Vermittlerrolle

"Zukunft ja, nur welche?", im Gespräch mit LAVA

Architekten können die Zukunft sichtbar und erlebbar machen und mit ihren Visionen maßgeblich zu einer lebhaften Diskussion über Zukunftskonzepte beitragen.

Utopien, Visionen, Prophezeiungen, Vorhersagen … Der fragende Blick in die Zukunft ist so alt wie jegliche Zivilisation. Nicht selten offenbart die hellseherische Neugier nach dem Morgen und Übermorgen weniger den Zustand kommender Dinge, als dass er über das Hier und Jetzt Auskunft gibt. Ein Blick zurück auf die Visionen vergangener Generationen zeigt, wie hoch deren Chancen auf die Umwandlung in Realität war oder noch ist. Eine besondere Fatalität haben dabei architektonische Visionen, da sie u. a. konkrete Wünsche über das Bauen in der Zukunft in sich tragen. Ob wir dabei zum Beispiel an Sant‘Elias futuristische Hochhäuser, Le Corbusiers Ville Radieuse oder die Plug-in-City von Archigram denken ist zweitrangig. Immer künden diese visionären Entwürfe auch von einem leichteren, schnelleren, besseren, billigeren etc. Bauen. Aber die Verwandlung der gedachten Zukunft in etwas Reales ist am Beginn des 21. Jahrhunderts mit ­etlichen Versprechungen, Zweifeln und einer gehörigen Portion Skepsis behaftet.

Seit seiner Gründung 2007 leiten und entwickeln wir –  Tobias Wallisser, Alexander Rieck und Chris Bosse – unser Architekturbüro LAVA ganz im Sinne des Akronyms als Laboratory for Visionary Architecture. Unsere Vision und Mission gilt gleichermaßen zukunftsfähigen Architekturformen und -gedanken. Architektur ist dabei weder reines Mittel zum Zweck, noch ist sie einer zügellosen Fantasie ausgesetzt. Aber vielleicht ist unsere Architekturauffassung realitätsgebundener und -näher als uns lieb sein kann? Denn in keinem Zeitalter der Menschheitsgeschichte hatten so viele Bewohner unseres Planeten ­einen derartig freien und direkten ­Zugang zu materiellen und geistigen Gütern. Macht ein derartiger Überfluss satt, erlahmen damit die Fähigkeit und der Wille zur Utopie – sozusagen im heutigen Überfluss gefangen und dem Morgen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert? Mitnichten, da sich immer dringender die Frage nach dem Preis für dergleichen Lebensverhältnisse stellt. Das Immer-weiter-so, aufbauend auf den Verheißungen der Vergangenheit, ist zu einer für uns alle bedrohlichen Dystopie geworden. Worum geht es also bei der Zukunft der Architektur und der des Bauens?

Mehr mit weniger

„‘Weniger ist mehr‘, dieser Satz faszinierte mich: Weniger Häuser, weniger Material, weniger Beton und weniger Energie zu verbrauchen, aber menschlich bauen unter Verwendung dessen, was vorhanden ist: Erde, Wasser, Luft.“ (‚Architektur Natur‘, in „Frei Otto: forschen, bauen, inspirieren“. Hrsg. v. Irene Meissner, Eberhard Möller, München 2015)

Frei Otto, ein für uns heute immer noch aktueller und prägender Vordenker der gebauten Umwelt, gelang es, Vision und die gebaute Realität in einer zukunftsweisenden Gestalt zu vereinen. Dergleichen ist auch ein Ziel für LAVA, allerdings setzen wir zeitbedingt andere Mittel ein und verfolgen leicht variierte Gedankenpfade.

Für uns ist Bauen Denken und Handeln in Einem. Heutiges Bauen muss vorausschauendes Planen beinhalten. Kein Stein auf Stein mehr als Ausdruck einer additiven Schichtung separater Elemente, sondern eine Verkettung und ­Abfolge von komplexen Handlungen, deren visionäres Potential auf einer forschend-hinterfragenden Analyse der Realität beruht. Begrenzte Ressourcen verlangen stringentes Planen und Handeln, das dennoch z. B. einer verbesserten Aufenthaltsqualität und folglich auch einer entsprechenden Lebensqualität für die Nutzer von Räumen geschuldet ist. Die Rolle des Architekten ist dabei, zusammen mit den Fachplanern, in Systemen zu denken und daraus ein ganzheitliches Konzept zu entwickeln. Statt einer rein pragmatisch-technischen Lösung geht es heute und in der Zukunft darum, mit einem Röntgenblick die wirklichen Ursachen der Probleme zu erkennen und Lösungen mit größter Gültigkeit zu entwickeln.

