VATER & SOHN

»Das Ziel etwas zu machen, was es bisher noch nicht gab«

Das Architekturbüro HENN gibt es seit mehr als 70 Jahren und wird bereits in der 3. Generation geführt. Seit seiner Gründung hat sich die Berufs- und Arbeitswelt immens verändert. Wie geht ein so stark gewachsenes und international tätiges Büro in die Zukunft?

Drei Generationen Architekturbüro HENN. Hatten Sie, Martin, die Wahl, etwas Anderes zu werden?

Martin Henn (MH): Es war mir insofern in die Wiege gelegt, da Architektur allgegenwärtig war durch meinen Großvater und natürlich durch meine Eltern, die beide Architekten sind. Aber ich wurde nicht dazu gezwungen – es war meine freie Wahl. Mein Bruder produziert und dreht Filme und meine Schwester ist Medizinerin.

War Architektur immer ein Thema Zuhause?

MH: Nicht, dass wir beim Abendessen immer über Architektur gesprochen haben, aber wenn wir auf Reisen waren, haben wir natürlich Städte und Gebäude besichtigt, Museen besucht … Insofern war das schon ein integraler Bestandteil unseres Lebens. Wir wurden einfach früh für solche Themen sensibilisiert.

Wie war es bei Ihnen, Gunter Henn? Hatten Sie eine freie Wahl?

Gunter Henn (GH): Die Wahl lag relativ früh fest. Mein Vater war Architekt, meine Mutter war Ärztin, da war erst einmal die Wahl zwischen diesen beiden Berufen naheliegend. Im Arbeitsraum meines Vaters gab es Skizzenpapier und Bleistifte. Ich benutzte beides schon sehr früh und der Grafitgeruch der Stifte war mir sympathischer als der klinische Geruch in der Praxis.

Sie haben zehn Jahre zusammen mit Ihrem Vater das Büro HENN geführt. Gibt es jetzt mit Ihrem Sohn Parallelen, die Sie feststellen?

GH: Natürlich gibt es Parallelen. Es sind jeweils 30 Jahre Generations- und Erfahrungsunterschied und damit verbunden sind auch Unterschiede in der Architekturhaltung, von einer funktionalen Ordnung bei meinem Vater mehr zu einer prozessualen Ordnung heute.

Was sagen Sie dazu?

MH: Mein Vater hat das Münchener Büro gegründet. Als ich dazu kam, gab es bereits etwa 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das war natürlich eine ganz andere Voraussetzung. Was bei uns gut war, ist, dass wir unterschiedliche Backgrounds und Schwerpunkte hatten und ich nicht versucht habe, es meinem Vater gleichzutun. Wir haben von Anfang an gesehen, dass wir uns gut ergänzen können. Rückblickend habe ich großen Respekt vor dem Vertrauen und der Freiheit, die mir mein Vater eingeräumt hat. Denn wir haben damals auch viel experimentiert und nach neuen Wegen gesucht. Es hat seine Zeit gebraucht, bis unsere ­Arbeitsweisen ineinandergegriffen haben und zu dem geworden sind, wie es heute ist.

Was heißt „ineinandergreifen“? Wie läuft die Zusammenarbeit ab?

GH: Ich habe Bauingenieurwesen und Architektur studiert. Ich nähere mich einer Aufgabe analytisch. Von daher bin ich eher prozessorientiert und Martin ist eher designorientiert. Dieses Zusammenwirken ist eine Grundlage, die uns erfolgreich macht und die dazu geführt hat, dass wir uns mit den großen Unternehmen, Organisationen und Kommunen dieser Welt auf Augenhöhe auseinandersetzen können.

Was haben Sie von Ihrem Vater übernommen?

MH: Die Denkweise. Das ist wichtig, weil es uns am Anfang eines jeden Projekts vereint. Wir nennen es das „Programming“, also die Phase vor dem Entwurf, wo es darum geht, die ­eigentliche Frage herauszufinden, den Kontext eines Projekts abzustecken und mit dem Bauherrn ein Vertrauen aufzubauen. Dieser gemeinsame Startpunkt ist extrem wichtig, damit wir auch intern auf einer Wellenlänge sind und jeder seine Stärken im Laufe des Projekts einbringt.

GH: Wichtig noch die Bemerkung, dass das nicht nur Ursache-Wirkungszusammenhänge sind, sondern komplexe Vorgänge, die in einer Wechselbeziehung stehen. Man muss es aushalten können – wir und der Bauherr – noch lange ohne anschaulichen Gebäudeentwurf, sondern mit Diagrammen und Konzepten zu kommunizieren.

Wie führen Sie den Diskurs dann weiter?

GH: Die Anfangsphase bis hin zum Konzept ist ein sehr starker gemeinsamer Dialog zwischen uns und dem Team. Dabei geht es um eine Haltung und um das Verstehen der Aufgabe. Daraus kann manchmal auch eine Veränderung der Aufgabe entstehen.

