Integrale Tragwerksplanung im Kontext
digitaler Prozessketten
Prof. Dr.-Ing. Harald Kloft
zum Thema „Tragwerk“
Gute Architektur bedingt ein entsprechendes Tragwerk. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Tragwerk eines Bauwerks augenscheinlich auffällig ist oder ob es sich eher im Hintergrund verbirgt. Ein gutes Tragwerk unterstützt auch immer die Architektur gestalterisch. Von daher ist die Entwicklung eines Tragwerkes zuallererst eine Entwurfsaufgabe. Der Entwurf eines Tragwerks kann nur im Kontext einer architektonischen Aufgabenstellung entstehen. Insofern ist der Tragwerksentwurf eigenständig, aber gebunden an den architektonischen Entwurf.
Natürlich irritiert uns Ingenieure immer wieder, wenn Wettbewerbe für Fußgängerbrücken oder Überdachungen als architektonische Wettbewerbe ausgeschrieben sind und häufig genug nicht einmal die Hinzuziehung eines Tragwerksplaners gefordert wird. Andererseits darf man die Planung von Ingenieurbauwerken auch nicht allein den Ingenieuren überlassen. Wir haben im Unterschied zu den Architekten in unserer Ausbildung nicht gelernt, das weiße Blatt zu Beginn eines Entwurfsprozesses zu füllen.
Die Zukunft gehört der integralen Planung und Fertigung im Kontext digitaler Prozessketten. Die zunehmende Komplexität der technologischen Entwicklungen und die damit einhergehenden, steigenden Anforderungen an unsere Bauwerke fordern das. Während in der Vergangenheit der Architekt als Baumeister in der Lage war, ein Gebäude zu entwerfen, zu dimensionieren und baulich umzusetzen, ist heute ein großes Team von Spezialisten mit der Planung beauftragt. Das hat nicht nur Auswirkungen auf Zeit, Qualität und Kosten, sondern definiert auch die Rolle von Architekten und Ingenieuren neu. Das Entwerfen von Gebäuden verlangt heute nach interdisziplinärer Teamarbeit, die architektonische Qualität hängt an der gelungenen Integration der Fachplanungen. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass es nur noch Generalplaner geben muss. Ganz im Gegenteil: Die Herausforderung besteht vor allem für uns tragwerksplanende Ingenieure darin, die Idee des architektonischen Entwurfs aufzugreifen und gleichzeitig Verständnis für die Belange der anderen beteilig-ten Fachplaner, insbesondere der technischen Gebäudeausrüstung, aufzubringen. Das ist gleichzeitig auch das Besondere und Motivierende beim Entwerfen von Tragwerken, sich immer wieder mit anderen Architekturen und neuen Entwurfsansätzen auseinanderzusetzen. Entscheidende Voraussetzung für die entwerfende Ingenieurin / den entwerfenden Ingenieur ist dabei vor allem ein auf den Werkstoff bezogen offenes Denken. Was vor dem Hintergrund der immer noch werkstoffgebundenen Curricula der meisten Bauingenieurausbildungsstätten eine große Herausforderung ist.
Das Entwerfen von Tragwerken bedeutet aber auch, eine hohe Verantwortung bezogen auf Aspekte der Nachhaltigkeit zu übernehmen. Die Bauteile der Tragkonstruktion weisen im Vergleich zu anderen Bauteilen die höchste Lebensdauer in einem Gebäude auf und binden den größten Teil an so genannter Grauer Energie. Vor diesem Hintergrund scheint unser Verständnis von Bauprozessen und Baulogistik zunehmend antiquiert. Auf der Werkstoff- und Technologieseite haben wir enorme Entwicklungen vorzuweisen: ultrahochfeste Betone, neue Verbundwerkstoffe, digitale Planungs- und Fertigungsprozesse etc. Auf der Baustelle jedoch kommt davon zu wenig an! Im Gegenteil verlieren wir „vor Ort“ zunehmend Fachpersonal und die Bauqualität geht runter bei steigenden Baukosten.
Meiner Meinung nach steckt zukünftig in der gezielten Abstimmung von digital gesteuerter Planung und Fertigung sowie der fertigungstechnischen Optimierung des Bauprozesses das größte Potential für mehr Nachhaltigkeit in der Bauwirtschaft. Die Entwicklungen auf der Planungsseite beim BIM sind ein erster Schritt. Die weitreichenden Chancen liegen jedoch in der Überführung der digitalen Planungsprozesse in einer zunehmend digital gesteuerten Fertigung mit hoher Modularität. Material- und fertigungstechnische Eigenschaften dürfen zukünftig nicht im Top-Down Prozess an die architektonische Form angepasst werden, sondern müssen sofort in den Entwurfsprozess integriert werden. Die Entwicklung von Bottom-Up-Entwurfsprozessen ist das Ziel. Die ermöglichen dann neben der gestalterischen Freiheit auch eine gesteigerte Bauqualität und einen effizienteren Einsatz von Ressourcen bei kalkulierbaren Kosten.
Der Ingenieur
Prof. Dr.-Ing. Harald Kloft, 1990 Diplom Bauingenieurwesen, TH Darmstadt. 1991–1993 Strabag Bau AG, Köln. 1993–1998 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, TU Darmstadt, 1998 Promotion ebenda. 1998-2001 Bollinger + Grohmann, Frankfurt a. M. 2000–2008 Gastprofessur Structural Design, Städelschule Frankfurt a. M. 2002 Gründung osd – office for structural design. 2002–2011 Professur für Tragwerksentwurf und Konstruktionen, TU Kaiserslautern. 2007–2009 Professur für Tragwerksentwurf, TU Graz. Seit 2011 Professur für Tragwerksentwurf, TU Braunschweig.