Strategie und Architektur
Text: Ina Lülfsmann/ DBZ
Wer ist verantwortlich für die Bewältigung des Mangels an bezahlbarem Wohnraum, der seit einigen Jahren in vielen europäischen Städten herrscht? Oder vielmehr für die Entwicklung von neuen Wohnungsbauprogrammen und Konzepten? Sind es einzelne Architekt:innen oder ist hier auch die öffentliche Hand gefragt? Elli Mosayebi und Michael Kraus haben in einer vergleichenden Studie den europäischen Wohnungsbau der Nachkriegszeit untersucht, um mögliche Antworten auf die eingangs gestellten Fragen zu finden. Sie zeigen zum einen die politischen Rahmenbedingungen, unter denen er entstanden ist, und heben zum anderen seine oft unterschätzten Qualitäten hervor. Zugleich liefern sie damit ein Archiv an wirklich guten, aber bisher oft unbekannten Vorbildern, wie beispielsweise dem kleinen Wohnhaus des Architekten Francisco Pereira da Costa in Porto oder dem Terrassenhaus von Olav Selvaag in Oslo.
Sie fokussieren auf zehn europäische Städte „der zweiten Reihe“ – also nicht London, Paris oder Berlin, sondern Zagreb, Köln, Athen. In diesen Städten, so die beiden Architekt:innen Mosayebi und Kraus, konnten die Neubauten programmatischer und im Kontext entwickelt werden, weil sie nicht zwingend den Idealen einer Avantgarde entsprechen mussten.
Die nun in Buchform vorliegende Studie zeigt 54 Projekte mit Fotos (his-torisch und aktuell), Skizzen und Erläuterungstexten, sowie mit nachgezeichneten Grundrissen, Ansichten und Schnitten, die sie besonders gut miteinander vergleichen lassen. Verschiedene Autor:innen ergänzen mehrseitige Essays, in denen sie die Rolle des öffentlichen Sektors bei der Entstehung der gezeigten Gebäude beleuchten. So entsteht ein fundiertes Bild davon, wie die Qualität des Wohnungsbaus in der Vergangenheit vorangetrieben wurde. Wie sie Vorbild für die heutige Weiterentwicklung sein kann und zugleich Mahnung, sie nicht, wie so oft, dem freien Markt zu überlassen. Der ohnehin überzeugende, gut recherchierte Inhalt ist in einem Buch verpackt, das man gerne immer wieder zur Hand nimmt, und in dem man jedes Mal an anderer, sorgfältig gestalteter Stelle hängenbleibt.
Kraus (Hrsg.), The Renewal of Dwelling – European Housing Construction 1945–1975. Triest Verlag, Zürich 2023, 396 S., 600 Abb. u.
Pläne, 89 €, ISBN 978-3-03863-038-8