Architektonische Mitte, neu gebaut

Rathaus, Bissendorf

Mit dem Neubau des Rathauses im niedersächsischen Bissendorf haben blocher partners einen charakterstarken architektonischen Ortsmittelpunkt geschaffen. Das materialbetont und mit hochwertigen Details ausgeführte Ensemble zitiert mit einem langgestreckten Verwaltungsriegel und einem offenen Bürgersaal die regional verwurzelte Typologie des „Niederdeutschen Hallenhauses“.

Die Bauaufgabe „Rathaus“ gehört zu den interessantesten und gleichzeitig verantwortungsvollsten Herausforderungen, die der Berufsstand des Architekten zu planen hat. Nicht nur, weil sie dem Planer in aller Regel die Gelegenheit bietet, die räumliche Mitte eines Gemeinwesens städtebaulich und architektonisch neu zu fassen, sondern auch, weil das Rathaus immer auch Sinnbild, Verkörperung und Vorbild unseres demokratischen Zusammenlebens ist. Eine beispielhafte Umsetzung der verschiedenen Aspekte zeigt der Bau des neuen Rathauses in Bissendorf, einer rund 15 000 Einwohner zählenden Gemeinde, gelegen rund 10 km östlich von Osnabrück zwischen den Ausläufern des Wiehengebirges und des Teutoburger Waldes.

Grundlegende Neuordnung

Jahrzehntelang war die Gemeindeverwaltung des Ortes in einer zunehmend zu kleinen ehemaligen Landwirtschaftsschule aus den 1950er-Jahren untergebracht: „Entsprechend hat es hier schon mehrere Anläufe zum Bau eines neuen Rathauses gegeben“, blickt Bürgermeister Guido Halfter zurück. „Wirklich spruchreif wurden die Planungen aber erst, als wir 2013 die Möglichkeit hatten, im Rahmen einer umfassenden Ortskernsanierung mehrere Grundstücke am gewünschten Standort nordwestlich der katholischen Pfarrkirche St. Dionysius aufzukaufen.“ Um die Chance zu nutzen und neben dringend nötigen neuen Räumlichkeiten gleichzeitig auch eine hochwertig gestaltete neue Ortsmitte zu schaffen, wurde kurz darauf ein bundesweiter Realisierungswettbewerb ausgeschrieben, bei dem sich schließlich das Stuttgarter Büro blocher partners gegen 14 Mitbewerber durchsetzen konnte.

Ausgehend von der Grundidee, dem bislang gesichtslosen Zentrum eine neue städtebauliche Struktur und eine unverkennbare Identität zu verleihen, hatten die Planer vorgeschlagen, den vorhandenen Platz grundlegend neu zu strukturieren und einzufassen: „Die komplette Umgebung war bislang ein Ort mit völlig heterogener Struktur, ohne einprägsame Gestalt und ohne stadträumlich formulierte Bezüge“, beschreibt Projektleiter Wolfgang Mayer die Ausgangssituation. „Als Antwort darauf haben wir das geforderte Raumprogramm auf zwei versetzt angeordnete Baukörper verteilt und damit klar definierte, neue Stadträume geschaffen.“ Einem langgestreckten Verwaltungsbau, der in Nord-Süd-Richtung auf den Kirchplatz zuläuft und auf zwei Ebenen Raum für 45 Mitarbeiter bietet, schließt sich in Richtung Südwesten ein deutlich kleinerer, als städtebauliches Gelenk vorgelagerter Bürgersaal an. Gemeinsam säumen beide Baukörper den südöstlich angrenzenden Kirchplatz und umschließen gleichzeitig einen rückwärtig nach Nordwesten neu angelegten terrassierten Bürgergarten, der durch Einfassungen aus Beton untergliedert wird. Ein wichtiges Detail zur Differenzierung der beiden Baukörper sind dabei die unterschiedlichen Dachformen; denn während der Verwaltungsbau mit einem flacheren, asymmetrischen Satteldach ausgebildet wurde, präsentiert sich der Bürgersaal mit einem symmetrisch gestalteten Dach mit imposantem Steilgiebel.

