Linz. Europäische Kulturhauptstadt 2009

Das einst “Österreichische Ruhrgebiet“ investiert in Kultur und Architektur. Von Werner Jacob, Bad Krotzingen

Linz reime sich auf nichts als Provinz, spottet ein Spruch. Längst freilich trifft solch frivole Anspielung eher ihre Anwender: Die in Oberösterreich über beide Donauufer grätschende Schöne nämlich hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten Fit- und Wellnesskuren sondergleichen absolviert. Sich den Staub der grauen Industriestadt aus der Mähne geschüttelt, Kunst und Kultur zu gleichberechtigten Agenten neben der einst prädominanten Schwerindustrie erhoben, eine architektonische und städtebauliche Frischzellentherapie angetreten, und endlich das ihr scheinbar unlösbar anhaftende Schandmal getilgt, auserwählter Alterssitz und (Raub)-Kunstgral Adolf Hitlers (gewesen) zu sein. Diese stets wiederholte Invektive wurde neutralisiert, indem man noch vor dem Schaulaufen der Europäischen Kulturhauptstadt 2009 die Ausstellung „Kulturhauptstadt des Führers“ ausrichtete; darin so historisch objektiv wie kritisch des Gröfaz‘ Visionen und Planungen für seine „Patenstadt im Gau Oberdonau“ darstellt, be- und ausleuchtet, und somit Ewiggestrigen sowie endlos Nachkartenden die Pfeile aus dem Köcher nimmt.

Entspannt präsentiert sich nun die Stadt im Aufbruch. Was derzeit besonders Bahnreisende wörtlich nehmen können. Empfangen in einem Terminal, wie er auch Flugpassagieren geboten wird – eine Shopping-and-dining-area auf zwei Etagen, überfangen von einem Tonnendach, gläsern, stählern, licht und weit – tritt man unter hohem Baldachin auf einen großräumigen Vorplatz. Wilhelm Holzbauer, einer der Grand old Masterbuilders Österreichs, hat diesen Empfangspalast gebaut; und gleich daneben mit 98 Metern den höchsten Büroturm der Stadt – imposante Partie eines Stadtentrees, würdig selbst einer größeren als der mit knapp 200.000 Einwohnern kleinen Hauptstadt des Landes Oberösterreich.

Bahnhof und „Terminal Tower“ unmittelbar gegenüber, der 63 Meter elliptisch in den Himmel ragende „Wissensturm“, nächtens leuchtendes Wegzeichen für Linzens Neuerfindung als Kulturmetropole: Volkshochschule und Stadtbibliothek logieren darin. Angelegt wurde dieser Willkommensprospekt zum Stadteingang vor dem Hintergrund einer Bestandsaufnahme mit perspektivischen Leitlinien: „Linz 21“. Bereits in den Achtzigern initiiert, zog sich die seinerzeit eher marginalisierte Stadt mit seiner Hilfe am eigenen Schopf in die Zukunft. Angesichts abwärts weisender demographischer wie ökonomischer Trends, wollte man fortan einerseits auf „Wissen“, also universitäre Bildung und technologische Forschung und Entwicklung setzen, sowie auf die – weltweit – wachsende Anziehungskraft von Kunst und Kultur.

Visitenkarten allein freilich machen noch keinen Kaiser. Dessen damals etwas aus der Mode gekommenes Stadtgewand musste übers Fassadenmakeup hinaus funktionsgerecht geschneidert werden. Vornehmlich die Verkehrsinfrastruktur hatte ein Tuning nötig. Mit gut 200.000 Arbeitsplätzen mehr als Einwohner, atmet Linz täglich zwischen Invasion und Exodus; Straßen, Tramway, Bus und Eisenbahn beförderten einst jeder vor sich hin. Dem täglichen Infarkt gegenzusteuern, baute man (und baut) dem motorisierten Individualverkehr Umgehungsstraßen. Zugleich, auch um diesen einzudämmen, galt es das Potential des Öffentlichen Nahverkehrs besser auszuschöpfen. Ihm installierte man ein Plug-in-System unmittelbar am Bahnhof: Straßenbahn und Busse docken an dieser „Nahverkehrsdrehscheibe“ unmittelbar an die Österreichische Bundesbahn an. Dazu wurden Bahnhof samt großräumigem Rayon neugestaltet und -organisiert; die Straßen- wurde zur U-Bahn promoviert, der Omnibus-Terminal dem Erdgeschoss des angrenzenden Dienstleistungzentrums implantiert – trockenen Fußes gelangt man von einem Transportsystem zum anderen.