Die Digitalisierung hat längst zu einer Hybridisierung von vormals als gegensätzlich betrachteten Bauweisen geführt. Wir können heute entweder modular oder in Serie bauen und trotzdem Individualität großschreiben. Holz, als der Baustoff des 21. Jahrhunderts, erlaubt seit einigen Jahren selbst Gebäude mit hoher Geschosszahl. Die Nutzung regenerativer Energien, wie z. B. Solar und Geothermie, lässt sich zusammen mit passiven Maßnahmen ­gestaltprägend einsetzen. Auch das Denken im Sinn von Kreislaufwirtschaft („Cradle to Cradle“) und Metabolismus wird längst als gestalterisches Potential genutzt. Gebäude müssen als Materiallager auf Zeit begriffen werden und für einzelne Gebäudeelemente gelten verschiedene Lebenszyklen. Beide Prämissen spielen von Anfang an im Entwurf eine Rolle und sind Teil eines übergeordneten Gestaltungskonzepts. Bauten werden zudem adaptiv und reagieren auf sich verändernde Situationen, innen wie außen. Sie erlauben auch vermehrt die Interaktion mit dem Nutzer. Es geht hierbei nicht allein um smarte oder intelligente Gebäude, sondern um neue Formen der Interaktion zwischen Menschen und dem sie umgebenden Raum, sozusagen eine Auflösung der Vorstellung von starren Hüllen zuguns-ten wandelbarer räumlicher Fluchten.

High-tech und Low-tech: eine Kombination digitaler Technologien und ganzheitlicher Konzepte unter Einbeziehung traditionellen Wissens zur Schaffung von ortsbezogenen, aktuellen Weiterentwicklungen von Strukturen – so könnte die Formel für die Verquickung von baulicher Tradition und Innovation lauten. Dabei erhält auch die Neubewertung geltender Bauvorschriften eine erhöhte Bedeutung, um die oben angeführten Punkte umzusetzen. Neben sinnvollen Regeln zur Vermeidung von Problemen bedarf es performativer Regeln, die innovative, ressourcenschonende, qualitätsbewusste und soziale verträgliche Lösungen fördern und immer neue Möglichkeiten eröffnen.

Stadt der Zukunft

Unsere Städte exponieren sich als geballte Cluster von Wirtschaft, Kultur, Mobilität und sind zugleich Projektionsfläche unterschiedlichster Lebensformen. Ihre Attraktion ist weltweit stark steigend, immer mehr Menschen drängen in die urbanen Zentren. Die Welt wird Stadt – die Stadt zur zweiten Natur des Menschen. Überspitzt formuliert könnten Städte zu einem von Menschen gemachten Paradies mutieren. Dann würden Ressourcen, die die Natur nur zu bestimmten Zeiten oder Orten hervorbringt, ubiquitär verfügbar. Die Stadt würde damit nicht zu einem singulär optimierten System, vielmehr zu einem Ort des Wohlstands, der Begegnung, der Gegensätze und der Simultanität – vielleicht etwas weniger effizient als dafür effektiv!

Städte verstehen wir als „Places of Opportunities“! Sie sind supranationale Gebilde, vernetzt und Zentren der digitalen wie globalen Wertschöpfungsströme. Wie können wir diese Cities of Opportunities planen und bauen? Welche Aspekte dieser visionären Strukturen sind in unserer schnelllebigen Zeit notwendig und welche soziologische Stabilität für den Menschen als Individuum in seinem biografisch-sozialen Kontext?

Der russische Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratjew beschreibt in den nach ihm benannten Zyklen eine wellengleiche Abfolge technischer Innovationsschübe von Anbeginn der Moderne, sprich dem Zeitalter der Aufklärung, bis heute. Seiner Rechnung nach befinden wir uns jetzt am Übergang vom 5. in den 6. Kondratjewschen Zyklus, d. h. auf den der digitalen Revolution folgt der der Gesundheitswirtschaft. Das würde insbesondere für unsere Städte bedeuten, dass wir uns fortan vorrangig um unsere Gesundheit und den Erhalt der Umwelt kümmern. Dem Zyklus zugrunde liegt die Verschmelzung von technischen Errungenschaften und natürlichen Elementen. Dezentrale, lokale Systeme z. B. zur Energie- und Wasserversorgung ebenso wie eng vernetzte Verkehrssysteme prägen die Evolution der Stadt. Ein Miteinander von Mensch und Maschine, Technik und Natur, schafft dabei auch visuellen Reichtum. Daraus entwickelt sich auch ein neues Verständnis von Ordnung: „Order is found in things working beneficially together. It is not the forced condition of neatness, tidiness and straightness all of which are, in design or energy terms, disordered.“ (Bill Mollison: Gründer der Permakulturbewegung in „Permaculture Design Course“, Kapitel 2.9). Mit anderen Worten: Über die absoluten Gesten der Moderne und die Geschichtsversessenheit der Postmoderne wächst bildhaft die technische Natur des postindustriellen Zeitalters.