Komplettiert wird das in rund einjähriger Bauzeit realisierte Projekt durch eine neu geschaffene Brücke vom Foyer des Verwaltungstraktes zum östlich direkt angrenzenden historischen „Haus Bissendorf“, in dem sich unter anderem das Trauzimmer der Gemeinde befindet. Für eine optimierte Anbindung des Neubaus integrierten die Planer außerdem einen nördlich an den Bürgergarten angrenzenden Parkplatz, der über eine Gebäudeunterführung auch von Osten her erreichbar ist.

Moderne Interpretation des Niederdeutschen

Hallenhauses

Neben einer intelligenten städtebaulichen Lösung sollte der Entwurf eine hohe Identifizierung der Bürger mit dem Neubau ermöglichen: „Im Rückgriff auf regionaltypische Hausformen haben wir den Bürgersaal deshalb als moderne Interpretation des Niederdeutschen Hallenhauses gestaltet – einer jahrhundertelang im ländlich-bäuerlichen Norddeutschland verbreiteten Hausform mit Holz-Ständer-Fachwerk, Satteldach und mit einem einzigen Raum im Innern“, wie Wolfgang Mayer erklärt. Einen gelungenen Kontrast zu dieser archetypischen Gebäudeform schafft die betont moderne Umsetzung und Detaillierung mit hellen Klinkerfassaden, die in ihrer Anmutung den ortstypischen Sandstein aufgreifen, mit einer Dachverkleidung aus Zinkblech sowie mit großen, dreifach verglasten Einzelfenstern mit anthrazitfarbenen Rahmen und tiefen Holzlaibungen. Die materialbetonte und bewusst reduzierte, nichtsdestotrotz selbstbewusste Gestaltung betont auf den ersten Blick die Bedeutung des neuen Ensembles, tritt dabei aber ganz bewusst nicht in Konkurrenz zum historischen Kirchenbau.

Der Innenraum des Bürgersaals wurde mithilfe heutiger bautechnischer Möglichkeiten komplett stützenfrei konstruiert und durchgehend mit Sichtbeton sowie mit Wandverkleidungen, Stabparkettboden und weiteren Details aus Eichenholz ausgeführt. Im Zusammenspiel ist ein offener und einladender Raum von 12 m Höhe entstanden, der sich für unterschiedlichste Veranstaltungen nutzen lässt: „Je nach Anforderung lässt sich das Haus am Abend zu einem Bürgersaal für 150 Gäste verwandeln, in dem Ratsveranstaltungen ebenso stattfinden können wie öffentliche Lesungen, Theateraufführungen oder Bürgerinformationen“, erklärt Christian Schwarz, der die Gemeinde als Leiter Tiefbau vertreten hat. „Die akustisch aktive Holzverkleidung sorgt dabei für optimierte Nachhallzeiten, so dass hier sogar Konzerte stattfinden können.“ Eine ungewöhnliche Lösung wurde für die Belüftung des Raumes gefunden: „Um Kosten zu sparen, haben wir letztlich fünf große Lüftungsklappen ins Dach des Gebäudes integriert und auf die zunächst geplante Lüftungsanlage verzichtet.“

In ähnlicher Materialsprache präsentiert sich das angrenzend als Zweispänner mit luftigen Fluren und offenen Wartebereichen ebenso bürger- wie mitarbeiterfreundlich umgesetzte Rathaus, das die gesamte Verwaltung des Orts unter einem Dach zusammenfügt. Für die Längsfassaden kamen neben den hellen Klinkerfassaden im vorderen Bereich auch bronzefarben beschichtete Aluminiumprofile zum Einsatz, im Innenraum sorgen farbige Wandflächen in den Tönen Ingwer, Salbei und Tiefrot für gelungene Akzente. Ein schönes Detail sind außerdem die an verschiedenen Stellen im Gebäude mithilfe von Matritzen in die Sichtbetonflächen eingelassenen Wappen der Gemeinde.
Gelungene Zusammenarbeit von Bauherrschaft, Architekten und Nutzern

