Gottfried Böhm (1920-2021)
Vor genau 21 Jahren hatte ich das große Glück, Gottfried Böhm gegenüberzusitzen. In seinem Haus in Köln-Marienburg saßen wir im Salon und wirklich war es dort exakt so, wie auf der Fotografie von Manfred Sack aus den frühen 1980er-Jahren: Böhm im Pullover (oder war es ein Pullunder?) am – jetzt allerdings leeren – Schreibtisch. Und hoch über ihm an der Wand: eine Bronzebüs-te, Gottfrieds Vater Dominikus Böhm. Der schaute ihm, auch auf dem besagten SW-Foto, beim Arbeiten über die Schulter. Die Arbeit ist nun endgültig getan − am 9. Juni verstarb Gottfried Böhm in Köln mit 101 Jahren.
Das Gespräch damals war angenehm, aber natürlich viel zu früh für mich, der ich den Architekten nur als Pritzker Preisträger, als zweites Haupt einer Architekten-/Künstler-Dynastie kannte und weniger als den wachen, gebildeten und an allem interessierten Menschen, der er damals mit 80 Jahren immer noch war. Es ging in unserem Gespräch viel um seinen Vater, die Söhne weniger, es ging um Bildende Kunst und Musik und Gott und die Welt. Über seine Bauten, deren Zahl er selbst nicht im Kopf hatte, sprachen wir wenig. Da saß und sprach einer, der die Qualität von Architektur nicht in Zahlen fassen wollte. Aber das verwunderte auch nicht, dass da keine Zahlen kamen, denn von den Kirchbauten gab es mehr als 50 Neu-, Um- und Wiederaufbauten, ein paar kamen noch hinzu. Eine bekannte Ergänzung war die Kapelle „Madonna in den Trümmern“ in der kriegszerstörten St. Kolumba in Köln, die Peter Zumthor mit dem „Kolumba“ 2007 überbaute; der Diözesanmuseumsneubau gelang nicht ohne einen kleinen Architektenzwist. Als weitere Sakralbauten sind zu nennen die Heilig-Geist-Kirche in Hagen-Emst (1946), Herz-Jesu in Bergisch Gladbach-Schildgen, St. Gertrud in Köln, die Domkirche in Neviges (1965) und die schwierige Geburt der Ditib-Moschee in Köln-Ehrenfeld (Paul Böhm mit dem Vater). Dazu kommen wichtige Profanbauten, wie das Kinder- und Jugenddorf Bethanien in Bergisch Gladbach-Refrath, das Rathaus mit Ratssaal Bensberg, das Erzbischöfliche Diözesanmuseum mit Domschatzkammer in Paderborn, das Rathaus und Kulturzentrum in Bocholt, das Amtsgericht Kerpen, das Hans Otto Theater in Potsdam, die WDR-Arkaden Köln oder die Stadtbibliothek in Ulm. Dazu kommen viele, viele Wohnbauten, Büro- und Geschäftshäuser.
Nicht wenige der späteren Arbeiten sind Gemeinschaftsarbeiten mit anderen ArchitektInnen, vor allem aber mit Mitgliedern der Familie; hier insbesondere mit seiner Frau, Elisabeth Böhm, die, auch Hausfrau und Mutter, als Architektin weniger in den Vordergrund treten konnte, als ihr zugestanden hätte.
Die Übergänge in einer als Dynastie bezeichneten Architektenfamilie waren von Anfang an fließend im Werk. So waren die ersten Projekte Gottfried Böhms Arbeiten des Vaters, die er entweder mit diesem zum Abschluss brachte oder sie fortsetzte. Gleiches gilt für Projekte der Zeit nach Dominikus Böhm, hier kommen Söhne und Ehefrau in Positionen, die eine mindestens gleichwertige gestalterische Kraft umschreiben.
Geboren am 23. Januar 1920 in Offenbach am Main, war Gottfried Böhm der jüngste von drei Söhnen Dominikus und Maria Böhms (geb. Scheiber). Das Bauen lag ihm wohl in den Genen, denn bereits sein Großvater unterhielt ein Baugeschäft. 1926 zog die Familie nach Köln. Hier hatte der Vater bis 1934 eine Professur an den Kölner Werkschulen inne. Gottfried Böhm studierte bei Adolf Abel und Hans Döllgast an der TU München Architektur, parallel dazu Bildhauerei bei Josef Henselmann an der Kunstakademie. Gerade diese Ausbildung spiegelt sich in seinem expressiv plastischen, zeichnerischen Werk, das immer als Hintergrund für seine der Zeit weit voraus seienden Architekturformen zu denken ist.
1948 heiratete der Architekt seine ehemalige Kommilitonin, die Architektin Elisabeth Haggenmüller († 2012), mit der er die schon genannten Söhne hatte. 1950/51 arbeitete Gottfried Böhm in einer Bürogemeinschaft mit seinem Kollegen Paul Pott (Wohnungsbau in Köln-Marienburg). 1950 war er zudem bei der Wiederaufbaugesellschaft der Stadt Köln unter Rudolf Schwarz tätig. 1955, in dem Jahr, als Dominikus Böhm starb, übernahm er das bis dahin gemeinsam betriebene Büro.
1963 folgte Böhm Hans Schwippert auf den Lehrstuhl für Werklehre (später „Stadtbereichsplanung und Werklehre“) an der RWTH Aachen, den er bis zu seiner Emeritierung 1985 innehatte. Im Jahr darauf, 1986, wurde Gottfried Böhm als ers-ter deutscher Architekt mit dem Nobelpreis der Architektur, dem Pritzker Preis ausgezeichnet.
Böhms Architekturbüro befindet sich noch heute in dem von seinem Vater Dominikus 1932 als Wohn- und Atelierhaus in Köln-Marienburg entworfenen Haus. Es wird seit 2006 weitgehend von den Söhnen Stephan, Peter und Paul Böhm und damit in der dritten Generation fortgeführt; an vielen Projekten war Gottfried Böhm beteiligt.
Der Ehrungen sind zahllose, eine schöne ist sicher die Umbenennung der 2010 profanierten Pfarrkirche St. Ursula in Hürth-Kalscheuren in „Böhm Chapel“ (heute Galerie). Die Stadt Köln bedankte sich im Rahmen der Feier zum 100. Geburtstag im vergangenen Jahr mit der Zusage der Einrichtung eines „Gottfried-Böhm-Stipendiums“ für junge ArchitektInnen, die sich während eines einjährigen Aufenthalts in der Stadt „kreativ, experimentell und visionär mit einem Thema in oder zu Köln auseinander setzen“ sollen (Henriette Reker, OB Köln; Ratsbeschluss vom 10. September 2020, Start ab 2021).
Mit dem Tod des großen Mannes aus Köln wird die Böhm-Linie nicht abreißen. Schon nicht, weil bereits zu Lebzeiten ein paar Bauten unter Denkmalschutz gestellt wurden … ein paar wurden auch bereits abgerissen! Aber die dichte publizistische Dokumentation, die Präsenz der Bauten in der (meist) urbanen Landschaft und nicht zuletzt seine produktiven Söhne werden Werk und Werkbedeutung lebendig halten. Be. K.