Haben Sie denn die gleiche Haltung?

MH: Das Denken und die Kommunikationsbereitschaft ist durchgängig bei uns und im Büro gleich. Gerade weil wir den Aufgabenkontext am Anfang stark machen, können dann unterschiedliche Designlösungen entstehen.

40 Jahre Büro HENN mit Gunter Henn. Was hat sich für Sie verändert?

GH: Walter Henn war Industriebauarchitekt. Seine Bauten waren von einer funktionalen Ästhetik geprägt. Lineare, repetitive, physische Prozesse waren die Grundlage. Darauf aufbauend haben wir uns immer mehr mit den – unsichtbaren, aber realen – Kommunikationsprozessen beschäftigt. Diese weiter entwickelte Wahrnehmung ist notwendig bei der Gestaltung von Forschungs- und Entwicklungsbauten, bei Universitäten und den heutigen neuen Arbeitswelten. Die Bandbreite und Komplexitäten der Aufgaben hat sehr zugenommen.

Was macht er anders als Sie? Was ist der typische Martin?

GH: Vielleicht ist er nicht so ungeduldig wie ich. Er lässt länger gewähren und das ist gut, um den eben angesprochenen Diskurs nicht vorab zu prägen, sondern zu öffnen und auch alle daran teilhaben zu lassen und die Angst zu nehmen, Fehler zu machen.

MH: Als ich bei Zaha Hadid gearbeitet habe, gab es dieses typische Verhältnis von Stararchitekt und den anderen, die ausführen. Seitdem verstehe ich mich nicht als Kopf von allem, sondern als Kurator, der versucht, Potentiale freizusetzen. Natürlich gehören auch Entscheidungen dazu.

Was macht Ihr Vater besonders gut?

MH: Was er sehr gut kann, ist klar denken. In vielen Diskussionen hat er die Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen, um Antworten zu präzisieren.

Was ist das Durchgängige bei HENN über drei Generationen?

GH: Es ist die Art des Denkens. Wie nehmen wir die Welt, die Gesellschaft, das Unternehmen, die Universität, die Organisationen, für die wir tätig sind, wahr. Wir wollen als Architekten diese unterschiedlichen Denkweisen weiterentwickeln: Was sollen Gebäude leisten? Welche Kommunikationsmuster soll die Architektur ermöglichen? Welche Unterscheidungen sollen räumlich erlebbar sein? Da muss man auch die Stärke haben, ggf. den Bauherrn zu korrigieren, zu verändern, Einfluss zu nehmen. Was sich auf jeden Fall bei HENN durchzieht, ist das Ziel, etwas zu machen, was es bisher noch nicht gab.

Thema Büroübergabe. Wie lief das damals ab und haben Sie einen Plan für die, die kommt?

GH: Mein Vater hatte seine Büros alle in Braunschweig. Das waren einzelne Partnerschaften und die Bürogrößen lagen zwischen 20 und 40 Architekten. Ich begann das Büro neu in München, also losgelöst von allen anderen. Jetzt ist HENN ein großes Büro mit 380 Mitarbeitern, was zu einer Übergabe führt, die nicht von einer zur anderen Person, sondern in einer Teambildung erfolgt. Da gibt es auch noch nicht einen fertigen Plan oder den Tag X, an dem ich sage: Das ist mein letzter Tag. Es wird eher eine Phase des Übergangs geben.

MH: Wie du gesagt hast, wird es keine Übergabe von Gunter Henn an Martin Henn geben, sondern wir werden das Ganze auf mehrere Köpfe verteilen. Von Peking bis nach München. Wir haben uns Büros wie Ove Arup oder SOM angeschaut, die haben es geschafft, das Unternehmen von einer Person zu einer Institution zu entwickeln.

Wie gehen Sie mit dem Thema Digitalisierung um? Unterschiedlich aufgrund des Generationsunterschieds?

MH: Da kommt es sehr auf das Thema an. Da gibt es z. B. das Thema, wie wir uns als Büro nach außen darstellen, was gibt es heute für Mittel und Kanäle? In dem Fall haben wir nicht dieselbe Wahrnehmungsebene und Meinung. Aber wenn wir bei den Bauherren anfangen, da merken wir, dass das Thema Digitalisierung alle sehr bewegt und wir das im Dialog miteinander sehr intensiv diskutieren.

Wahrscheinlich habe ich ein stärkeres Bedürfnis, da etwas zu verändern.

Wie wird sich HENN verändern? Wie glauben Sie, muss ein Architekturbüro sich aufstellen?

MH: Ich glaube, man muss seine Identität schärfen und muss Leidenschaft und Freude ausstrahlen. Nur so können wir junge Talente an uns binden. Die spezielle Herausforderung bei HENN besteht darin, den Erfahrungsschatz, den wir über die Jahre aufgebaut haben, mit Neugierde und Innovationsfreude zu verbinden. So entwickelt sich das Büro ständig weiter.

