Schülern mehr Raum geben

Hessenwaldschule, Weiterstadt

In alten Schulhäusern verkümmert die Lernlust. Warum Lernen mehr Vielfalt, Vielfalt mehr Raum und der Raum mehr Geld braucht, zeigen wulf architekten mit dem Neubau der Hessenwaldschule. Mit einer räumlichen Großzügigkeit und einem gestalterischen Ernst machen die Architekten hier Schule und – hoffentlich – wieder mehr Lust aufs Lernen.

Der Kameramann richtet das Equipment und murmelt Test, Test ins Mikro. Und das Licht? Hier im Atrium der Hessenwaldschule dringt es, trotz grauer Wolkendecke, weiß durch die Oberlichter, streut diffus auf Sichtbeton, Terrazzo und Kiefernholz. Perfektes Licht für die Kamera, perfekte Meldungen für die Presse: Die Hessenwaldschule ist eine integrative Gesamtschule mit progressiver Pädagogik, guten Verbindungen zur lokalen Wirt- und Wissenschaft und einer hochwertigen Schularchitektur – ein Leuchtturmprojekt, ein pädagogisches und architektonisches Vorbild, ein politischer Erfolg und gut fürs Ego der Stadt.

Insel zwischen Stadtland

Die Schule steht auf einer Waldlichtung, zwischen einer Landstraße und der A 5. Hinter den Bäumen sieht man Felder und kleine Ortschaften. Ein politisch gesetzter Schulstandort im ländlichen Rhein-Main-Gebiet, das geografische Zentrum des Einzugsgebiets der Schule. Rund 700 Schüler pendeln täglich ein, Fahrradklingeln und Lachen begleitet vom Rauschen der Laster und dem Dröhnen der Lufthansa. Hier steht jetzt mit einer für den Ort unfassbar städtischen Eleganz und Ruhe der Schulneubau von wulf architekten, ein Betongebäude mit graugeschlämmter Ziegelfassade, mit breiten Fensterfaschen aus weißem Beton und mit glänzenden, gefalteten Aluminiumlochblechen vor der Glasfassade. „Eine urbane Insel im Wald“, wie es der Architekt Prof. Tobias Wulf sagt. Es ist eine Architektur, die Plattitüden vermeidet, auch wenn alles an der Bauaufgabe ebendiese heraufbeschwört: der Wald, die Kinder, der Name der Schule. Trotzdem keine Holzfassade, keine bunten Baumhäuser. Auch der Außenbereich ist urban gestaltet, mit übergroßen Betonpflastersteinen und einzelnen Sitzpodesten. Ein harter Kontrast zum Umfeld, und, in diesem Nieselgrau, nüchtern und wenig idyllisch. Wulf hasst die vermeintlich kindgerechte Verniedlichung von Bildungsarchitektur. Er setzt auf Materialfarben statt grelle RAL-Töne und dazu viel Haptisches: das Mauerwerk außen, Sichtbeton, Ziegel und astreiches Kiefernholz innen. Damit entspricht er dem Zeitgeist der Architekten. Damit alleine wäre die Schule schön, aber noch kein Leuchtturm. Zum Vorbild wird sie, weil die Architekten erkennen, dass neue Lernformen vor allem einer neuen Raumorganisation und -gestaltung bedürfen und weil die Bauherren einsehen, dass das mehr Geld kostet.

Neue Pädagogik, neue Räume

Wulf erklärt: „Schule ist ein so prägender, emotionaler Ort; wir erinnern uns alle daran.“ Ein Ort gefühlter Erfahrung, die unser Grundvertrauen in die Welt und in unsere eigenen Fähigkeiten stärken oder ruinieren kann. Die Pädagogen der Hessenwaldschule sprechen daher nicht nur von Wissensvermittlung, sondern sehen vor allem die Förderung des Selbstvertrauens und der Selbstmotivation als Grundstein für die Persönlichkeitsentwicklung. Das hier entwickelte „Neue Lernkonzept“ erinnert teilweise an Montessori: Die Schüler definieren ihr eigenes Lernpensum, wählen Aufgaben selbst aus, entdecken eigene Talente und finden einen individuellen Weg zum Schulabschluss.

Das bedeutet konkret, dass neben dem Frontalunterricht anderen Lernformen viel Zeit zukommt, wie dem experimentellen Arbeiten, dem Selbststudium, Arbeitsgruppen, Lernen in künstlerischen und naturwissenschaftlichen Werkstätten, Praktika und Exkursionen. Baulich bedeutet das einen enormen Bedarf an multifunktionalen Zwischenräumen, eine Neuorganisation der Raumfunktionen, -abfolgen und -atmosphären. Hier beginnt die Synergie des „Neuen Lernens“ und der Montessori-Erfahrung von wulf architekten.

