Von der Gebäudekante bis zur Tiefengeothermie
Ein Klimaschutzkonzept für Riedstadt

Klimaschutz kann nicht beim einzelnen Objekt aufhören. Vieles muss in ein sinnvolles Zusammenspiel gebracht, aufeinander bezogen werden, um am Ende zur Gesamtstrategie zu kommen, die auch auf unerwartete Ereignisse reagieren kann. Das Riedstädter Klimaschutzkonzept ist hierfür ein hervorragendes Beispiel.

Für den Architekten steht das Objekt im Vordergrund, der Stadtplaner geht in die Fläche. Und doch, für den Klimaschutz reicht das nicht. Für diesen muss man die Senkung des Energieverbrauchs mit dem Potential erneuerbarer Energien verbinden. Es ist ein vielgliedriges Verknüpfen von neuen Verwaltungsstrukturen und persönlichem Engagement nötig, ein multiples Zusammenspiel von allen möglichen Akteuren, Institutionen und Unternehmen, Wissenschaftlern und Privatpersonen notwendig. Dies bis ins Detail zu zeigen, ist ein Verdienst des Klimaschutzkonzeptes (KSK), das Lamia Messari-Becker als damalige Partnerin von Bollinger + Grohmann für die Kommune Riedstadt erarbeitete und das im April 2013 von der Riedstädter Stadtverordnetenversammlung beschlossen wurde.

Der vielleicht größte Verdienst ist freilich, dass dieser Entwurf eine Gesamtschau bietet. Das Riedstädter KSK ist nicht allein ein gewaltiges Rechenwerk und eine umfassende Datensammlung, es verbindet zudem den Gebäudebestand mit den Auswirkungen der Elektromobilität, die Tiefengeothermie mit Treibhaus-Emissionen und Stadträume mit regionalökonomischen Effekten. Dieser weitgreifene theoretische Ansatz ist nicht neu in der Architekturgeschichte, das Handlungsmodell „vom Sofakissen bis zum Städtebau“ findet sich bereits in der Geschichte des frühen Werkbundes wieder

Auch im Riedstädter KSK kommt den privaten Haushalten die Rolles eines „Schlüsselsektors“ zu. Der Bereich verantwortet 44 %
aller Treibhausgase und 26 % des gesamten Energieverbrauchs in der Kommune. Um zu einer deutlichen Reduzierung des Energieverbrauchs zu gelangen, reicht es aber nicht, sich nur um den Neubau zu kümmern. Man muss den Gebäudebestand anpacken, doch dessen Sanierung ist an die Gebäudeeigentümer gebunden und scheitert oft an deren persönlichen Schicksalen. So bleibt das Konzept dann auch nicht beim einzelnen Objekt stehen. Wie der Werkbund mit seinem zentralen Begriff der „Formgebung“ die verschiedensten Aspekte des Lebens gestalten wollte und alles Bemühen im „Gesamtkunstwerk“ kulminierte, so verbindet der Riedstädter Entwurf das Gebäude mit dem Straßenzug, das Quartier mit der Kommune und projiziert ein Gesamtbild, das, verknüpft mit verschiedensten Variablen und Interdependenzen, in konkrete politische Handlungsoptionen mündet. Und darüber hinaus ein Instrumentarium zur Evaluation und Kontrolle all dieser Maßnahmen bietet in Hinblick auf zwei Entwicklungsszenarien bis in das Jahr 2050.

Riedstadt, die Kleinstadt im Südhessischem, die 15 Kilometer von Darmstadt und 45 Kilometer von Frankfurt entfernt liegt, ist ein Kunstprodukt. Geschaffen von der hessischen Gebietsreform aus dem Jahre 1977, die die vormals selbständigen Gemeinden Wolfskehlen, Erfelden, Crumstadt und Leeheim mit dem zentral gelegenen Goddelau, den Geburtsort Georg Büchners, verschmolz. 2007 wurde dem Gemeindegebilde das Stadtrecht verliehen. Seit Mitte der 90er Jahre befasst sich die 22 000-Einwohner-Stadt mit Klimaschutz. Die Agenda 21, das 1992 in Rio de Janeiro beschlossene Leitpapier zur nachhaltigen Entwicklung, war den Riedstädtern Anlass zur Entwicklung einer eigenen Agenda. Im Jahre 2000 beschlossen die Stadtverordneten eine „Riedstädter Agenda 21“. Ein Ergebnis dieses Prozesses war die Ausweisung von fünf Neubaugebieten, in denen laut
B-Plan der Niedrigenergie-Standard galt. Insgesamt 1 500 Wohneinheiten konnten mittlerweile erstellt werden mit Anforderungen, die selbst die neue ENEV 2015 erfüllen. Im September 2009 trat Riedstadt dem „Klima-Bündnis der Kommunen“ bei, in dem sich die Städte verpflichteten, ihren CO2-Ausstoß alle fünf Jahre um 5 % zu vermindern. Ziel ist, bis 2030 die Pro-Kopf-Emissionen zu halbieren. In der Solarbundesliga liegt Riedstadt in der hessischen Landeswertung auf dem fünften Rang. Vor diesem Hintergrund ist das KSK laut Hans-Jürgen Unger, stellvertretender Fachbereichsleiter Stadtentwicklung und Umweltplanung in Riedstadt, eine methodische Bündelung und Fortschreibung aller Bemühungen. Eine Fortschreibung, bei der jeder Akteur die Konsequenzen seiner Handlungen abschätzen kann – der unterlassenen inklusive.