Wie wird die Digitalisierung die Architektur verändern? Was muss in Deutschland passieren?

MH: Früher oder später wird sie die Praxis jedes Architekten revolutionieren, aber auch das Bauen an sich. Beides wird in Zukunft viel stärker ineinandergreifen. Momentan sind wir in Deutschland noch damit beschäftigt, die Schnittstellen in den Griff zu bekommen – von 2D auf 3D, die Integration der Fachplaner usw. Auch die politischen Rahmenbedingungen, die wir in Deutschland haben, sind im Vergleich zum Ausland nicht gerade fortschrittlich, liberal. Da wird noch sehr viel auf uns zukommen, auch aus Sicht des Designs – physisch wie virtuell – wie sich beides überlagert und in Zukunft vom Architekten mitkonzipiert werden muss.

Warum ist Deutschland in Punkto Digitalisierung nicht so weit, obwohl wir als das Land mit den guten Ingenieuren bezeichnet werden? Warum sind z. B. die Skandinavier viel weiter?

GH: Das hat, glaube ich, mit einer Stärke in Deutschland zu tun, die gleichzeitig auch Schwäche ist: der Mittelstand. Bei den Architekten ist der Mittelstand ein 10-Mann-Büro, für die der Aufwand zur Digitalisierung gewaltig ist. Aber dieser tiefgreifenden Entwicklung der Digitalisierung kann sich die Architektur nicht entziehen.

Wie wird die Architektur, wie wird das Bauen in 50 Jahren sein?

GH: Es wir beides sein, anders und gleich. Da wir uns in unserer Körperlichkeit, der Wahrnehmung und auch in dem sozialen Nahumfeld wahrscheinlich wenig verändern, werden wir auch Gewohntes weiterführen. Die Art und Weise, wie man zum Gebauten kommt, wird sich aber extrem verändern mit Robotern, 3D-Druckern und am Anfang mit virtuellen Darstellungen.

MH: Ich würde die Frage stellen, ob die Menschen in 50 Jahren wirklich noch 1:1 dieselben sind? KI und die medizinischen Fortschritte werden uns verändern. Vor einigen Tagen war ich bei einem Bauherrn, dessen Mitarbeiter Computerchips in sich tragen… Wenn man daraufhin sagt, dass der klassische Mensch ein Auslaufmodell ist, dann verändert das auch den Bezug vom Mensch zur Architektur. Wir werden in erweiterten Realitäten leben, in der sich der physische und der virtuelle Raum verbindet.

Und in Bezug auf die Materialien und Baustoffe?

MH: Da wird sich, glaube ich, sehr viel tun. Materialien werden intelligenter und adaptiver, sie werden z. B. auf Umwelteinflüsse oder ihre Nutzer reagieren. Dazu wird der ökologische Footprint und die Recyclierbarkeit von Materialien eine viel größere Rolle spielen.

Was würden Sie mit Ihrer Erfahrung jungen Absolventen raten?

GH: In große Büros gehen und ins Ausland. Lerne perfekt Englisch. Lerne …

MH: Chinesisch!?

GH: Lerne alle Tools, die man braucht, um überall tätig zu sein. Und nochmal: Geh vor allem ins Ausland, denn da erfährt man am meisten über die eigene Kultur, über die Notwendigkeit der kulturellen Begrenzung, aber auch, dass jede Kultur kontingent ist.

MH: Das und ausprobieren! Unterschiedliche Perspektiven zulassen und sich nicht zu schnell auf eine Schiene einschießen. Für mich war es sehr gewinnbringend, an Universitäten mit unterschiedlichen Haltungen und in verschiedenen Büros zu lernen.

Würden Sie sich eine vierte Generation HENN wünschen?

MH: Logisch! Ist schon in Arbeit!

GH: Auf jeden Fall. Architekt ist ein wertiger Beruf. Gerne auch in der fünften, sechsten, siebten Generation [kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen].

Dirk Baecker hat das mal sehr schön gesagt: „Die Architektur ist eine Ein-malerfindung der Menschheit.“ Da wir körperlich sind, brauchen wir körperliche Unterscheidungen, um uns eine Orientierung zu geben. Von daher ist Architektur zum Schluss, bei aller Digitalisierung und im Unterschied zu vielen anderen Disziplinen, sehr real und nah am Menschen. Das ist das Dauerhafte der Architektur, dass sie am Ende immer räumlich und zeitlich ist, wie wir Menschen.

Zum Abschluss: Was ist Ihr Lieblingsprojekt, das Ihr Sohn gemacht hat?

GH: Das Merck Innovationszentrum in Darmstadt.

Und anders herum?

MH: Die Gläserne Manufaktur in Dreden.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte DBZ Chefredakteurin Sandra Greiser am 23. November 2018 im Beliner Büro von HENN

Ausschnitte des Interviews finden Sie auf dem DBZ YouTube-Kanal.

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