Und wie in der Moderne sind Architekten als Generalisten – als Gegengewicht zu den Experten aller Couleur – gefragt, einen Beitrag zur Gestaltung der Umwelt als Antwort auf die vielfältigen Trends, technischen Innovationen und veränderten gesellschaftlichen Bedürfnisse zu leisten. Hier geht es neben konkreten Projekten vor allem um eine Veränderung des Verständnisses von Planung hin zur Entwicklung konzeptioneller, performativer Rahmenwerke, die auf Veränderungen reagieren können. Wie verändern Megatrends einerseits und sich wandelnde Anforderungen andererseits unsere Städte? Stichwortartig lassen sich einige der relevanten Themen benennen: Städte als Zentren der Biodiversität, sprich Zentren künstlicher Natur; Sharing Economy & Micro-Living – zwei Begriffe, die die Mehrfunktionalität von Gebäuden in sich tragen und vereinen; Work-Life-Balance als ein Gleichgewicht von Produktivität und Entspannung etc. Denn keine der vier Künste vereint dermaßen das Ideelle mit dem Reellen (im Lehrstuhl für “Innovative Bau-und Raumkonzepte” an der ABK Stuttgart arbeitet Tobias Wallisser mit Studierenden an der Sichtbarmachung der räumlichen Konsequenzen aktueller Themen). Nutzen wir unsere Möglichkeiten als Quelle von Utopien immer mit der offenen Fragestellung „Was wäre wenn?“

Welche Rolle spielt die Digitalisierung?

Bei der Gestaltung unserer Umwelt spielt das Bauen die Rolle eines Transformators. Zum Beispiel wenn wir, gemäß der Kondratjewschen Evolutionsschübe, am Beginn eines ausgeprägten Gesundheitszyklus stehen, sollten wir versuchen, dies auch in die Architektur mit zu übernehmen. Auch wir als Architekten sind damit gefordert, wissen aber zugleich, dass wir erst am Anfang einer langen Entwicklung stehen, an deren Ende Gebäude und Städte existieren könnten, die Menschen inspirieren, körperlich unterstützen, dem Wohlbefinden und der Gesundheit dienen und zudem noch eine gesunde Umwelt schaffen.

Bauen ist derzeit noch weit entfernt von solchen Szenarien und völlig im Low-tech verhaftet. Dabei könnten schon heute durch den Einsatz automatischer und bald autonomer Fertigungstechniken ganz neue Strukturen erzeugt werden (im Forschungsprojekt „Future Construction“ (FUCON) forscht Alexander Rieck an künftigen Bauprozessen).

Dadurch werden vor allem die urbanen Zentren einem beständigen und microinvasiven Wandel unterliegen, was auch ein ganz neues Verständnis von Architektur und Planung hervorbringen wird. Themen wie Künstliche Intelligenz, Deep Learning und Big Data eröffnen Möglichkeiten ungekannten Ausmaßes in Bezug auf Simulation und Planung. Neue Fertigungsprozesse, neue Planungsmethoden führen zu einer „Kinetik der Architektur“.

Werden Architekten dadurch als Visionäre, Gestalter und Steuerer obsolet? Wir glauben auch weiterhin an die Kraft des menschlichen Erfindungsgeists sowie die Fähigkeit zur Kommunikation und Interaktion. Aber der Architekt der Zukunft ist nicht mehr in erster Linie „concerned with dressing the future, speculating, anticipating coming events and holding up a mirror to the world.“ (Ben van Berkel und Caroline Bos: „Move“, Goose Press Amsterdam 1999). Er wird einer der Vermittler sein an der Schnittstelle Mensch/Natur/ Technik.

Architekten können die Zukunft sichtbar und erlebbar machen und mit ihren Visionen maßgeblich zu einer lebhaften Diskussion über Zukunftskonzepte beitragen.
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