­Konstruktiver Glasbau
Neue Techniken und ­inno­vative Entwicklungen

In den vergangenen zehn Jahren haben im konstruktiven Glasbau bemerkenswerte Innovationen den Weg in die Praxis gefunden. Neue Entwicklungen beziehungsweise Trends sind bspw. die Weiterentwicklung der Laminationstechnologie, der Einsatz von lastabtragenden Verklebungen für die Gebäudeaussteifung, die Verwendung von Megaglasformaten sowie hochpräzise statische Rechenmodelle.

Laminationstechnologie

Der Einsatz von Glasscheiben ist wegen der Sprödbruchgefahr aus Sicherheitsgründen seit geraumer Zeit mit der Verwendung von Verbundsicherheitsglas verbunden. Für diese Laminate werden üblicherweise PVB-Folien verwendet, mit welchen einerseits eine gewisse Resttragfähigkeit gebrochener Scheiben sowie andererseits eine splitterbindende Wirkung sichergestellt wird. Seit einigen Jahren finden zunehmend die sogenannten SG-Folien Verwendung (SG ist ein Markenname und steht für SentryGlas, DuPont). Diese verfügen über eine deutlich höhere Steifigkeit sowie über hohe Festigkeiten. Eigenschaften, die neue Konstruktionstechniken ermöglichen.

Verwendung finden SG-Folien im Glasbau bspw. bei punktuellen Lasteinleitun­gen. Bei dieser Fügetechnologie werden zwei Glasbauteile über ein Metallteil verbunden, das in eines der Glasbauteile einlaminiert wird. Die Verbindung zwischen Metall und Glas erfolgt über die SG-Folie, die eine werkstoffgerechte Kraftübertragung zwischen Metall und Glas ermöglicht. Der Herstellungsprozess erfolgt in einem Autoklav unter Einwirkung von Druck und Temperatur. Für die andere Seite kann bspw. eine mechanische Verbindung vorgesehen werden. Nach diesem Prinzip sind die Stufen der Ganzglastreppen konstruiert, die weltweit in Retail Stores eingesetzt werden (Bild 1). Die mehrlagigen Laminate bestehen in der Regel aus vier Scheiben. Eine der beiden innen liegenden Glasscheiben ist ausgenommen und bietet Raum für ein entsprechendes Einbauteil, über welches Normal- und Querkräfte in die Glaswangen eingeleitet werden. Das Potential und die Grenzen dieser Verbindungstechnologie hat das Unternehmen seele auf der glasstec 2006 vorgeführt (Bild 2).

Für die großformatigen Vertikalverglasungen des Retail Stores in New York mit Abmessungen von ca. 3,3 auf 10 m gelangte ein 3-lagiger Glasaufbau, bestehend aus drei Scheiben ESG 12 mm und zwei Lagen 1,5 mm SG-Folie, zum Einsatz. Der Aufbau mit drei Glasscheiben ermöglicht dabei das punktuelle Einlaminieren von Metallteilen für die Übertragung von Längs- und Querkräften in die mittlere Lage der großen Glasscheiben. Die mittleren Glasscheiben sind punktuell ausgespart. In diese Aussparungen wurden verhältnismäßig kleine Metallteile mit SG-Folien einlaminiert, über die die Befestigung der Gläser für Wind-, Erdbeben- und Zwangeinwirkungen erfolgt (Bild 3).