„Wenn in Riedstadt keine höheren Anstrengungen als bisher unternommen werden und nur von den gemäßigten Randbedingungen des Grundszenarios ausgegangen wird, erfolgen zwar auch CO2-Minderungen, die Ziele des Klima-Bündnisses werden jedoch verfehlt.“ Mit diesen Worten beginnt das Kapitel „5.2 Fazit“ des KSK. Und daran angeschlossen: „In den Exzellenzszenarien ist
dagegen das Ziel erreichbar.“ Mit Grundszenario meint Messari-Becker eine moderate Effizienzsteigerung in allen Bereichen des Energieverbrauchs, eine Übernahme des bundesdeutschen Trends bei Photovoltaik-Anlagen und Wärmepumpen. Und eine Sanierungsrate von 1 % beim Gebäudebestand pro Jahr. Das Exzellenzszenario dagegen ist ambitioniert. Engagement und Eifer – teilweise politisch schwer durchsetzbare, teilweise sehr in die Breite gehende Maßnahmen – werden gefordert. Dieses Szenario geht davon aus, dass das Potential zur Erzeugung
regernativer Energien in Riedstadt zu 100 % genutzt wird. Dass dazu „ein striktes Ordnungsrecht mit hohen Vollzugsstandards“ aufgerufen wird. Dass die Sanierungsrate beim Gebäudebestand jährlich 3% beträgt. Doch Messari-Becker weiß um das hohe Ziel des Exzellenzszenarios. Sie wolle „am Boden bleiben“ und sagt: „Am Ende wird die Wahrheit wohl in der Mitte liegen.“

Um dies zu veranschaulichen, sei auf die auf den ersten Blick gering scheinende Differenz von 2 % bei der jährlichen Sanierungsrate des Gebäudebestandes bei beiden Szenarien hingewiesen: Messari-Becker ließ einen Fragebogen an alle 8 369 Riedstädter Haushalte verteilen und bekam rund 1 200 davon ausgefüllt zurück. Damit konnte sie der Situation und den Motiven von privaten Hauseigentümern ziemlich detailliert nachspüren. Gefragt wurde nach den Eckdaten der Gebäude, nach Heizungsart, Wärme- und Stromverbrauch, aber auch nach Sanierungsmaßnahmen der vergangenen zehn Jahre und künftigen Sanierungsabsichten. Mit den Antworten sowie zusätzlichen Daten von Kommune, Energieversorgern und Geoinformationssystemen konnten einerseits Stadträume in so genannte Energiehomogene eingeteilt werden: Aufgrund von Entstehungszeit und damaligen Vorschriften haben die zu Stadträumen und Straßenzügen zusammengefassten Gebäude charakteristische Energieverbräuche, aber auch bestimmte „Begabungen“, regenerative Energien zu erzeugen. Wobei nicht nur an Photovoltaik, sondern auch an Solarthermie und Abwasserwärmerückgewinnung gedacht ist. Klar herausgefiltert wurde zum Zweiten, dass Hausbesitzer meist aus finanziellen Gründen ihre Häuser nicht energetisch sanieren. Auch das Alter spielt eine Rolle: Es lohnt sich für sie oft nicht mehr.