Die Lernhäuser

Die Architekten organisieren die Klassen in drei Gebäuden, die windmühlenartig zueinander stehen – die Lernhäuser. Ein Lernhaus ist unterteilt in drei Geschosse mit je 400  m² Fläche. Ein Geschoss fasst drei Klassen zu einer Einheit. „Die Geschosse der Lernhäuser funktionieren wie kleine Haushalte,“ sagt Wulf. Jede Einheit hat einen eigenen Zugang aus dem Atrium, eine eigene Garderobe und Toiletten. Dahinter schließt sich ein Gemeinschaftsraum an, der drei Klassenräume, ein Lehrerzimmer und einen Multifunktionsraum verbindet. Im Gemeinschaftsraum lümmeln die Schüler, lesen und schwatzen. Hier steht eine offene Küche mit langer Stehtheke und ein raumhohes Holzmöbel mit Teppichbezug, die Kuschelecke. Linoleum auf dem Boden dämpft die Schritte. Der Blick aus dem Gemeinschaftsraum geht zu drei Seiten in die Baumkronen, mal direkt und mal durch gläserne Klassenzimmerwände. Die Größe des gesamten Schulbetriebs ist hier nicht wahrnehmbar. Hier ist jedes Geschoss ein eigener Kosmos, jeder Jahrgang eine Lernfamilie.

Das Atrium

Ein Atrium in der Mitte verbindet die Lernhäuser mit zwei breiten Treppenaufgängen und umlaufenden Galerien. Im Erdgeschoss schließen sich die Musik- und Theaterräume, die Fachräume, die Bibliothek, die Cafeteria und die Personalräume an. Ein funktionales Sockelgeschoss, das das Atrium nach außen abschließt und den Blick konzentrisch auf dessen hell beleuchtete Terrazzomitte lenkt. Zum Pausengong klappern fern die Klassentüren, Schritte und Stimmen dringen von den Galerien zur Mitte, werden schnell laut und lauter, bis sie ohrendröhnend das Atrium ausfüllen. Der nächste Gong beendet die 15-Minuten-Pause, und der Lärm kriecht langsam aus dem Atrium, lässt noch einmal Türen klappern bis es schließlich ganz still ist. Danach sagt Wulf: „Die Oberflächen sind hart, extrem beanspruchbar und langlebig, aber für den Schallschutz sind sie schwierig.“ Er verweist auf die Schallschutzplatten hinter dem Streckmetall an der Decke und auf die schalldämmenden Holzpaneele an den Brüstungen. Oben hingegen, auf den Galerien knapp unter den hölzernen Dachträgern des Atriums, schwärmen statt der Schüler Lichtpunkte herein. Durch das gelochte Sonnenschutzblech zaubern sie leise mit jeder Wolke bewegte Muster auf den Boden und die Betonbrüstungen.

Wie teuer darf Schule sein?

Die dezentrale Infrastruktur der Lernhäuser und das großzügige, offene Flächenangebot sind wichtig, damit das selbstbestimmte und interaktive Lernen funktioniert. Aber das bedarf mehr Planung und mehr Kosten. „Der Brandschutz ist zum Beispiel ein Riesenaufwand,“ berichtet Wulf, „jedes Lernhaus braucht eine eigene Fluchttreppe“. Knapp unter 26 Mio. € kostete die Hessenwaldschule. Ihr Landkreis Darmstadt-Dieburg hat 81 Schulen, die sich bis 2018 rund 400 Mio. € Sanierungsbudget teilen müssen. War der Bau also zu teuer? Wulf verneint: „Wir müssen uns klarmachen, dass Schulbauten keine reinen Zweckbauten sind. Sie prägen die, die unsere Zukunft sind.“ Es klingt, als habe Wulf diese Sätze schon oft sagen müssen, vor Journalisten, Politikern und Bauherren. Und er kann damit überzeugen, die Stadt München zum Beispiel: Hier entwickelten die Architekten einen Lernhaus-Prototypen für alle neuen Grundschulen der Stadt. München rechnet dabei mit einem Baubudget von rund 40 Mio. € – pro Schule. Das macht wirklich Lust aufs Lernen. Rosa Grewe, Darmstadt

Baudaten

Objekt: Hessenwaldschule Weiterstadt
Standort: Wolfsgartenallee 8,
64331 Weiterstadt
Typologie: Schulbau
Bauherr: Da-Di-Werk, Eigenbetrieb für Gebäude- und Umweltmanagement des Landkreises Darmstadt-Dieburg
Nutzer: Hessenwaldschule, kooperative Gesamtschule
Architekt: wulf architekten, Stuttgart, www.wulfarchitekten.com
Mitarbeiter (Team): Alexander Vohl, Camilo Hernandez (PL), Carina Klein­ecke, Boris Peter
Bauleitung: atp architekten ingenieure, Offenbach am Main, www.atp.ag
Bauzeit: Oktober 2013 – August 2016