Eine weitere Anwendung für SG-Folien ist das sogenannte Kaltbiegen (Montage- oder Laminationsbiegen). Mit diesem Verfahren können im Unterschied zum Warmbiegen (Schwerkraftbiegen oder thermisches Biegen im Vorspannofen), bei dem auch Anisotropien auftreten können und nur ein eingeschränktes Portfolio an Beschichtungen zur Verfügung steht, vor allem planere Oberflächen erreicht werden. Das Potential dieser Bauweise wurde auf der glasstec 2008 mit dem Bau einer begehbaren gläsernen Brückenkonstruktion, dem weltweit ersten und einzigen Prototyp
für Brückenbauwerke aus kaltgebogenem Glas, demonstriert (Bild 4). Die Brücke besteht aus nur drei Glasbauteilen: einem gläsernen Bogen und zwei beidseitig angeordneten, im Grundriss gekrümmten Brüstungen. Der Glasbogen hat bei einem Radius von 16 m Abmessungen von 1,2 x 7 m im Bogenmaß. Das
Verhältnis Stich/Spannweite des Glasbogens ist mit 1 : 18 ausgesprochen gering. Glasbogen und -brüstungen sind über eine lastabtragen­de Silikon-Klebeverbindung verbunden und stabilisieren sich gegenseitig (Bild 5). Der Bogen besteht aus acht Floatglasscheiben und sieben hochtransparenten SG-Folien, die Brüs­tungen aus je sechs Floatglasscheiben und fünf SG-Folien. Die nur 4 mm dicken Einzelscheiben werden vor dem Laminieren kalt
verformt und anschließend über die 1,5 mm dicken SG-Folien untereinander verklebt. Bei diesem Prozess entsteht ein Eigenspan­nungs­zustand in den Glaselementen, der bei der
Bemessung zu berücksichtigen ist. Für das Kaltbiegen sind insbesondere dünne und biegeweiche Scheiben geeignet, weil die Eigenspannungen in­folge Kaltbiegen proportional mit der Schei­bendicke zunehmen. Die Rückstellbewegungen nach dem Laminierprozess sind klein infolge der hohen Schubsteifigkeit der SG-Folien und der daraus resultierenden großen Biegesteifigkeit des Verbundsicherheitsglases. Mit herkömmlichen PVB-Folien ist dies nicht ­um­setzbar.

Lastabtragende Klebeverbindungen

Lastabtragende Klebeverbindungen sind im Bauwesen vor allem durch die sogenannten Structural-Glazing-Fassaden ein Begriff. Dabei sind die Glasscheiben nur über Klebe­verbindungen mit der Unterkonstruktion verbunden. Seit der Einführung dieses Prinzips in den 1980er-Jahren entwickelte sich diese Bauweise zum Stand der Technik für Glasfassaden, welche sich vor allem durch außerordentlich glatte Oberflächen ohne ­optisch störende Befestigungsteile auszeichnen. Als Klebstoff haben sich 2-Komponenten-Silikone (2-K) bewährt. Im Gegensatz zu den meisten 1-Komponenten-Silikonen (1-K) haben diese neben der dichtenden Funktion auch last­abtragende Eigenschaften. Wie bei Klebeverbindungen üblich, wird bei der Bemessung ­zwischen der Einwirkung von dauerhaften Lasten, wie Eigengewicht, und der Einwirkung von dynamischen Lasten, wie z. B. Wind oder Erdbeben, unterschieden. Für Dauerlasten gelten aufgrund von Kriecheffekten erheblich niedrigere zulässige Festigkeiten. Silikonklebefugen weisen eine nicht zu hohe, glasaffine Steifigkeit auf und eignen sich aus diesem Grund sehr gut für die Lasteinleitung in Glasbauteile ohne nachteilige Spannungsspitzen. Darüber hinaus verfügt Silikon, im Gegensatz zu allen anderen Klebesystemen, über anorganische Bestandteile, auf welche die herausragende Witterungs-, Temperatur- und UV-Beständigkeit zurückgeht.

Ein zukunftsweisender Trend für die Anwendung von lastabtragenden Silikonfugen ist das Heranziehen von eingeklebten Ver­glasungen für die horizontale Gebäude­aussteifung. Auf die heute übliche Verformungsentkopplung von Glasscheiben und Unterkonstruktion wird bewusst verzichtet. Dies war zwar bereits ein Merkmal der teilweise extrem filigranen Glaskonstruktionen aus dem 19. Jahrhundert, doch handelte es sich hierbei in der Regel nicht um rechnerisch nachgewiesene Aussteifungseffekte. Ein gebautes Beispiel für den geplanten Einsatz von eingeklebten Verglasungen für die Gebäudeaussteifung ist das Glasdach für den Retail Store Highland Village (Bild 6). Die ­Isolierglasscheiben des Daches mit Einzel­abmessungen von ca. 2,5 x 4,5 m sind auf eine extrem schlanke Stahlunterkonstruktion aufgelegt und über zwei 8 bzw. 12 mm dicke Silikonklebefugen mit der Stahlunterkonstruktion verbunden. Statisch gesehen entsteht auf diese Weise eine Dachscheibe. Beim Nach­weis der Gebrauchstauglichkeit kann die Einhaltung der zulässigen Horizontalverformun­gen nur unter Berücksichtigung der Steifigkeit der Klebefugen nachgewiesen werden.