Das KSK weiß auch hier einen Ausweg: eine Kooperation mit einer Energiegenossenschaft. Letztere könnte in die Sanierung investieren und als Gegenleistung die Summe eingesparter Aufwendungen erhalten. Die Wertsteigerung der Immobilie bliebe für den Hauseigentümer. Auch könnte die Energiegenossenschaft Dachflächen mieten oder eben aus den Abwässern Wärme rückgewinnen. Würde er auch liebend gerne, bemerkt Friedbert Schmidt etwas resignierend. Er ist einer von vier ehrenamtlichen Vorständen der „Energiegenossenschaft Ried“, die sich 2013 aus den KSK-Arbeitsgruppen gründete und mittlerweile 140 Mitglieder hat. Im Einklang mit dem Klimaschutzkonzept fordert er: „Jetzt muss ein Quartierskonzept her.“ Viele Hauseigentümer wären für eine Kooperation mit seiner Genossenschaft bereit, es müsse der Zusammenhang von energetischer und altersgerechter, also barrierefreier Sanierung deutlich werden, es fehle aber die Initiative von Seiten der Stadt. Die Kommune freilich hat eine Menge Schulden, ist eine so genannte Konsolidierungsgemeinde: Der Haushalt steht unter Vorbehalt, es dürfen keine Kredite für Projekte aufgenommen werden, die über die Pflichtaufgaben einer Kommune hinausgehen. Aber auch von den Bundespolitikern ist Schmidt enttäuscht. 150 000 € hat die Energiegenossenschaft Ried 2014 in Photovoltaik investiert, auf Dachflächen von großen öffentlichen Liegenschaften entsprechende Module installiert – bis das Energieeinspeisegesetz (EEG) reformiert und Solarstrom unrentabel wurde. Mit seinen Mitliedern konzentriert sich Schmidt derweil auf andere Vorhaben: Auf der anderen Rheinseite im Rheinhessischen will man sich mit 25% an einem 3-Megawatt-Windrad beteiligen. Darüber hinaus arbeitet man an einem Nahwärmenetz aus Industrieabwärme. 2017 könnten, wenn alles klappt, mit einer projektierten Leis-tung von sieben Megawatt 2 500 Haushalte (mehr als ein Viertel in Riedstadt) mit Energie versorgt werden. Windkraft wird auch im KSK als Handlungsoptionen genannt, freilich, weil lokale Bedingungen ungünstig sind, eher unter ferner liefen. Auch für die angedachte PV-Anlage entlang der Bahnstrecke nach Mannheim bzw. Frankfurt – das KSK spricht von einem Gesamt-Stromertrag von etwa 21 GWh pro Jahr – erwartet Unger wegen des EEG nichts Gutes. Hoffnungen indes setzt er auf Geothermie. Weil auf Riedstädter Gebiet zwischen der Nachkriegszeit und den 1990er Jahren Erdöl gefördert wurde, sei die Stadt, so Unger, einer der am besten geologisch erforschten Standorte für Geothermie. Ein Interessent sei vorhanden, im nahen Trebur werde bereits ein Erdwärme-Kraftwerk gebaut. Falls ein solches Kraftwerk auch in Riedstadt errichtet werden könnte, wäre man, laut Unger, viel weiter, als es das Grundszenario vorgäbe. Beide, sowohl das Kraftwerk als auch die Solaranlage an den Bahngleisen sind im Grund-  wie im Exzellenzszenario nicht eingerechnet. Das Riedstädter KSK erweist sich aber als flexibel genug, auch solche unerwarteten Gelegenheiten aufzunehmen und als Stellschrauben in eine Gesamtstrategie zu integrieren.

Das Riedstädter Klimaschutzkonzept kann man hier herunterladen:
www.riedstadt.de/nc/get/download/klimaschutzkonzept-2013.pdf

Kenndaten Riedstadt
Größe: ca. 7 376 ha
Einwohner: ca. 22 000
Einwohnerdichte: ca. 290 EW/km²
Stadtteile:
Crumstadt, Erfelden, Goddelau, Leeheim, Wolfskelhen
Flächenanteile in %:
Siedlungsfläche: 5%
Landwirtschaftsfläche: 66%
Waldfläche: 11%
Öff. Einrichtungen u. Gewerbe/Industrie: 2%
Verkehr: 5%
Gewässer, Sonstiges: 11%
Kenndaten Projekt
Laufzeit: 1 Jahr nach Antragsgenehmigung
Abschlussbericht: April 2013
Projektförderung:
Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Berlin; www.bmub.bund.de
über die Klimaschutzinitiative der Bundesregierung
Projektträger:
Projektträger Jülich, Forschungszentrum Jülich
Auftraggeber:
Magistrat der Stadt Riedstadt, Hans-Jürgen Unger, Fachgruppen- und Stabstellenleiter, Fachbereich Stadtentwicklung und Umwelt-planung, Fachgruppe Umwelt, Stabstelle Wirtschaftsförderung und Umweltmanagement www.riedstadt.de
Erstellung des Klimaschutzkonzeptes, inkl. fachlicher Beiträge bei der Bürgerbeteiligung:
Bollinger + Grohmann Ingenieure; Projektakquise und -leitung: Prof. Dr.-Ing. Lamia Messari-Becker (2009-14), seit 2014 Universität Siegen, www.gub.architektur.uni-siegen.dewww.www.bollinger-grohmann.com
Teilanlaysen zu Bestand und Potential
erneuerbarer Energien:
EKP Energie Klima Plan GmbH Nordhausen
Moderation, Bürgerbeteiligung, Öffentlichkeit zum Klimaschutzkonzept:
memo-consulting…, Dipl.-Ing. Joachim Fahrwald, Dipl.-Biol. Gerhard Eppler, Seeheim-Jugenheim
www.memo-consulting.de
Begleitende Arbeitsguppen und Beiräte:
Riedstädter BürgerInnen/ Unternehmen, AG Energieeffizienz, AG Erneuerbare Energien, Klimabeirat der Stadt Riedstadt
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