De Warren, Amsterdam/NL
Die individuellen Wohnwünsche von mehr als 50 Personen unter ein Dach zu bringen, ist keine einfache Aufgabe – Natrufied Architecture gelang das beim Baugruppenprojekt De Warren in Amsterdam, indem sie sich die ebenso güns-tigen wie flexiblen Eigenschaften des Holzskelettbaus zu eigen machten und den nachhaltigen Anspruch des Projekts bereits in die Fassade einschrieben.
Text: Michael Koller
Exponiert ist nicht nur die Lage: Das Mehrfamilienwohnhaus „De Warren“ bildet das Eckgebäude eines Häuserblocks auf dem sogenannten Centrumeiland, einer neu aufgeschütteten, ungefähr 15 ha großen Insel, die zur New-Town IJburg gehört und im IJmeer am östlichen Stadtrand Amsterdams liegt. Was hier probiert wurde, stellt in den Niederlanden noch ein Novum da: Ein Baugruppenmodell, das in einem partizipativen Prozess nicht nur Wohn-, sondern auch Gemeinschaftsflächen geschaffen und dabei auf die Holzskelettbauweise gesetzt hat. Doch der Reihe nach.
Gemeinschaft im Fokus: Mit 800 m²
gemeinsam genutzter Fläche setzt De Warren neue Maßstäbe des Wohnens im Kollektiv
Foto: Jeroen Musch
Centrumeiland wurde von der Gemeinde Amsterdam als Selbstbau-Insel klassifiziert, auf der die Bewohner individuellen Wohnraum nach ihren ganz persönlichen Vorstellungen schaffen können. 60 bis 70 % der 1 500 bis 1 700 Wohnungen, die auf dieser Insel entstehen werden, sollen in Form von Baugruppen und Eigenbauprozessen realisiert werden. Von den sich bereits in Bau befindenden und noch geplanten Mietwohnungen sollen 40 % als Sozialwohnungen oder Mietwohnungen im mittleren Preissegment entstehen. Dazu unterstützte die Amsterdamer Stadtregierung die Initiative zur Bildung von Baugruppen finanziell und auch juristisch – nach dem Vorbild der Baugruppen in deutschsprachigen Ländern.
Mittels des in Anlehnung an die Stufentempel der Maya als ‘Machu Picchu’ bezeichneten, treppenartigen Raumkonzepts für die Gemeinschaftsbereiche, versuchte man eine tatsächliche Durchmischung von privaten und kollektiven Räumen zu erreichen
Foto: Jeroen Musch
Gemeinsam nachhaltiger
Die Baugruppe De Warren bestand zum Planungsbeginn aus etwa 50 Personen mit sechs Vorständen, die das Zusammenleben bereits über mehrere Jahre als „Anti-Kraker“ getestet hatten. Bei diesem sehr niederländischen Modell verhindern Immobilienbesitzer das Besetzen (ndl. kraken) ihrer leerstehenden Immobilie, indem sie sie günstig und befristet vermieten, bis sie anderweitig Verwendung findet. Im Falle von De Warren weckte die gemeinsame Zeit als Antibesetzer das Bedürfnis der Bewohnerinnen und Bewohner, sich gemeinsam neuen Wohnraum zu schaffen, der sowohl ökologisch nachhaltig als auch sozial verträglich ist. Außerdem wünschte sich das Kollektiv großzügig gestaltete Gemeinschaftsflächen, auf denen sie ihre Vorstellung eines Wohnkollektivs umsetzen können. Mit Natrufied Architecture holte sich De Warren für den Entwicklungsprozess ein Planungsbüro an Bord, das bereits eine umfangeiche Expertise sowie zahlreiche Referenzen im Wohnungsbau vorzuweisen hatte und dabei auch eingehende Erfahrungen im Umgang mit dem Baustoff Holz gesammelt hatte.