Fachplaner

Tragwerksplaner: Erfurth & Mathes, Beratende Ingenieure, Dresden
HLS-Planer: Ingenieurbüro Wüst & Partner, Erlenbach, www.wuestundpartner.de
Elektroplaner, Lichtplaner: e-plan, Elektro- und Planungsbüro, Griesheim, www.e-plan-online.de
Bauphysik, Akustik: ITA Ingenieurgesellschaft für technische Akustik mbH, Wiesbaden, www.ita.de
Fassadentechniker: wulf architekten, Stuttgart; Herrmann und Partner, Stuttgart, www.wh-p.de
Innenarchitekt: wulf architekten, Stuttgart
Landschaftsarchitekt: Adler & Olesch Landschaftsarchitekten und Ingenieure, Mainz, www.adlerolesch.de
Brandschutzplaner: Ingenieurbüro Mauß GmbH, Otzberg, www.ib-mauss.de

Projektdaten

Grundstücksgröße: 35 645 m²
Nutzfläche: 8 250 m²
Brutto-Grundfläche: 9 693 m²
Brutto-Rauminhalt: 48 938 m³

Baukosten

KG 200 (brutto): 710 000 €
KG 300 (brutto): 13, 26 Mio. €
KG 400 (brutto): 4, 5 Mio. €
KG 500 (brutto): 2, 47 Mio. €
KG 600 (brutto): 446 000 €
KG 700 (brutto): 4, 44 Mio. €
Gesamt brutto: ca. 25,8 Mio. €
Gesamt netto: ca. 21,7 Mio. €
Brutto-Rauminhalt: 363,19 €/m³

Energiebedarf

Primärenergiebedarf: 97,4 kWh/m²a nach PHPP 2007
Jahresheizwärmebedarf: 16,3 kWh/m²a nach PHPP 2007

Energiekonzept

Dach: Beton armiert 320 mm, PS-Hartschaum 250 mm, Bitumendachbahn
10 mm, extensive Dachbegrünung
150 mm
Außenwand: Innenputz 15 mm, Stahlbeton 250 mm, Dämmung 200 mm, Luftschicht 10 mm, Mauerwerk 115 mm
Fenster: Holz/Aluminium, Dreifach-Isolierverglasung
Boden: Terrazzo 80 mm, PU-Hartschaum 70 mm, Beton armiert 600 mm, PS-Extrudierter Schaum 200 mm
Gebäudehülle
U-Wert Außenwand Außenluft =
0,183 W/(m²K)
U-Wert Außenwand Erdreich =
0,190 W/(m²K)
U-Wert Bodenplatte = 0,177 W/(m²K)
U-Wert Dach = 0,152 W/(m²K)
Uw-Wert Fenster = 0,80  W/(m²K)
Ug-Wert Verglasung Oberlicht = 
0,80  W/(m²K)
Ug-total (mit Sonnenschutz) =
0,78 W/(m²K)
Luftwechselrate n50 = 0,4/h

Haustechnik

Anlehnung an Passivhaus-Standard: Wärmeversorgung über eine zentrale Pellets-Anlage, die sich außerhalb des Gebäudes befindet und drei verschiedene Gebäude versorgt.
Verzicht auf Technik im Untergeschoss, Platzierung der Technik im Erdgeschoss und vor allem auf dem Dach. Integration in die Architektur durch Verwendung einer hohen Attika.
Nutzung der thermischen Speichermasse für den sommerlichen Wärmeschutz durch Sichtbetondecken und eine durchlässige Streckmetalldecke.
Nutzung der Nachtauskühlung mit Automatisierung der Elementfassade in den Klassenräumen und den Oberlichtern des Forums.

Hersteller

Fenster: Schindler Fenster und Fassaden GmbH, www.schindler-roding.de
Fassade: Hagemeister GmbH & Co. KG, www.hagemeister.de
Sonnenschutz: HELLA Sonnen- und Wetterschutztechnik GmbH,

www.hella.info
Türen/Tore: dormakaba Deutschland GmbH, www.dorma.com; Hörmann KG, www.hoermann.de
Linoleum: Forbo Flooring GmbH, www.forbo.com
Kautschukboden: nora systems GmbH, www.nora.com
Beleuchtung: Glamox GmbH,
www.glamox.com
Schulmöbel: VS Vereinigte Spezial­möbelfabriken GmbH & Co. KG,
www.vs.de

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