Mehr Mut zu Standardlösungen

Öl und Gas stehen als Primärenergieträger für Heizwärme im Gebäudesektor angesichts des Kriegs in der Ukraine noch viel schneller vor dem endgültigen Aus, als es angesichts der Klimakrise ohnehin angestrebt war. Doch was kommt nun? Ein Gespräch mit Thomas Wilken vom Steinbeis Innovationszentrum energieplus in Braunschweig.

Gemeinsam mit HHS Planer + Architekten führte SIZ energie+ braunschweig 2017/18 in Frankfurt-Riederwald den Nachweis, dass mit intelligenter Vernetzung von PV-Anlagen und Miniwärmepumpen eine Plusenergie-Sanierung im Bestand möglich ist (DBZ 6 |2019)
Foto: SIZ energie+

Gemeinsam mit HHS Planer + Architekten führte SIZ energie+ braunschweig 2017/18 in Frankfurt-Riederwald den Nachweis, dass mit intelligenter Vernetzung von PV-Anlagen und Miniwärmepumpen eine Plusenergie-Sanierung im Bestand möglich ist (DBZ 6 |2019)
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Herr Wilken, lassen Sie uns zur Abwechslung nicht ökologisch, sondern wirtschaftlich-politisch beginnen: Deutschland ist ein rohstoffarmes Land. Wenn der Zufluss aus dem Ausland versiegt oder die Kosten weiter steigen, wie wirkt sich das Ihrer Ansicht nach auf die Architektur und das Bauingenieurwesen aus? Welche neuen Anforderungen müssen Sie sich stellen?

Thomas Wilken: Die Planer:innen müssen zunächst das Bewusstsein entwickeln, dass wir uns mit der Abkehr von den Fossilen immer mehr in Richtung des Primärenergieträgers Strom entwickeln. Dennoch müssen wir natürlich auch künftig Gebäude so betreiben, dass es wirtschaftlich und ökologisch sinnvoll ist. Aktuell ist es bei gut wie schlecht geplanten Gebäuden so, dass nicht ein effektives Facility Management im Vordergrund steht, sondern eher ein Beschwerdemanagement. Werden z.B. in einem Bürogebäude niedrige Raumtemperaturen bemängelt, dann geht heute das Personal in den Keller und dreht an der Heizkurve. Gebäude funktioniert, Problem gelöst. Ja, mitnichten! Um davon wegzukommen, muss die Überwachung des Betriebs automatisiert und digitalisiert werden. Die Grundsteine dazu müssen schon in der frühen Planungsphase mitgedacht werden. Ermöglicht wird ein wirtschaftlicher Betrieb durch Energieeinsparung und Effizienzsteigerung, bei besten Nutzerkomfort und Behaglichkeit. Der wesentliche Beitrag der Architektur liegt darin, die Aufenthaltsqualität in den Mittelpunkt zu stellen und flexible Nutzungen zu ermöglichen, damit Gebäude lange im Gebrauch sind. Gerade auch hinsichtlich der gebundenen grauen Energie muss das eines der vorrangigen Ziele sein.

Man sollte meinen, dass die Eigentümer:innen an dieser Stelle bereits viel sensibler sind.

So, wie bislang Gebäude betrieben werden, mangelt es deutlich an Transparenz für die Eigen­tümer:innen. Das muss sich ändern. Aktuell ist die Schnittmenge zwischen Energieeffizienz und Energiekosten sehr hoch, deshalb steht das Thema sehr im Fokus. Aber im Regelfall ergibt sich dieser Berührungspunkt lediglich einmal im Jahr, wenn die Rechnung ins Haus kommt. Nachforderungen sind ärgerlich, Erstattungen bei den gegenwärtigen Energiepreisen die Ausnahme. Die wenigsten Eigentümer:innen, das erleben wir in der Praxis, wissen, wie viel Energie ihr Gebäude verbraucht. Und selbst wenn sie eine Zahl kennen, besitzt diese häufig wenig Aussagekraft, weil Benchmarks und Referenzgrößen fehlen. Das heißt, sie wissen nicht, ob die ursprünglichen, möglicherweise sogar zertifizierten Zielvorgaben überhaupt eingehalten werden oder nicht. Besonders bei komplexen Systemen bleibt die Transparenz auf der Strecke, weil sauber definierte Schnittstellen und freie Datenverfügbarkeit fehlen, die einen effizienten Betrieb ermöglichen.

Was wäre besser?

