Sitzenbleiben gibt’s nicht

Gemeinschaftsschule Gebhard, Konstanz

Obwohl die Schule schon aus und die Nachmittagsbetreuung offiziell beendet ist, sitzen vereinzelt noch Schüler zusammen. Was andernorts noch in den Fachgremien diskutiert wird, ist an der Gemeinschaftsschule Gebhard in Konstanz – sie ist für diese Schulform eine der Modellschulen in Baden-Württemberg – längst Realität.

Der Weg zur Gemeinschaftsschule war lang. Die rasche Umsetzung ist vor allem dem Beharren der Schulleiterin Elke Großkreutz zu verdanken, die bereits das Prinzip der Gemeinschaftsschule und Inklusion verfolgte, als es im Land noch gar keine Konzepte für die neue Schulform gab. Analog zum Konzept der Gesamtschule sieht das Grundprinzip der Gemeinschaftsschule den strukturellen Zusammenschluss verschiedener Schularten vor, mit dem Ziel, im Gemeinschaftsverbund länger gemeinsam zu lernen; allerdings auch mit der Flexibilität, ab­gestimmt auf die lokale Situation, selbstbestimmt agieren zu können. Der heterogenen Zusammensetzung der Schüler, die unabhängig vom jeweiligen Leistungsstand gemeinsam unterrichtet werden, wird ebenso Rechnung getragen wie der Integration von Menschen mit Behinderung. Damit wird den Kindern mehr Zeit gelassen, sich zu entwickeln, statt in einen Überforderungsmodus oder aus Motivationslosigkeit in Stress zu geraten. Sitzenbleiben gibt es nicht mehr, ebenso wenig klassischen Frontalunterricht. Dass hierfür auch baulich eine neue Lernumgebung geschaffen werden muss, die den Lehrern die räumliche Möglichkeit bietet, mit verschiedenen Methoden auf einzelne Schüler und Gruppen eingehen zu können, liegt auf der Hand.

Mit dem Schuljahr 2012/2013 genehmigte die damalige rot-grüne Landesregierung erstmals den Bau von Gemeinschaftsschulen. Den von der Stadt Konstanz ausgelobten Wettbewerb für den Bau einer neuen Gemeinschaftsschule mit angegliederter Dreifeldsporthalle konnte das Büro Broghammer Jana Wohlleber mit den Landschaftsarchitekten Planstatt Senner für sich entscheiden. Die Kompaktheit der Schule ist sicher ein Grund, warum das Büro nach dem Wettbewerb den Auftrag generieren konnte. Denn das L-förmige Grundstück bietet nur begrenzt Spielraum: Gewünscht waren eine angemessene Freifläche als Pausenhof und eine Übergangszone zwischen dem öffentlichen Quartiersplatz an der Haltestelle des Bahnhofs Petershausen, angrenzend an die Wohnbebauung des ehemaligen Kasernenareals. Deshalb stehen die zwei Baukörper – die neue Schule und die Sporthalle – winkelförmig zueinander. Sie bilden klare städtebauliche Ränder nach außen zu den Straßen und haben großzügige Freibereiche für die Schule und die Nachbarschaft nach innen zum Quartier. Das Entree und der den Stadtteil und Baukörper verbindende Quartiersplatz entstehen durch einen geschickten Versatz der Volumen, die über ihre Materialität und klare Gestaltung als Einheit ablesbar sind.

Umdenken im Raumprogramm

Darüber hinaus ergänzt der Konstanzer Hochbauamtsleiter Thomas Stegmann: „Der Entwurf war einer der wenigen, die sich mit der ­Pädagogik der Gemeinschaftsschule beschäftigt haben.“ Denn das Raumprogramm der Gebhardschule ist eher mit einer flexiblen Bürostruktur zu vergleichen als mit traditionellen Schultypologien. In den drei Obergeschossen liegen die Lernräume an den Gebäudeenden des langgestreckten Schulbaukörpers.