An dieser nun zur Renommier-Avenue mutierten Kärntnerstraße wurden mächtige Gebäudekomplexe errichtet für Konzernzentralen sowie bedeutende, zuvor über das Stadtgebiet verstreute städtische- und Landes-Behörden. Vor denen die Stadtplanung kapituliert: Die Sockelgeschosse durchgängig verschlossen, entspricht die metropolitane Gestalt nicht dem urbanen Gehalt. Entlang unwirtlichen Unorten nämlich marschiert der Linzgast eher missmutig, als beschaulich zu flanieren ins nahe gelegene alte Zentrum. Vorbei an Linzens derzeit wohl gewichtigster Baugrube, dem künftigen Musiktheater am Volkspark aus dem Atelier des Londoner Architekten Terry Pawson. Für (gehoffte) 150 Millionen Euro setzt die Stadt an diesem Scharnier zwischen Gestern und Morgen einen weiteren Meilenstein ihrer Kulturoffensive.

Fortschreitend auf seinem Weg ins historische Zentrum wird der verhinderte zum wirklichen Flaneur. Wandelt er doch in der „Landstraße“ – nach Wiens Mariahilfer Straße größte und belebteste Einkaufsmeile des Landes – durch ein Medley historischer bis zeitgenössischer Architekturen. Abwechslungsreich bevölkert von unterschiedlichsten Gewerben, kleinen Krämern, mondänen Boutiqen, bombastischen Flagshipstores, weitläufigen Malls. Wo ein Toleranzedikt des Stadtmanagements gilt: „Laissez faire, laissez passer“, demzufolge Verkehrsteilnehmer aller Klassen einander respektieren. Nur zurückhaltend reglementiert, teilen sich Straßenbahn, Autos, Fahrräder, Fußgänger den Straßenraum; nicht nur hier, beinahe in der gesamten Innenstadt. Eine Prise jenes Erfolgsrezepts, die Linz zum Muster flanierfreundlicher Stadtorganisation macht. Fahrspuren auch in den schmaleren Altstadt-Straßen sind gepflastert mit dem gleichen Belag wie die seitlichen Fußgängerbereiche, die, auf gleichem Niveau wie die Fahrbahnen, nur ein augenfälliger Trennstreifen absetzt. Was ebenso verkehrstechnisch funktioniert, wie atmosphärisch: Klaustrophobische Koller hinter Pollern verbarrikadierter Fußgängerzonen-Insassen kommen gar nicht erst auf; vergleichbar am ehesten manch italienischen Städten, durchweht ein kosmopolitaner Esprit diese Stadt.

Noch befördert durch eine vortreffliche Mixtur von Straßen, Parks und Plätzen. Über die inneren Stadtquartiere hinaus ist Linz durchwoben von solchen Freiräumen. Selten besetzt von parkendem Blech – seit einer „Tiefgaragenoffensive“ in die Unterwelt verbannt – noch von kommerziellen Bespaßungsbudiken, können sie über ihre Relaisfunktion hinaus auflockern und abwechseln, stadthygienische Ruheoasen sein, soziale Treffpunkte, Markt- und Veranstaltungsplätze. In den prächtigsten der Stadt mündet die „Landstraße“. Mit gut 13000 Quadratmetern ist der Hauptplatz einer der mächtigsten Österreichs sowie der architektonisch geschlossensten Mitteleuropas. Gesäumt von stattlichen, zumeist über Arkadengängen aufgeführten, fünfgeschossigen Privat- und Geschäftshäusern, ist er Spiegel geschichtlich geschickten Lavierens zwischen Kirche und Kaiser, Merkur und Epikur: Weder Kirche, noch Schloss, oder Theater, einzig das Alte Rathaus repräsentiert die formelle Stadtgesellschaft in diesem von Barock und Rokoko geprägten Bürgersalon. Lediglich zwei neoklassizistische Portalbauten vor der „Nibelungenbrücke“ fallen aus dem Rahmen: Zusammen mit der Brücke, sind sie die markantesten Stücke aus Hitlers Nachlass.

