„Tag X“ am Stuttgarter Bahnhof

Die Bagger beißen, die Proteste bleiben. Von Rüdiger Sinn, Stuttgart

Kein Bauprojekt ist derzeit so in den Schlagzeilen wie Stuttgart 21, das die Tieferlegung des Bahnhofes vorsieht. Nun schaffen Bagger Fakten: Gestern Mittag, am 25. August, um 14 Uhr wurde mit einem großen Polizeiaufgebot ein weiterer Schutzzaun errichtet, der Demonstranten vom eigentlichen Bauzaun abhalten sollte. Der von den Projektgegnern titulierte „Tag X“ begann um 14.36 Uhr. Von lautstarken Protesten begleitet grub sich ein großer Abrissbagger mit seinem Greifer in die denkmalgeschützte Fassade des Nordflügels. Durch Alarmketten per sms, twitter und E-Mail informiert, strömten bis zum Abend Tausende in Richtung Bahnhof. Sie blockierten Straßen und Zufahrten. In der Baden-Württembergischen Landeshauptsstadt brach zeitweise der Verkehr zusammen.

Während vor dem Zaun der Protest lautstark zunahm und unter anderem der Rücktritt von Oberbürgermeister Schuster gefordert wurde, gelang es einigen Demonstrierenden auf das Dach des Bonatzbaus zu klettern und unter lautstarkem Jubel ein Banner zu platzieren. Mit der Aufschrift "Brandstifter Schuster – raus aus dem Rathaus" wandten sie sich an Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU). Sie wollen nach eigenen Angaben das Dach erst wieder verlassen, wenn Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) den Abrissstopp veranlasst.

„Das ist eine ungeheure Provokation“, sagte der Sprecher der Parkschützer, Matthias von Herrmann. Die Parkschützer setzen sich als eine der Projektgruppen für den Erhalt des Bonatzbaus und der Parkanlagen ein. „Wir Bürger wurden erneut von den Projektverantwortlichen belogen, denn es hieß, dass der Nordflügel langsam und behutsam rückgebaut wird“. Tatsächlich sollten – so die letzte Verlautbarung aus dem Kommunikationsbüro – die Muschelkalksteine des Baus nummeriert werden und einer anderen Verwendung zukommen. Statt dessen riss der Bagger bis zum Abend ein großes Loch in den Nordflügel.

Derartige Vorgänge provozieren die Bürger, die sich seit Monaten für den Erhalt des Bahnhofes einsetzen und nicht nur die reine Protestkultur pflegen, sondern auch durchaus sachliche Argumente vorbringen. Auch hochrangige Ingenieure treten nun immer mehr vor die Presse. Vor zwei Tagen hat der Tragwerksplaner Frei Otto, ursprünglich Mitplaner des Stuttgarter Hauptbahnhofes zusammen mit Architekt Christoph Ingenhoven, den Entwurf stark kritisiert. „Wenn wir damals (1997 d.Red.) heutigen Informationsstand gehabt hätten, wäre ich bestimmt von der Idee eines Tiefbahnhofs abgerückt“, sagte der 85-jährige der Stuttgarter Zeitung. Das Hauptproblem bleibe die 400 Meter lange und 100 Meter breite Betonwanne, in der der Tiefbahnhof sitze. Diese Wanne müsse so festgehalten werden, dass sie nicht durch das Grundwasser aufschwimmt, sagte der Ingenieur der zusammen mit dem kürzlich verstorbenen Architekten Günter Behnisch das Dach des Münchner Olympiastadions geplant hatte. Von Christoph Ingenhoven und dem Projektsprecherbüro wurden die Äußerungen von Frei Otto zurückgewiesen. Otto sei „weder qualifiziert noch geeignet“ die Risiken zu beurteilen, sagte Ingenhoven. Gut aufeinander zu sprechen sind die beiden Architekten schon lange nicht mehr. Vor einem Jahr zog sich Otto aus der S21-Projektgruppe wegen „wachsender Sicherheitsbedenken“ zurück.

Ein weiteres vernichtendes Urteil kommt vom heute erscheinenden Hamburger Nachrichtenmagazin „Stern“. Zitiert wird aus einem angeblich bisher kaum bekannten geologischen Gutachten der Stuttgarter Firma Smoltczyk. Die dem „Stern“ vorliegende Studie belege, dass der Stuttgarter Baugrund „löchrig wie ein Schweizer Käse, mit Dolinen und Hohlräumen durchsetzt“ sei, so der Autor, Arno Luik. Auch diese Äußerungen wurden sogleich vom Sprecherbüro zurückgewiesen, die Studie sei schon lange zugänglich gewesen und man habe die Probleme im Griff.

Bisher waren die Protest am Stuttgarter Bahnhof friedlich und kreativ. Aber die Luft wird zunehmend spannungsgeladener. Während der Kundgebung am Mittwoch besetzten hunderte Demonstranten die Gleise und verhinderten die Abfahrt einiger Fernzüge, unter anderem eines TGV nach Paris. Die Polizei rückte mit einem Großaufgebot an, es gab kleinere Handgreiflichkeiten, Polizisten wurden angepöbelt und beschimpft. Ansonsten lässt die Polizei die Demonstrierenden in vielen Fällen gewähren und greift bei den groß angelegten Straßenblockaden nicht ein. Wir versuchen uns in einer Deeskalationstaktik, sagte ein Polizeibeamter, der mit einer Hundertschaft im Einsatz war. Allerdings würden die Einsätze an den Kräften zehren. „Viele Kollegen sehen ihre Familie nur noch zwischen 2 Uhr und 6 Uhr nachts“.

„Ich bin wütend und traurig“, bekannte Nils Müller, ein 42-jähriger Projektgegner. Informiert durch die sms-Alarmkette war er bereits um 14 Uhr zum Zaun gelangt, nach einiger Zeit aber wieder nach Hause gegangen. „Ich musste erst mal wieder runterkommen“, sagte er sichtlich berührt. Viele ältere Menschen, die zum Zaun kamen, um das für sie Unfassbare zu sehen, weinten. Viele blieben, manche gingen wieder nach Hause: „Ich muss hier einfach weg, es tut zu sehr weh“, sagte eine betagte Dame mit Tränen in den Augen.

Bis zum späten Abend hatten tausende Projektgegner die Innenstadt im Griff, die Polizei räumten erst gegen 22 Uhr die großen Zufahrtsstraßen. Mehrere Demonstranten harrten die Nacht vor dem Bauzaun aus und demonstrieren bis zur Stunde weiter. Am Freitagabend um 19 Uhr findet erneut eine Großdemonstration statt.

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