Aus wirtschaftlicher und energetischer Sicht wird es immer sinnvoll sein, einen Teil des benötigten Stroms im Gebäude selbst zu erzeugen. Aus wirtschaftlicher Sicht, weil der vor Ort erzeugte Strom günstiger ist, als der, der aus dem Netz bezogen wird. Aus energetischer Sicht, weil Gebäude ihren Beitrag zur regenerativen Deckung des Bedarfs leisten sollten, auch wenn dieser Anteil, bezogen auf die politischen Ausbauziele, auf Neubauten und Bestandsgebäuden nicht mehr als 30 % betragen wird. 60 bis 70 % des benötigten, regenerativ erzeugten Stroms wird durch Freiflächen­anlagen bereitgestellt werden müssen. Wir müssen die Flächenpotenziale erschließen. Photovoltaikanlagen und Wärmepumpen bieten die Möglichkeit, Treibhausgasemissionen durch schnell umsetzbare und wirksame Maßnahmen zu reduzieren. Die Fokussierung darauf setzt sich bei der energetischen Sanierung erst langsam durch.

Spricht das aus Ihrer Sicht zum Beispiel für eine Photovoltaikpflicht bei allen größeren Bauvorhaben?

Nein, das macht nur neues Ordnungsrecht erforderlich, das seinerseits überprüft und ggf. sanktioniert werden muss. Die Kapazitäten in den öffentlichen Verwaltungen lassen sich besser und effektiver einsetzen. Es wird auch dem Anspruch gerecht, mit dem wir eigentlich die Dekarbonisierung der Energieversorgung vorantreiben müssten. Bei Neubauvorhaben liegt die Quote bei der Einbindung von regenerativer Stromerzeugung doch mittlerweile ohnehin bei über 90 % – weil es wirtschaftlich Sinn ergibt. Sprechen gestalterische oder finanzielle Gründe gegen eine Integration, lässt sich das respektieren, ohne das globale Ziel zu gefährden. Limitierender Faktor ist vor allem das Fehlen von geschultem Fachpersonal für die Umsetzung und neuerdings auch die Zertifizierung von größeren Anlagen. Hier müssen die Strukturen und Prozesse so einfach wie möglich gehalten werden, um den Ausbau auf allen Ebenen vorantreiben zu können.

Wie sinnvoll ist es denn grundsätzlich, dass jede/r kleine Gebäudebetreiber:in für sich in entsprechende Gebäudetechnik investiert und damit ja neue Ressourcen verbraucht – denn auch in grüner Technik steckt graue Energie. Ist nicht eher eine Bündelung sinnvoll, die Synergien schafft, die Wartung und Pflege der Anlagen vereinfacht und somit zusätzlich Energie einspart?

Wie gesagt, benötigen wir für 60 bis 70 % des regenerativ erzeugten Strom Freiflächenanlagen, die durch ihre Größe und Dimension günstiger sind als Kleinanlagen. Das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 werden wir nicht durch energieeffiziente Neubauten erreichen. Die erhöhen durch ihren Rucksack aus grauer Energie die Treibhausgasemissionen. Wichtig und elementar ist der Umbau der Anlagentechnik in den Bestandsimmobilien. Durch den Einsatz erprobter und ausgereifter Technik, über die wir heute schon verfügen, lassen sich im Bestand 60 bis 70 % der Treibhausgas­emissionen vermeiden. Das ist ein realer Beitrag, dezentral auf der Gebäudeebene, der im zeitlich vorgesehenen Rahmen zwar anspruchsvoll ist, aber umgesetzt werden kann.

Die immer wieder diskutierte Erhöhung der Sanierungsquote von einem auf zwei Prozent ist bei dem vorherrschenden Fachkräftemangel unrealistisch. 400 000 Bauschaffende mehr bräuchte es für die Verdopplung. Es kommt also auf die beschleunigte Verdrängung von Gas und Öl an, Maßnahmen an der Gebäudehülle, die ohnehin deutlich kostenintensiver sind, sollten dann umgesetzt werden, wenn Sanierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen anstehen. Zu warten wäre das falsche Signal.

Bleibt das Problem der Energie, die ich für die Herstellung dieser Technik aufwende – die eben auch nicht ewig lebt, sondern in 15 oder 20 Jahren wieder erneuert werden muss.

Auf diesem Sektor hat sich bereits viel getan und die Entwicklung geht ja weiter. Dank Verbesserung des Wirkungsgrads und der Verbesserung der Materialeffizienz rechnet sich eine PV-Anlage heute bereits nach zwei bis drei Jahren energetisch. Bei einer Nutzungsdauer von etwa 20 und mehr Jahren sind wir damit bereits deutlich im Plus.

Andere Energieträger versprechen, gewohnte Infrastrukturen weiter nutzen zu können und damit den Anteil der selbst zu pflegenden Haustechnik zu reduzieren. Zum Beispiel Wasserstoff, der als Speichermedium für Leis-tungsspitzen aus Wind- und Solarparks genutzt werden kann und sich gleichzeitig über das bestehende Erdgasnetz transportieren lässt.