Offensiv geht Linz damit um. Dem östlichen dieser Torbauten hat man zum Kulturhauptstadtjahr ein martialisches Sgrafitto in die Haut tätowiert: Serpetinesk über die Fassade zuckende Blitze allegorisieren die Via dolorosa der gemarterten Opfer des Naziregimes; senkt wer – ratlos, beschämt, verstört – den Blick, liest er womöglich aufs Pflaster gesprühte Gedächtnisorte: „In situ“ titeln kurze Texte, die an lokale NS-Verstrickungen erinnern. So erfährt man, dass der Granit für die Nibelungenbrücke im „nahen KZ Mauthausen unter brutalsten Bedingungen abgebaut“ wurde. Wiewohl höchst umstritten, hat man sich entschieden – Architektur sei nicht Täter – Brücke samt Kopfbauten wenn nicht ins Herz zu schließen, doch immerhin als gebaute Erblast im Stadtantlitz zu inszenieren und zu integrieren.

Überzeugend, vornehmlich nachts. Verschwenderisch illuminiert die Stadt ihre Bühne an beiden Donauufern. Taucht damit, sinnfällig wie kaum an einer anderen ihrer Spielstätten möglich, Geschichte und Gegenwart in rosiges Rampenlicht. Na ja, irisierend zwischen Rosa und Blau: Neonblaue Fassadenbeleuchtung lässt die solchermaßen aufgehübschte Hitler-Historie über Brücke und Fluss hinüber strahlen zum Stadtteil Urfahr. Wo man wohlweislich das in den letzten Siebzigern verbrochene „Neue Rathaus“, ein Archi-Monster aus 1001 Alpträumen, nicht auch noch lichttechnisch akzentuiert. Um so mehr die beiden je an den Ufern einander gegenüberliegenden Kultur-Leuchttürme, hic „Lentos“, haec „Ars electronica“. Lentos, nach der keltisch-lateinischen Bezeichnung für die (Fluss)-Biegung, an welcher die Stadt entstand, ist Linzens Museum der Moderne.

Gestaltet vom Architekturbüro Weber und Hofer aus Zürich wie eine Paraphrase zu Topographie und Architektur der Stadt. Unmittelbar am Ufer streckt sich schlank ein scharfkantig-orthogonaler Bügel glasspiegelnde 130 Meter parallel zum Fluss. Überspannt eine 60 Meter lange Aussparung – analog zur Breite des Hauptplatzes – bedeckt so ein seitlich offenes Forum mit eingebautem Hall-Effekt für Openair-Veranstaltungen oder Spontan-Auftritte freier Künstler; zugleich schattiger Point de vue mit Blick auf verbliebene traute Winkel des einst selbständigen Fischerstädtchens Urfahr am jenseitigen Donauufer. Mitten dorthinein gebeamt vom Wiener Büro Treusch Architecture das Ars electronica, Labor und Spielhalle für experimentelle Erfahrungen high-technologischer Kunst- und Medienkultur. Volatil und immateriell wie seine schaumgeborenen Inhalte, changiert die einer Schiffssilhouette anverwandelte Hülle dieser Kunst-Arche in allen Farben des Spektrums, wettstreitend mit ihrem Gegenüber um die launigsten Lichteffekte ihrer Medienfassaden über den Wassern.