Jeweils vier Klassen eines Jahrgangs bilden ein Cluster, das durch eine flexible Raumnutzung geprägt ist. Neben den eigentlichen Klassenzimmern, die zugunsten einer optimalen Ausleuchtung mit Tageslicht an den Fassaden liegen, ergänzen Differenzierungsräume als Ruhezonen oder für die Arbeit in Kleingruppen das Flächenangebot. Schiebewände sorgen dafür, dass Räume außerdem flexibel zugeteilt oder mit der Gemeinschaftsfläche zu einem großen Raum verbunden werden können. Anstelle eines zentralen Lehrerzimmers sind den jeweiligen Lerngruppen dezentrale Rückzugsbereiche für die Lehrkräfte zugeordnet. Das ermöglicht –  mit einem Schlüssel von zwei Lehrkräften pro Klasse und gegebenenfalls einem Lernbegleiter – kleinere Klassen und eine intensivere Arbeit mit den einzelnen Schülern. Räumlich gefasst werden die Klassenzimmer, Differenzierungsräume und das Lehrerzimmer durch eine multifunktional nutzbare Mittelzone, die allen Schülern aus dem Cluster zur Verfügung steht. In der Gebhardschule lagern sich die Cluster an jeweils einen Innenhof an, der neben der Belichtung auch zusätzliche Aufenthaltsqualität bietet. Die variable Möblierung, von Tisch und Stuhl bis zu bequemen Sitz­inseln und einer umlaufenden Sitzbank am Innenhof, gibt Raum für alle Bedürfnisse. Die Schüler sind das ganze Schuljahr im gleichen Cluster, was einerseits die Identität mit dem Raum und der Gruppe fördert und zugleich die Einhaltung der Regeln in den verschiedenen Zonen ohne strikte Vorgaben zur Folge hat. Anstelle quadratmetergenauer Flächenangaben im Raumprogramm werden unterschiedliche Aufenthaltsqualitäten definiert, deren Zuordnung und Raumgröße der lokalen Situation angepasst sind. Auch Erschließungsflächen werden unter Berücksichtigung des Brandschutzes in die Kommunikationsflächen integriert und ermöglichen die gemeinsame Nutzung räumlicher Ressourcen. Die Anordnung der Cluster in den Gebäudeenden hat einen weiteren Vorteil: Kurze Wege und ein hohes Maß an Übersichtlichkeit fördern die gemeinschaftliche Nutzung und bieten ein ruhiges und geschütztes Lernumfeld ohne Durchgangsverkehr.

Die gemeinsam genutzten Fachräume für die Naturwissenschaften, Computerraum, Lehrküche und die Schulverwaltung liegen zentral zwischen den Clustern am verbindenden dreigeschossigen Atrium. Im Erdgeschoss ist Platz für eine Aula mit Sitzstufen, eine Mensa mit angeschlossener Vorbereitungsküche, Bibliothek, Musikraum sowie einen großen Werkbereich.

Ruhe durch Materialwahl

Neben der Transparenz ist die Materialität und Akustik ein entscheiden-
der Faktor. Helles Holz an den Wänden und für die festen Einbauten wie Garderobe und Sitzbänke strahlt eine wohltuende Wärme aus. Im Kontrast dazu stehen die Sichtbetonwände in Kombination mit einem hellen Linoleumboden des zentralen Bereichs. Zusätzlich zu den flächigen Holzfaserplatten an der Decke liegt in den Clustern ein heller Teppich. Das mag für eine Schule ungewöhnlich sein, hier jedoch wurden die im Interimsgebäude mit Teppich gemachten Erfahrungen in punkto Komfort und verändertes Schülerverhalten in das neue Schulgebäude integriert. Auch die äußere Gestalt des Baukörpers ist durch wenige, in ihrer natürlichen Farbigkeit belassene Materialien geprägt. Dabei wird die horizontale Schichtung des Baukörpers durch schmale Betonbalkone, welche die Geschosse nach außen wieder­geben, ablesbar. Die horizontale Gliederung der Fassaden geschieht durch den Wechsel raumhoher Verglasungen und geschlossener oder teilweise offen gerasterter Holzelemente als „Brise Soleil“.