Eine Nutzung von Wasserstoff als Energieträger durch die Endverbraucher:innen sehen wir heute überhaupt noch nicht. Sicher lässt sich ein Teil des Erdgases durch die Einspeisung von Wasserstoff in die Versorgungsnetze substituieren, aber das führt nicht zu der notwendigen Transformation. Von der Kostenseite und der der Wirkungsgradkette ist es auf sehr lange Sicht auf der Ge­bäudeebene besser,  in Photovoltaik und Wärmepumpe zu investieren. Ebenso wichtig ist die Abwärmenutzung und der Ausbau von Nah- bzw. Fernwärmenetze, um die Wärmewende Realität werden zu lassen. Hier kann auch die Nutzung von Wasserstoff bzw. die Erzeugung durch Elektrolyse eine relevante Rolle spielen. Mit einer konsequenten Abwärmenutzung aus der grünen Wasserstoff­produktion ließen sich bei dem von der Bundesregierung geplanten Ausbau der Technologie bis 2030 die Kapazitäten für Fernwärme verdoppeln. Das Potenzial muss genutzt und konsequent erschlossen werden. Als Primärenergieträger sollte Wasserstoff jedoch vor allem dort eingesetzt werden, wo er sinnvoll und effizient genutzt werden kann: in der Industrie bzw. im Transportwesen und als Speichermedium zur Umwandlung von regenerativ erzeugtem Strom.

Lange Zeit standen die Zeichen ja auf einer ständig fortschreitenden technologischen Hochrüstung und energetischen Ertüchtigung des Gebäudesektors. Erst mit den Wärmedämmverbundsystemen, die sich inzwischen mehr als Fluch, denn als Segen herausgestellt haben, dann durch die immer höhere Ausdiffe­renzierung der Gebäudetechnik. Wo stehen wir heute?

Im Bezug auf den baulichen Wärmeschutz setzt sich die Erkenntnis durch, dass die vorhandenen Anforderungen ausreichen und eine weitere Verschärfung weder wirtschaftlich noch ökologisch sinnvoll ist. Insbesondere vor dem Hintergrund einer zukünftig dekarbonisierten Infrastruktur sind überdimensionierte Dämmstärken mit nur sehr geringem Potenzial zur Treibhausgasreduzierung Ressourcenverschwendung.

Bei der Gebäudetechnik haben wir einen Stand erreicht, mit dem alle Planer:innen gut arbeiten können. Und das ist die gute Nachricht in diesen Tagen: Die Zeit der Experimente ist vorbei. Wir können uns wieder verstärkt auf die Umsetzung, auf die Schaffung guter und funktionaler Architektur konzentrieren. Im Neubau, aber vor allem bei der Weiterentwicklung des Bestands. Dabei werden wir durch erprobte Standardlösungen unterstützt, die nicht nur einen relevanten Beitrag zum Klimaschutz leisten, sondern auch wirtschaftlich Sinn ergeben und verlässlich arbeiten, vorausgesetzt sie sind digital vernetzt. Das setzt Energien frei, die wir nun verstärkt in andere Themen fließen lassen können. Bauen und Sanieren bedeutet, sich mit der Kreislaufwirtschaft und dem Lebenszyklus von Gebäuden intensiver auseinanderzusetzen, um Ressourcen zu schonen. Gleichzeitig gilt es, flexible und lebenswerte Aufenthaltsqualitäten zu schaffen, die der Klimaanpassung im Innen- wie im Außenraum Rechnung tragen. Eine klimaneutrale Versorgung wird im urbanen Kontext im Wesentlichen über vernetzte Strukturen erfolgen. Gebäude und Quartiere können mit netzdienlichen Anlagen in Verbindung mit Speichermedien ihren Beitrag leisten. Deshalb brauchen wir eine integrale und verlässliche Energieplanung von Anfang an. Und bei der heißt der Primärenergieträger dekarbonisierter Strom aus erneuerbaren Quellen.

Ihr Fazit?

Mut zur Umsetzung und zu standardisierten Lösungen. Auf Seiten der Planenden ebenso, wie auf Seiten der Bauherr:innen. Wir müssen nicht um jede Kilowattstunde kämpfen, sondern mit PV-Anlagen, Wärmepumpen und Fernwärme die großen Energieströme in Richtung eines CO2-freien Gebäudebetriebs lenken. Dann machen wir schon mal keinen Fehler, sondern sind Teil des dringend benötigten Wandels.

Interview: Jan Ahrenberg/DBZ


Thomas Wilken, SIZ energie+,
www.siz-energie-plus.de
Foto: SIZ energie+

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