Eine notwendige Voraussetzung für einen Einsatz dieser Konstruktionstechniken in der Praxis sind einerseits ingenieurwissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse und andererseits Technologieträger wie bspw. die seele Ganzglasbrücke. Neben den laminationsgebogenen Gläsern war bei diesem Projekt vor allem der Einsatz einer 2-achsig beanspruchten Silikonverklebung, die gleichzeitig Kräfte längs und quer zur Fuge übertragen kann, ausschlaggebend für das ­Erscheinungsbild der Brücke. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Einstellung der Fugensteifigkeit. Im vorliegenden Fall erfolgte dies über die Abmessungen der Fuge im Querschnitt.

Berechnungsmethoden und statische
Modellbildung

Für den konstruktiven Glasbau war – neben den Entwicklungen der Klebstoff- bzw. Kunststoffindustrie – die präzise ingenieurmäßige Vorhersagbarkeit von Beanspruchungen und Verformungen eine notwendige Voraussetzung. Beim Glasbau kommt diesem Umstand besondere Bedeutung zu, da die verhältnismäßig hohe Steifigkeit des Glases in Verbindung mit einem zu 100 % spröden Materialverhalten es nicht erlaubt, Beanspruchungen umzulagern oder plastische Querschnittsreserven in Anspruch zu nehmen. Jedes nicht erkannte oder übersehene statische Wirkungsprinzip kann zu nicht aufnehmbaren Beanspruchungen und somit zum Glasbruch ohne Vorwarnung führen. Eine grobe Abschätzung oder überschlägige Ermittlung von Beanspruchun­gen ist im Glasbau in der Regel nicht ausreichend: dieser Umstand erfordert eine extrem hohe ingenieurmäßige Präzision in Bemessung und Konstruktion. Sofern bspw. eine Glasscheibe nicht mehr statisch bestimmt und zwängungsfrei gelagert ist beziehungsweise planmäßig für den Lastabtrag herangezogen wird, wird sie Teil der Gesamtkonstruktion.

Die Konstruktionen der Ganzglastreppen beinhalten alle Feinheiten des konstruktiven Glasbaus: von chemisch gehärteten Gläsern bis zu minimierten, patentgeschützten Verbindungsdetails aus Titanteilen und hochfesten Edelstählen mit Festigkeiten weit über den üblichen Stahlsorten.

Die Spiraltreppe des Retail Store Covent Garden zeigt, welcher Aufwand notwendig ist, um die Verbindungen zu modellieren (Bild 7, 8). Die gebogenen gläsernen Wangen bestehen aus Einzelteilen, welche über Laschen-Bolzen-Verbindungen biegesteif verbunden sind. Jede einzelne Lastein­leitung zwischen den hochbeanspruchten Bolzen und den Glasscheiben erfordert aufwendige Finite-Element-­Modellierungen mit Stab- und Flächenelementen, um die Glasspannungen im Bereich der empfindlichen Glasbohrungen korrekt vorherzusagen. Selbstverständlich sind dabei auch lastabtragen­de Silikonfugen oder Kunststoffweicheinlagen zu berücksichtigen. Fugen können im FE-Modell bspw. durch eine Aneinanderreihung von vielen Einzelstäben abgebildet werden, deren Steifigkeiten in projektbegleitenden Versuchen zu ermitteln sind. Das Erstellen der statischen Rechenmodelle ist im konstruktiven Glasbau eine hochanspruchsvolle Ingenieuraufgabe.

Diese Empfindlichkeit, der in der Regel hochgradig statisch unbestimmten Systeme gegenüber Steifigkeitsänderungen, erfordert auch eine Berücksichtigung der Verformungen der weiterführenden Bauteile, in der Regel in Form von Grenzbetrachtungen. In vielen Fällen sind Zwangverformungen maßgebende Lastfälle für die Dimensionierung.