Das Auditorium dient als Treffpunkt der Hausbewohner und der Bewohnerschaft des umliegenden Wohnviertels, als Musikpodium, als wettergeschützter Spielplatz für die Kinder oder als Co-Working Bereich für die Erwachsenen
Foto: Jeroen Musch
70 % privat, 30 % kollektiv
„In neun themenspezifischen Workshops luden wir die Bewohnerinnen und Bewohner dazu ein, die Architektur an sich sowie die verschiedenen Teilaspekte zu diskutieren und zu priorisieren“, sagt Boris Zeisser, der gemeinsam mit Anja Verdonk Natrufied Architecture gegründet hat. Zu den Teilaufgaben gehörte zum Beispiel das detaillierte Raumprogramm, die Fassadengestaltung, die Materialverwendung oder die technischen Einrichtungen zur Energieproduktion. Angesichts des zu Planungsbeginns noch sehr offenen und flexiblen Raumprogramms nahmen die Architekten als Berater – in technischer, funktioneller, räumlicher und organisatorischer Hinsicht – eine entscheidende Rolle bei der Konkretisierung der Vorstellungen der Eigentümerinnen ein. „Als fixe Rahmenbedingungen gab es anfangs eigentlich nur das Ziel, 36 Wohnungen im Kostenrahmen und in Übereinstimmung mit der lokalen Bauordnung zu errichten.“
Die tragwerkstechnisch unabhängige Balkenkonstruktion der vorgesetzten Fassade diente der Montage der Pflanzencontainer, die über ein Bewässerungssystem mit Regenwasser vom Gründach versorgt werden. Im Bereich über der Tiefgarageneinfahrt tragen die Balken auch die Balkone der dahinterliegenden 4-Zimmerwohnungen
Foto: Jeroen Musch
Den Wunsch nach einem kollektiven Wohnbau konkretisierten die Eigentümerinnen mit einer selbst für niederländische Verhältnisse radikalen Quote: Jeweils 30 % der ihnen zustehenden Nutzfläche traten die Bauherrinnen und Bauherren für Gemeinschaftseinrichtungen ab, nur 70 % behielten sie für ihren individuellen und privaten Lebensraum. Mit dem Ergebnis, dass schließlich 800 m² Gemeinschaftsflächen für kollektive Einrichtungen, wie ein großes Auditorium, ein multifunktionaler Raum, ein Meditationsraum, ein Kinderspielraum, ein Musikstudio, mehrere Werkstätten, mehrere Co-Working Plätze, eine gemeinschaftlich nutzbare Dachterrasse und ein Gewächshaus zur Verfügung standen. „Allerdings stellte sich die Frage nach der Essenz des kollektiven Wohnens“, erinnert sich Boris Zeisser, „und wie diesem Zusammenleben in einem Neubau räumlich und funktionell Form gegeben werden kann.“
Diagonal statt horizontal
Um eine tatsächliche Durchmischung von Privat und Kollektiv zu erreichen, entwarfen die Architekten diagonal vom Erdgeschoss bis zur Dachterrasse verlaufende Gemeinschaftsbereiche, die das Bauwerk wie ein Rückgrat durchziehen und in abgestuften Raumsequenzen Begegnungen zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern provozieren. So überlagern und verweben sich die privat nutzbaren Zonen organisch mit den Gemeinschaftsbereichen. Tatsächlich beginnt der Gemeinschaftsbereich als dreigeschossiges Auditorium an der Nordostseite, die sich mit einer großen Glasfassade zum davor liegenden Platz öffnet, und wächst treppenartig bis ins Dachgeschoss. Die gemeinschaftlich nutzbaren Wohn-Essküchen der jeweiligen Stockwerke wurden an diese Zone angedockt. Diese gehören – ebenso wie die an den Erschließungsgängen angeordneten, gemeinschaftlichen Toiletten und Badezimmer – in erster Linie zu den kleinen, ca. 20 m² großen Wohnschlafräumen für Singles, von denen es zwei bis drei pro Geschoss gibt. Die Wohn-Essküchen können aber auch von den Eigentümerinnen der größeren Wohnungen für gemeinschaftliche Abendessen mitbenutzt werden. Neben den hofseitig gelegenen Studios mir ihren kleinen Kochnischen gibt es auch vollwertige 3-4 Zimmerwohnungen mit einer maximalen Größe von 70 m². Auch die Erschließung der Wohnungen ist dazu angelegt, die Begegnung untereinander zu fördern: So sind die Wohnungen nicht separat, sondern primär nur über den Haupteingang an der nordwestseitigen Camille Balystraat zugänglich. Als sekundärer Eingang dient das neben der Tiefgarageneinfahrt gelegene Nottreppenhaus an der südostseitigen Nydia Ecurystraat, in dem sich auch die Liftanlage befindet.
