Metaebenen für alle
Der gegenwärtige wie zukünfige Städtebau geht in die Luft

Der Mensch ist erfinderisch, und wenn der Mensch Not hat, wird er ganz besonders angetrieben, seine Not mittels Erfindung zu mildern, gar die drückende Last verschwinden zu machen. Es gibt zahllose Beispiele dafür, wie arme Menschen sich den urbanen Raum aneignen, ohne dabei auf die Infrastrukturen zurückzugreifen, die Behörden, Makler oder andere Kapitalinteressenvertreter dem zahlungsfähigen Investor anbieten. Nicht selten über Nacht entstehen illegale Siedlungen, die sich, wenn man sie gewähren lässt, zu komplexen Siedlungen auswachsen. Deren Strukturen sind dabei effizient und meist auch höchst widerstandsfähig gegen alle Versuche, sie ins Bestehende zu integrieren oder gar, sie wieder zu entfernen.

In Hongkong, der in der wilden Siedlungspraxis wohl experimentellsten Stadt der Welt, gibt es die mobilen Papp- oder Blechhütten in den Straßen, auf den Restflächen des Reststadtraumes, den man guten Gewissens noch öffentlichen Raum nennen kann, und natürlich gibt es auch die Ghettos an den Rändern. Von hier aus fehlt meist der barrierefreie, direkte Zugang zur Stadt und damit zur Erwerbsarbeit. Das Wohnen auf der Straße in der Stadt ist gefährlich und tatsächlich als das Ende einer Suche nach Schutz, nach Beheimatetsein anzusehen. Den meisten bleibt die kleine Wohnung, die längst in weitere aufgeteilt ertragstechnisch optimiert wurde. Wer noch weniger kann, dem bleibt ein Bett; frühindustrielle Zustände, wie sie vor gut hundert Jahren dem Berliner Lumpenproletariat alltägliche Gewohnheit war.

Oder man geht auf die Dächer. Meist auf Hochhäusern illegal aus Ziegeln, Betonsteinen, Holzresten und Wellblechen gefügt, legen sich diese Behausungen wie krank machender Belag auf ohnehin schon faule und angesicht der rundum in den Himmel ragenden Wohntürme wie abgekaut ausse­hende Zähne, die hinter ihren verschimmelten Bröckelfassaden Hunderttausenden Wohnraum geben. Weil sie in der Regel nicht mehr gewartet werden, werden ausgerechnet diese zehn und mehr Stockwerke hohen, meist von Chinesen errichtete Bauten aus den vierziger oder fünfziger Jahren von findigen Immobilienentwicklern genutzt: Sie bauen günstige Leichtbauten, lassen sich diese vom Katasteramt registrieren, schließen sie an Wasser- und Stromkreisläufe an und verkaufen sie anschließend. Die meisten dieser als illegal eingestuften Aufbauten werden von ihren Eigentümern vermietet, nur wenige dieser 20 bis 40 m² großen Wohnungen sind von den Eigentümern selbst bewohnt.

Erst seit 1982 hat die Stadt Hongkong damit begonnen, die Dachsiedlungen statistisch und melderechtlich zu erfassen. Das Datum ist auch insofern von Bedeutung, als dass jeder Bewohner, der nachweislich vor 1982 einen Miet- oder Kaufvertrag für eine Dachwohnung abgeschlossen hat, seinen Wohnort legalisieren konnte. Alle anderen stehen gleichsam auf Abruf bereit – so werden die Dächer zwangsgeräumt beispielsweise wegen einer anstehenden Sanierung des Trägerhauses. Bei Peperoni Books ist zu diesem Thema eine beeindruckende Dokumentation („Portraits from above“) erschienen, die sich der Dachaufbauten im Detail angenommen hat. Neben der faszinierenden fotografischen Dokumentation der Außen- wie Innenräume zahlreicher „Rooftop Communities“ haben die beiden Verfasser die Dachaufbauten in axonometrischen Zeichnungen maßstäblich erfasst, wobei der Kontrast Exaktheit der Zeichnung vs. natürlich gelebtem Chaos, Oberflächenhaptik, Farben und Gerüchen (die man hier tatsächlich se­hen kann!) etc. nicht groß genug vorstellbar ist.

Den kurzen Proträts der Bewohner der hier vorgestellen Aufbauten ist oftmals zu entneh­men, dass sie neben der Zentralität des Wohn­ortes auch den Abstand von der eigentlichen Stadt als wohltuend empfinden. Lärm, Abgasen und tagtäglich möglichen Übergriffen sei man hier oben gleichsam in Sicherheit entrückt; was die meisten Dachbewohner nicht hindert, ihr Eigentum mittels Hunden, Gittern vor den Fenstern oder monatlichen Zahlungen an dubiose Wachgesellschaften zu sichern. Dass dieses Entrücktsein mittendrin natürlich auch die reizt, die sich eine Luxusvilla am Stadtrand oder im Ausland leisten können, im Zentrum aber alle Bauplätze bis ultimo vergeben sind, liegt auf der Hand.

So kann man davon ausgehen, dass die noch als Projekt gehandelte „Stadt über der Stadt Hongkong“ in nicht allzu ferner Zeit realisiert wird. Tatsächlich soll ein Großteil des Stadtteils Kowloon mit einer eigenständigen, 200 m hoch über dem Bürgersteig schweben-
den Ebene gedeckelt werden. Dabei werden die schon vorhandenen Hochhäuser als Stütz-
pfeiler integriert. Auch deutsche Architekten, allen voran Christoph Ingenhoven, sehen in diesem Modell der zweiten, eigentlich Metaebene einen zentralen Aspekt der Städtearchitektur von morgen. Technisch wäre ein solches Projekt mit Unterstadt und Oberstadt machbar, Architekten wie Stephan Lau aus Hongkong sind solche Konstrukte wichtigster Baustein dafür, die zukünftigen Mega-Cities überhaupt nach handhabbar – man möcht‘ hinzufügen: regierbar – zu halten (Multiple and Intensive Land-use: Hong Kong, Key-
note Paper for Intern. Experts Workshop on Multiple and Intensive Land-use Study, org. by the Habiforum Research Institute, Utrecht, The Netherlands, 9-10, May, 2002). Be. K.

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