Das parametric engineering, also das ­Erstellen von Berechnungsmodellen unter Einsatz von parametrischen Entwurfswerkzeugen für die Modellierung sich wiederholender Detailpunkte oder Bauteile bietet gro­ße Vorteile, insbesondere Zeitersparnis und Fehlervermeidung beim Aufbau der aufwändigen Globalmodelle.

Glas-Megaformate

Neuartige Glaslaminationstechnologien, im Hinblick auf Statik und Geometrie optimierte
Lasteinleitungspunkte, lastabtragende Klebeverbindungen sowie zugehörige hochpräzise Berechnungsmodelle sind also treibende Kräfte für immer höhere Transparenzgrade im konstruktiven Glasbau. Unterstützt wird diese Entwicklung durch die Erweiterung von wirtschaftlichen Herstellungsprozessen für extrem großformatige Glasscheiben. Als Teil der seele Gruppe ist sedak GmbH & Co. KG weltweit führend in der Fertigung von solchen Scheiben. Die Fertigung ist auf Glasformate bis zu 15 m Länge ausgerichtet. Die für die Herstellung erforderlichen Maschinen (Bearbeitungszentren, Vorspannofen, Heat-Soak-Ofen, Rollen- und Digitaldrucker, Autoklaven) sind Sonderentwicklungen und Unikate (Bild  9,10). Auch das Handling, die Logistik sowie die Montage verlangen nach Sonderlösungen.

Die Herstellungsverfahren beeinflussen auch die Glaseigenschaften. Bspw. wirken sich diese beim Biegen von Glas unmittelbar auf das optische Erscheinungsbild und auf die mechanischen Eigenschaften, in diesem Fall die Festigkeit, aus. Für die Ver­edelung von Glasscheiben steht eine große Vielfalt an möglichen Beschichtungen und Bedruckungen zur Verfügung (Bild 11). Sie können bspw. mit einer opaken teil- oder vollflächigen Bedruckung versehen werden, die es ermöglicht, eine großflächige Glashaptik mit einer gewünschten Farbe und/oder einem Bedruckungsmuster zu verbinden.

Die beschriebenen Entwicklungen waren von erheblicher Bedeutung für die Weiterentwicklung des konstruktiven Glasbaus in den letzten Jahren. Der Praxiseinsatz bei Gebäuden wurde nicht nur durch Versuche und wissenschaftliche Untersuchungen, sondern vor allem auch durch Prototypen und Technologieträger vorbereitet. Dass es gelungen ist, die technischen Innovationen bei wegweisenden Bauwerken einzusetzen und so ihre Praxistauglichkeit zu belegen, ist dabei ein Gesichtspunkt von großer Bedeutung, denn das Potential für weitere Anwendungen ist groß. Der Entwicklungsprozess des konstruktiven Glasbaus ist noch nicht abgeschlossen.

Anmerkungen

Die Detail- und Ausführungsplanung für die beschriebenen Projekte seele Ganzglasbrücke, Ganzglastreppe Retail Store Covent Garden und Retail Store Highland Village erfolgte durch seele, die auch für Fertigung und Montage zuständig waren, in Zusammenarbeit mit Engelsmann Peters. Einen wesentlichen Anteil an den Retail-Projekten hatte das englische Ingen­ieurbüro Eckersley O’Callaghan, das maßgeblich verantwortlich für die Entwicklung der Tragwerkskonzepte dieser Projekte war. Die Prototypen, seele Ganzglasbrücke und Ganzglastreppe, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Institut für Baukonstruktion und Entwurf (unter Leitung von Prof. Stefan Behling und Mitarbeit von Prof. Andreas Fuchs) der Universität Stuttgart. Das Institut für Tragkonstruktion und konstruktives Entwerfen der Universität Stuttgart (unter Leitung von Prof. Dr. Jan Knippers und Mitarbeit von Prof. Dr. Stefan Peters) betreute die Entwicklung der seele Ganzglastreppe aus statisch-konstruktiver Sicht.

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