Mythos und noch mehr
Klein, handhabbarer (als der hier auch besprochene Lucius Burckhardt), ebenfalls wunderbar einfach gestaltet und widerspenstig bis fast zuletzt: Die Geschichte der Pariser Commune 1871, hier erstmals auf deutsch vorgelegt – allerdings nur in Auszügen. Der Autor der „La proclamation de la Commune“ wird immer noch und fast ausschließlich mit seinen Arbeiten/Thesen zum Raum assoziiert, sein „La production de l’espace“ (1974) ist die Arbeit, die Theoretikerinnen bis heute zu weiteren Frage- und Antwortenrunden motiviert, wenn es darum geht, die modernen Konstituenten von Raum ausfindig zu machen und sie kritisch zu hinterfragen.
Nun die teilweise Übersetzung der umfangreichen, teils chaotisch anmutenden „Proclamation“ als „baustelle commune“, ein also eher als zweitrangig gehandeltes Werk Henri Lefebvres, dessen Rezeption in den 1970er-Jahren in Deutschland abzureißen begann und dessen messerscharfes, analytisch sprunghaftes Denken den Diskurs zur Geschichtlichkeit und Geschichterezeption heute nur noch etwas für Spezialisten zu sein scheint.
Warum also ein solches Buch zur Lektüre empfehlen? Weil die Gedanken und Reflexe (nicht unbedingt Reflexionen) zum Wirkpotenzial urbaner Gesellschaften heute so notwendig erscheinen wie bisher kaum. Zwar sind Diskussionen zu den Mechanismen von Stadtbildung und -gestaltung heute mehr als je im Gange, doch ihnen scheint zweierlei zu fehlen: Einmal der Mut, grundsätzliche Themen wie Eigentumsverhältnisse oder soziale Stadtgesellschaftsstrukturen anzusprechen. Dann auch die Freude an der Praxis, also dem Umgang und die Wahrnehmung des „wirklichen Lebens“, dessen Bedeutung seitens der Theoretikerinnen immer stiefmütterlich umschifft wird. Was das wirkliche Leben, also die Praxis, ist und wie man sie darstellen könnte, davon handelt die von Lefebvre aufgezeichnete, interpretierte und die Interpretation interpretierende kurze Geschichte der Pariser Commune. Geschrieben in der „vorrevolutionären“ Zeit der 1968er-Bewegung entdeckt der Autor an allen Ecken und Enden das revolutionäre Potenzial urbaner Gesellschaften. Wobei das „Revolutionäre“ durchaus das darstellt, was die Revolutionen in Europa einmal waren: Umbruchversuche, deren Wirkung zwar unterdrückt, deren Geschichtlichkeit im Topos der „totalen Geschichte“ festverankert und heute immer noch wirksam ist. Ja, Baustellen können so oder so aussehen, immer bedeuten sie aber: Arbeit! Warum auch nicht! Be. K.