Holzpfostenkonstruktion
Teil des Nachhaltigkeitsanspruchs der Eigentümerinnen war die Errichtung des Wohnbaus in Holzbauweise. Angesichts der Verschränkung der kollektiven und privaten Bereiche und der diagonalen Anordnung der Gemeinschaftsbereiche schien ein Holzskelettbau mit massiven Stützenquerschnitten von 50 x 50 cm am besten geeignet. Diese Art des Tragwerks bot den Architekten genügend statischen Spielraum, um die Raumplanung für die unterschiedlichen Wohnungstypologien möglichst flexibel zu gestalten und dabei auch die Vielzahl der kollektiven Räume mit einzubeziehen. Letztlich ging es aber auch darum, Reserven für künftige Umgestaltungen der Wohn- und Gemeinschaftsflächen zu schaffen. Die nichttragenden Zwischenwände wurden mit CLT-Platten errichtet, die Fassaden als Holzskelett ausgeführt und die vorgesetzte Konstruktion zur Fassadenbegrünung als „mikado“-Balkenkonstruktion konzipiert.
Im Vergleich zu jüngeren Wohnbauprojekten von Natrufied Architecture wurden bei De Warren noch viele der Decken in Holz-Beton-Mischbauweise errichtet. So wurde zum Beispiel die ca. 1 m über dem Straßenniveau gelegene Garagendecke ebenso wie die aussteifenden Wände der vertikalen Erschließungen aus Brandschutzgründen als Stahlbetonkonstruktion ausgeführt.
Recycling statt Neukauf
Boris Zeisser erklärt, dass „die Wiederverwendung von Materialien und Bauteilen vor allem im Holzbau interessant ist, da bereits gebrauchtes Holz und Holzbauelemente recht einfach in ihren Längen und Dicken angepasst und zugeschnitten oder zu anderen Bauteilen weiterverarbeitet werden können“. Das größte Problem für die Wiederverwendung sei seiner Erfahrung nach das Fehlen eines funktionierenden Material- und Baustoffkreislaufs für wiederverwertete Baumaterialien in den Niederlanden, weshalb schon die Beschaffung der notwendigen Baustoffe zu einem langwierigen und auch zeitraubenden Forschungsprojekt wurde.
Um bei De Warren die Ambitionen der Eigentümerinnen dennoch umsetzen zu können, limitierte man die Wiederverwendung von Baumaterialien auf die Holzverschalung der Fassade und die Balkenkonstruktion der vorgesetzten Fassade für die „natuurinclusieve“ Fassade, einer Fassade also, in der die Überwucherung durch die Natur bereits vorgesehen wurde.
Für die selbsttragende Balkenkonstruktion konnten jahrzehntealte Ankerpfähle aus sehr hartem und säureresistentem indonesischem Basralocus-Holz vor einer Abfallverbrennungsanlage in Alkmaar gerettet werden. In einem spezialisierten Sägewerk in Rotterdam wurde das Gratisbaumaterial auf die genauen Maße der benötigten Balken mit einem Querschnitt von 20 x 20 cm zugeschnitten.
