten Wohnquartieren und einer hohen baulichen Dichte? Ist ein anderer Umgang mit dem Bestand der Schlüssel zu leistbaren Mieten? Welche Rolle kann ein Neubau beim Bauen im Bestand spielen? Zu welchem Zeitpunkt der Transformation wird Bestand zu einer neuen Architektur? Die Arbeit mit diesen Fragen gibt Antworten.

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