Welten und Ersatzwelten
Gleich in die Zukunft: Das Wörterbuch von heute ist digital! Sie kennen Wörterbücher dieser Spezifikation vielleicht nicht (ich kannte sie auch nicht, leider), sollten sie aber kennenlernen. Denn im „Wörterbuch der Sprache“ wird auch der Gebrauch einzelner Wörter in vergangenen Jahrhunderten über Kurvendiagramme anschaulich gemacht. Gibt man das Wort „Architektur“ ein, wird eine Kurve generiert, die die Häufigkeit des Wortgebrauchs „Architektur“ in schriftlichen Medien darstellt; seit 1600.
Im Jahr 1995 gibt es eine absolute Überspitze mit rund fünffachem Wert des zittrigen Durchschnitts. Mario Botta hatte damals seine Kapelle auf dem Monte Tamaro gebaut, der Spiegel nannte sie einen „Urschrei“. Aber kann eine Kapelle in den Bergen ein derartiges Anwachsen des Wortgebrauchs ausgelöst haben?
Ich gebe „Zukunft“ in den Verlaufskurvengenerator ein. 1733 ein erster Peak: Der britsche Unternehmer John Kay erhält ein Patent auf das Flying Shuttle für … Webmaschinen! 1840–50 wie schon bei Architektur Bewegung: Gilt das der einzigen echten deutschen, der März-Revolution?! Und dann das Anschwellen von „Zukunft“ vor der Katastrophe, dem Weltkrieg 1914–18. Beim darauffolgenden Krieg war man schon skeptischer, die Peaks kommen erst nach dem Krieg und bilden einen regelmässigen Wellenkamm jahrzehnteweise, mit allerdings deutlich niedrigerem Ausschlag als 1848.
Nimmt man nun die beiden Wörterkurven zusammen ergibt sich – mit dem Ausnahmepeak zur Märzrevolution – die größte Schnittmenge der beiden Kurven in den 1950er- bis 1970er-Jahren. Womit wir mitten im Thema Bücher zur Zukunft des Bauens sind. Die begann so richtig in den 1920er-Jahren und hatte ihren Höhepunkt in den 1970ern. Danach kam die bis heute andauerende Bücherflut zur Zukunft, die bereits in der Vergangenheit gedacht wurde.
Diese Vergangenheit ist Jahrzehnte her, ist Stoff ungeliebter Vorlesungen und Seminare zur Baugeschichte. Dennoch: Wir können in einem Themenheft zur Zukunft des Bauens die aktuellen Publikationen zur gebauten Zukunft nicht unter den Tisch fallen lassen und stellen Ihnen ein paar davon vor.
Wir beginnen mit Lydia Kallipolitis „The Architecture of Closed Worlds. Or, What Is the Power of Shit?“ In dieser schön gemachten Publikation wird auf überraschend einleuchtende Weise beschrieben, wie sich Zukunftsvorstellungen und geschlossene (architektonische) Welten zusammentun, um uns Unvorsichtigen einen Ort zu bieten, der auch in Zukunft Behausung sein kann. Geschlossene, autarke Gebilde oszillieren dabei auf der Wahrnehmungsskala zwischen klaustrophob und schützend, zwischen rationaler, kalter Maschinenwelt und anthropogener Biosphäre. Die Zukunft damals war auch eine Flucht in scheinbar verlässlichere Systemene.
In der dickleibigen Monographie „Yona Friedman. The Dilution of Architecture“ geht es um genau das Gegenteil. Oder auch nicht. Friedman, der Architekt der Ideen, beschreibt offene Systeme, denen etwas hinzugefügt werden muss, in denen Autarkie nicht der totale Kreislauf ist, sondern die Freiheit des Individuums im Raster „Stadtraum“. Friedmans Hyperwelt hat ganz deutlich die Bilder von Archigram, von Constant (Anton Nieuwenhuys) oder Hans Hollein vorweggenommen ohne sie jedoch hegemonial besetzt zu haben. „The Dilution of Architecture“ ist ein Vermächtnis in Zeiten, in denen Vertrautes und Sichergeglaubtes bedroht sind.
Und dann noch ein Querformat: „Archigram“ liegt schwer auf dem Tisch und beginnt mit der Behauptung, dass dazu schon alles gesagt sei. Was richtig sein mag, denn hier wird schlicht die Geschichte von ARCHItecture TeleGRAM über den Nachdruck der originalen Publikationen nachvollziehbar gemacht (nicht als ein edles Faksimile, eher als Zitatensammlung). Die Reise durch die Architekturbilder dieser Zeit mittels Pop Art, Comic oder wilden Bricolagen lohnt, die offenbar permanente Sehnsucht nach Zukünftigem steigt.
Und dieser Dauerzustand des Träumens wird ganz grundsätzlich erfüllt durch ein monumentales Werk, das Benedikt Taschen noch kurz vor Weihnachten auf den Markt hievt (im Januar in der deutschen Fassung): The Star Wars Archives. Bilder von einer Welt, wie wir sie damals dachten und glaubten, Zukunft sähe genau so aus. Dass das vielleicht ganz anders kommt, konnte, oder wollte George Lucas nicht in eher unspektakuläre Bilder fassen und wir werden noch lange brauchen, diese Ersatzwelten als pure Fiktion anzusehen. Aber: Zeigen wir Ihnen in diesem Heft veritable Lucas-Alternativen? Die Zukunft ist das, so Jorge Luis Borges, was unsere Hoffnungen oder Ängste sich vorstellen. Und so sind die Bilder von der Zukunft Ausdruck von dem, was unsere Blicke gegenwärtig gefangen hält. Nutzen wir unsere Fantasie! Be. K.
The Architecture of Closed Worlds. Or, What Is the Power of Shit?
Lars Müller Publishers, Zürich 2018– Yona Friedman. The Dilution of Architecture.
Park Books, Zürich 2015– Archigram. Park Books, Zürich 2018– Paul Duncan, The Star Wars Archives: 1977 – 1983.
Benedikt Taschen, Köln 2018