Dasselbe Sägewerk sorgte für den Zuschnitt der unbehandelten Azobé-Holz-Bretter für die Fassadenverkleidung, die in den Niederlanden für die Errichtung von Stützmauern entlang der Kanäle und im Bereich von Brücken verwendet werden. Die ca. 5 cm dicken Bretter wurden auf die erforderliche Dicke zugeschnitten, vorgebohrt und an der Fassadenunterkonstruktion festgeschraubt.
Wenig gewonnen, viel gelernt
Bei der Wiederverwertung von Baumaterialien und Bauteilen sind, wie Boris Zeisser erklärt, eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen: neben der Verfügbarkeit und der Kosten für das „geerntete“ Material spielt natürlich dessen Qualität eine entscheidende Rolle. Abgesehen davon übernehmen Baufirmen keine Haftung für die Qualität des wiederverwerteten Materials und seine Lieferung, weshalb bei De Warren die Verantwortung für die Organisation, den Zuschnitt, die Zwischenlagerung und Lieferung des Holzes auf die Baugruppe übertragen wurde.
Detail, M 1 : 20
1 Holzrahmen
2 Fensterrahmen
3 Bodenaufbau: Bodenbelag 20 mm, Estrich 70 mm, Dämmung 200 mm, Systemboden (Beton) 250 mm
4 Wandaufbau: Gipskarton 12,5 mm, Folie, HSB Element mit Dämmung 235 mm, belüfteter Hohlraum 28 mm, Nagelleisten 12 x 45 mm, horizontale Lattung 18 mm
5 Verankerung „Mikado“-Pflanzgitter
6 Druckfeste Dämmung 100 mm
7 Schaumglasträgerschicht 115 mm
8 Abdeckblech
9 Pflanzgefäß aus Cortenstahl
10 „Mikado“ Pflanzgitter 100 x 200 mm
Außerdem sei zu berücksichtigen, dass durch Veränderungen in der Baugesetzgebung Bauteile wie alte Türen oder aussortierte Fensterrahmen nicht mehr den aktuellen Normen oder technischen Anforderungen entsprechen und deshalb nicht zum Einsatz kommen können.
Um einen finanziellen Zuschuss von der Gemeinde Amsterdam zu bekommen, musste das gesamte wiederverwertete Fassadenholz im Nachhinein FSC-zertifiziert werden. FSC hat sich dafür eingesetzt, wiederverwertetes Holz zu zertifizieren, sobald die Baufirma oder der Auftraggeber nachweisen kann, wo und wie das Holz „geerntet“ wurde.
Die Wiederverwertung von Baumaterial muss also wohl durchdacht werden. Unterm Strich gingen bei De Warren die Einsparungen, die man durch das kostengünstige Material erzielte, durch die Lager- und Transportkosten sowie die speziellen Zuschnitte wieder verloren. Der Aufwand für die Organisation darf laut Boris Zeisser keinesfalls unterschätzt werden und rechnete sich bei dem Projekt nur durch den persönlichen Einsatz der Baugruppenmitglieder. Immerhin: Dieser Einsatz wurde mit dem Architekturpreis Amsterdam 2023 gewürdigt.
Natrufied Architects
Boris Zeisser, Anja Verdonk
www.natrufied.nl
Anja Verdonk, Boris Zeisser,www.natrufied.nl
Produktdaten
Objekt: De Warren
Standort: Amsterdam
Typologie: Wohnungsbau
Bauherrin: Baugruppe De Warren
Architektur: Natrufied Architecture
www.natrufied.nl
Team: Boris Zeisser, Anja Verdonk, Sebastiaan van Kints, Dinand Kruize
Generalunternehmung: Toekomst Group, www.toekomstgroep.nl
Design: 2018 – 2020
Bauzeit: 2021 – 2022
Fläche: 3 070 m²
Wohneinheiten: 36
Gemeinschaftsflächen: 800 m²
Baukosten: 5,5 Mio. EUR
Fachplaner
Beratung nachhaltige Konstruktion: Eco+Bouw, www.ecoplus-bouw.nl
Tragwerksplaner: Pieters Bouwtechniek, www.pietersbouwtechniek.nl