Theoretisch am Ende
Rem Koolhaas hat keine Zeit. Der Architekt und Enfant Terrible des internationalen Architekturjetsets produziert Häuser und Texte auf der Rückbank des Autos, im Flugzeug oder der
Lounge eines Hotels irgendwo in der Welt. Immer zu Fragen des Urbanen und seiner (Mega-)Zukunft befragt und auskunftgebend, hat sich der Niederländer mit Weltbürgerhabitus nun – ob es dem Alter zuzuschreiben ist? – des ländlichen Raums angenommen. Also seine StudentInnen, seine Forschungsabteilung AMO, einige der LehrerkollegInnen und seine international unterwegs seienden FreundInnen. „Countryside“ steht vorne auf dem Taschenbuch im Silberumschlag, drei Frauen mit Trachtenkleidern reichen uns Lesern irgendetwas vom Land.
Überraschen mag diese Arbeit nicht, denn das Urbane ist seitens der Publizistik längst nicht mehr zu überschauen, trotz seines, wie Koolhaas richtig anmerkt, verschwindend geringen Anteils am Flächenangebot der Terra firma insgesamt. Dabei spielt das auch „Hinterland“ geschimpfte Rurale für die immer noch, aber schon langsamer explodierenden Megacities eine zentrale Rolle: Sie versorgen die dichtzusammengeballten Menschenmassen mit dem Lebensnotwendigen; beispielsweise mit Luft, in der noch Sauerstoff vorhanden ist.
Nun also nicht mehr das Delirium, nicht mehr die Verheißungen von Dichte und Geschwindigkeit, von maximalem Output und geistiger Führerschaft, jetzt das Land. Das wir, so wie wir es aus der Kindheit oder Erzählungen noch kennen, gar nicht mehr finden. In unterschiedlichen Essays unterschiedlich fokussierter AutorInnen wird die Countryside als Notwendigstes, aber immer mehr sich auflösendes Chimärenhafte beschrieben. Wir lesen Geschichten und sehen Bilder aus der ganzen Welt und fragen uns bei anhaltender Lektüre: Ja, aber?! Bevor wir das Buch schließen, kommt uns unsicher Fragenden der Autor und Herausgeber, Rem Koolhaas, zuvor mit seinen Fragen. Auf den letzten 28 Seiten hat er sie alle notiert: Zig Fragen, die er uns und offenbar auch sich selbst stellt, beispielsweise, wohin nun die Kühe gegangen sind und auch: Wann? Ein Pamphlet? Ein Schlussstrich? Ein letzter Versuch? Man hat Rem Koolhaas als den letzten Theoretiker unter den Bauenden bezeichnet; hier ist er theoretisch ans Ende gekommen. Be. K.
A Report. Taschen Verlag, Köln 2020, 352 S., zahlr. Farbabb.20 €, ISBN 978-3-8365-8439-5