Die Systematik der Anordnung ergibt sich aus der Raumfunktion. Hinter den Lamellen befinden sich Schiebetüren, sodass die Holzelemente einerseits als Absturzsicherung, aber auch als Filter nach innen fungieren. Anstelle horizontaler Raffstores als Sonnenschutz entschied man sich für halbtransparente Screens, die das abwechslungsreiche Spiel der Elemente unterstützen.

„Wir haben großen Respekt vor der Sonne“, erklären die Architekten, „und haben uns viele Gedanken um den Spagat zwischen dem Wunsch nach hellen, lichtdurchfluteten Räumen und einer Überhitzung der Unterrichtsräume gemacht.“ Um das Ansteigen der Raumtemperatur im Sommer zu regeln, wurde auf eine passive Kühlung durch eine kontrollierte Nachtauskühlung gesetzt. Lüftungsklappen in der Fassade, die bei passender Temperaturdifferenz automatisch über Stellmotoren geöffnet werden, lassen kältere Luft nachströmen, während die warme Luft durch die Brandschutzklappen aus den Räumen über das Atrium nach oben steigt und über die Dachfenster entweicht. Die Massivität des Sichtbetons unterstützt diesen Auskühlungseffekt als thermische Speichermasse.

Dass die Schule gut angenommen wird, zeigt die steigende Zahl der Anmeldungen. Schon bei Inbetriebnahme war sie eigentlich zu klein und wird in den kommenden Jahren von einer vier-zügigen auf eine sechs-zügige Gemeinschaftsschule mit gymnasialer Oberstufe erweitert. „Sitzenbleiben“ und Stillstand gibt es nicht an der Gebhardschule.

Eva Maria Herrmann, München

Baudaten

Objekt: Gemeinschaftsschule Gebhard, Konstanz
Standort: Pestalozzistr. 1, 78462 Konstanz
Typologie: Schule, Gemeinschaftsschule
Bauherr: Stadt Konstanz
Architekt: Broghammer Jana Wohlleber, Freie Architekten BDA, Zimmern ob Rottweil, www.bjw.de Mitarbeiter (Team): Stefan Popp, Corinna Braun, Melanie Straub, Michael Pyka
Bauleitung: Corinna Braun, Melanie Straub, Michael Pyka
Bauzeit: April 2014 – September 2016

Fachplaner

Tragwerksplaner: Fischer + Leisering Ingenieurgesellschaft, Konstanz
TGA-Planer: Greiner Engineering, Konstanz, www.greiner-engineering.de
Lichtplaner: IB Neher Butz, Konstanz, www.neher-butz.de Akustikplaner, Energieplaner: ebök Planung und Entwicklung GmbH, Tübingen, www.eboek.de
Brandschutzplaner: LWKONZEPT, Stuttgart, www.lwkonzept.de

Projektdaten

Nutzfläche gesamt: 8 148 m²
Nutzfläche: 5 554 m²
Technikfläche: 337 m²
Verkehrsfläche: 2 256 m²
Brutto-Grundfläche: 9 967 m²
Brutto-Rauminhalt: 41 155 m³

Baukosten

KG 300 (brutto): 12,33 Mio. €
KG 400 (brutto): 2,6 Mio. €
Gesamt brutto: 17,85 Mio. €   Hauptnutzfläche: 1 799 €/m²
Brutto-Rauminhalt: 434,22 €/m³

Energiebedarf

Primärenergiebedarf: 28,2 kWh/m²a Endenergiebedarf: 87,8 kWh/m²a Jahresheizwärmebedarf: 65,6 kWh/m²a

Hersteller

Sonnenschutz: Warema Renkhoff SE, www.warema.de
Türen/Tore: neuform Türenwerk Hans Glock GmbH & co. KG, www.neuform-tuer.com
Teppich: Fabromont AG, www.fabromont.ch
Linoleum: Forbo Flooring GmbH, www.forbo.com
Beleuchtung: Louis Poulsen, www.louispoulsen.com
Trockenbau: Siniat GmbH, www.siniat.de; Knauf AMF GmbH & Co. KG, www.knaufamf.com

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