„Zu Beginn des Projektes gab es durchaus einige Zweifel bei Ratsmitgliedern und einigen Bürgern“, blickt Guido Halfter zurück. „Das hat sich aber im Verlauf des Prozesses komplett gewandelt – und das nicht zuletzt auch deshalb, weil wir von Beginn an den Schulterschluss mit allen Beteiligten gesucht und unterschiedlichste Interessen berücksichtigt haben.“ Die Umsetzung des Bürgersaals stand dabei aus Kostengründen lange Zeit unter Vorbehalt: „Mit einem konsequenten Kostenmanagement war es uns letztlich aber möglich, das gesamte Ensemble mit seiner hochwertigen Detailausbildung und der Verwendung langlebiger Materialien innerhalb der vorgegebenen Zeit und innerhalb des Kostenrahmens von etwa 3,8 Mio. € zu realisieren.“ Und das Ergebnis kann sich sehen lassen: Mit überschaubarem Budget hat die Gemeinde Bissendorf ein offenes und einladendes Rathaus und zugleich ein lebendiges Zentrum erhalten, das sich mit regionaltypischen Materialien und einem Rückgriff auf archetypisch überlieferte Bauformen wie selbstverständlich in den Ort einfügt und ihm eine einprägsame Gestalt verleiht. Robert Uhde, Oldenburg

Baudaten
Objekt: Neubau Rathaus mit Bürgersaal, Bissendorf
Standort: Kirchplatz 1, 49143 Bissendorf
Typologie: Gebäudeensemble: Langhaus (2-spännig), Bürgersaal, Historisches Haus
Bauherr: Gemeinde Bissendorf
Nutzer: Gemeinde Bissendorf
Architekt: blocher partners, Stuttgart, www.blocherpartners.com Projektleiter: Wolfgang Mayer, Mitarbeiter: Vanessa Bollmann, Valentin Ott, Anne Smerat
Bauleitung: blocher partners
Bauzeit: Juni 2014  –  Juli 2015
Fachplaner
Tragwerksplaner: Dr. Ehlers-Unland, Osnabrück, www.ehlers-unland.de
HLS-Planer: Jager und Partner Ingenieurgesellschaft mbH, Osnabrück, www.jagerundpartner.de
Elektro: Ingenieurbüro Büro Schlegel & Reußig GmbH, Lage, www.isr-ingenieure.de
Fassadentechniker: blocher partners, Stuttgart, www.blocherpartners.com
Innenarchitekt: blocher partners, Stuttgart, www.blocherpartners.com
Akustikplaner und Bauphysik: DS-Plan, Stuttgart, www.ds-plan.com
Landschaftsarchitekt: Glück Landschaftsarchitektur, Stuttgart, www.buero-glueck.de
Projektdaten
Grundstücksgröße: 5 200 m²
Nutzfläche gesamt: 2 017 m²
Nutzfläche: 1 494 m²
Technikfläche: 116 m²
Verkehrsfläche: 407 m²
Brutto-Grundfläche: 2 408 m²
Brutto-Rauminhalt: 10 133 m³
Baukosten
Gesamt brutto: 3,7 Mio. € (KG 300 bis 700)
Gesamt netto: 2,6 Mio. € (KG 300 + 400)
Energiebedarf
Primärenergiebedarf: 133 kWh/m²a nach EnEV Jahresheizwärmebedarf: 12,2 kWh/m²a nach EnEV
Gebäudehülle
U-Wert Außenwand = 0,18 W/(m²K)
U-Wert Fassadenpaneel = 0,35 W/(m²K)
U-Wert Bodenplatte = 0,2 W/(m²K) U-Wert Dach = 0,14 W/(m²K) Uw-Wert Fenster = 1,0 W/(m²K)
Ug-Wert Verglasung = 0,7 W/(m²K)
Hersteller
Dach: RHEINZINK GmbH & Co. KG, www.rheinzink.de
Fenster: Schüco International KG, www.schueco.com
Fassade: Ziegelei Hebrok GmbH & co. KG, www.hebrok-ziegler.de
Teppich: Fabromont AG, www.fabromont.ch
Sanitär: DURAVIT Aktiengesellschaft, www.duravit.de
Außenbeleuchtung: BEGA Gantenbrink Leuchten KG, www.bega.de
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