Die vorerst beiden letzten Schlusssteine an der lange stiefmütterlich behandelten Wasserfront. Pionier war in den frühen Siebzigern das von den finnischen Baumeistern Heiki und Kaija Siren entworfene Brucknerhaus. Ein nordisch kühler Rationalismus, der sich indes beschwingt mit gebäudehoch verglastem kreissegmentigen Halbrund dem Flusspanorama zuwendet. Auf dieser innenstadtnahen „Donaulände“ – mit erlesenen Skulpturen bestückte Eplanade, Freizeitpark und Freiluftbühne – wird jährlich die „Klangwolke“ veranstaltet. 1979 mit des einstigen Linzer Domorganisten Anton Bruckners Achter Symphonie inauguriert, war sie die Geburtsstunde der Ars electronica und entwickelte sich zur international renommierten „Son-et-Lumiere“-Attraktion.

Jüngster Baustein der ehrgeizig aufstrebenden Kulturmetropole ist der Südtrakt des Schlossmuseums auf dem Burgberg über der Stadt. Die einst stattliche Vierflügelanlage, zeitweilig Residenz der Habsburger, verlor beim großen Stadtbrand während der Napoleonischen Kriege im Jahr 1800 ihre südliche Flanke; erst in diesem Sommer wurde die Lücke geschlossen. Kompromisslos zeitgenössisch entwarfen HoG Architektur/Hope of Glory aus Graz einen Riegel in der Kubatur des Vorgängers, und setzen ihn passgenau auf dessen Grundlinien auf. Während sich das wehrhafte Original als geschlossen kompakter Korpus mit durchfensterter Lochfassade gab, kommuniziert der Nachfolger Transparenz: Zur Stadt hin betonen eine über die gesamte Front etagenhoch offene „Schattenfuge“ im Erdgeschoss und das längs darauf liegende Gebäudeband die Horizontale. Hinter dem stadtwärts offenen Laubengang voll verglast das Foyer, darüber kryptisch verhüllt in silbern schimmerndem Streckmetall die Ausstellungskassette. Deren vom walmbedachten Hauptbau abweichendes Flachdach freilich frei bleibt von technischen Schmankerln wie Solaranlagen; Fehlanzeige auch eine zeitgemäße Bauteilaktivierung zur energetischen Optimierung.

Wohl ein Tribut an den Etat: Moderate 24 Millionen Euro kosteten Bau und Einrichtung der 6000 Quadratmeter neugewonnenen Ausstellungsfläche für das Gesamtprojekt Schlossmuseum. Mit 28000 Quadratmetern das größte Universalmuseum Österreichs überhaupt, werden hier unter dem Focus Oberösterreich die Naturhistorie seit Urzeiten, sowie Menschheitsgeschichte in kulturellen Zeugnissen exemplarisch vorgestellt. Wobei der neue Trakt selbst zum Schaustück wird. Kristallen funkelnd der dynamisch diagonal gespannte Ausstellungsflügel und diesen mit dem Hauptgebäude verbindende Passerellen. Auch hier der „Fenstereffekt“ des Lentos: Von einem Nebenpatio des Innenhofes aus öffnet sich eine Loggia zum grandiosen Panorama über die Stadt. Im Innenhof kontrapunktischer Akzent zur filigranen Österreichischen Renaissance des Stein-Putz-Palastes, signalisieren technoide Formensprache und ihre Materialien, Beton, Stahl und Glas weit in die Stadt hinein gerade im Kulturhauptstadtjahr Linzens erfolgsgekrönte Teilnahme am Concours d’Architecture contemporaine.

Kulturhauptstadt
Kulturstädte/Kulturhauptstädte gibt es in der EU seit 1985, damals war das Athen, drei Jahre später West-Berlin. Im Jahr 1999 Weimar, ein Jahr drauf teilten sich diesen Titel neun europäische Städte. In diesem Jahr ist Linz mit Vilnius diese von der EU-Kommission benannte Stadt.


Kulturhauptstadt Linz

Kulturhauptstadt Vilnius


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