Das kritische Denken und die Neugier fördern
Im Gespräch mit Prof. em. Dr.-Ing. E. h. mult. Stefan Polónyi
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Sehr geehrter Herr Polónyi, zunächst einmal herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft, mit der DBZ zu sprechen. Wir hatten vereinbart, dass es durchaus ein persönliches Gespräch werden darf. Herr Polónyi, wie geht es Ihnen im Augenblick, in dieser merkwürdigen Zeit? Was machen Sie den lieben langen Tag in Ihrem Haus in Köln? Können Sie rausgehen?
Stefan Polónyi: Doch, ich könnte rausgehen, aber ich habe das Haus und den schönen Garten, meine Familie versorgt mich mit dem meisten. Nein, ich gehe selten auf die Straße, ich fühle mich sehr wohl hier; und jetzt haben wir dieses Gespräch zusammen, auf das ich schon sehr gespannt bin.
Wenn ich das Innere Ihres Hauses in Köln erinnere, sehe ich so viele Dinge. Bücher natürlich, Zeichnungen, Bilder, Grafiken, Schallplatten, zeitgenössische und prähistorische Artefakte … Was zeigt das alles von der Persönlichkeit Stefan Polónyis?
Ach, da würde ich nicht zu tief schauen wollen. Ich nehme das selbst als eine „Ergebenheit“ wahr. Wie es ist, wie es geworden ist, das hat sich so ergeben. Die Bibliothek ist bei mir über die Jahrzehnte gewachsen, ebenso meine Sammlung von Schallplatten und CDs. Viele Möbel sind von Stefan Wewerka und die Bilder von meiner vor Kurzem verstorbenen Frau.
Was findet man bei den Schallplatten und CDs, was gibt es da?
Es gibt klassische Musik. Viel Oper.
Sie haben eine kleine Bibliothek und ich behaupte, dass Bücher für Sie eine große Rolle spielen bis heute. Wie würden Sie Ihre Bibliothek beschreiben?
Man sollte es nicht glauben, aber ein wichtiger Teil meiner Bibliothek ist die Philosophie. Antike bis gegenwärtige – eigentlich alles, was ich brauche, um Erkenntnisse über das Leben zu gewinnen. Und dann freilich auch jede Menge Belletris-tik – überwiegend deutsch, auch etwas ungarisch – und dann Bücher über Kunst. Und last but not least, wie man so schön sagt, auch Bücher über Architektur und Bauingenieurwesen.
Fast ein universeller Ansatz. Gibt es eine Gewichtung, einen Kern oder sind die Bücher einfach so gekommen?
Eine Grundhaltung bei mir ist die Neugier. Und daraus hat sich auch die Bibliothek ergeben. Sie ist schlicht das Produkt meiner Neugierde.
Wo wir gerade bei den Büchern sind: Als ich mich damals in Köln von Ihnen verabschiedete, gaben Sie mir ein schmales Büchlein mit für die Zugfahrt, da stand „Entmystifizierung“ drauf. Dieser sehr programmatische Titel scheint mir das Motto zu sein für Ihre ganze Arbeit, die auch eine Überzeugungsarbeit war.
Wenn Sie das so sehen, freut es mich. Ja, vieles von dem, was ich erarbeitet habe, wozu ich beitragen konnte, hat etwas von Überzeugungsarbeit. Eine schöne wie auch anstrengende und nicht immer von Erfolg gekrönte Arbeit. Doch das, worauf sich der Titel bezieht, meint viel konkreter das Problem der omnipräsenten Überhöhung des eigentlich Banalen. Das sehe ich in der Politik, in der Wissenschaft, auch in meiner Wissenschaft. Wenn wir den Prozess des Entmystifizierens konsequent vorantreiben würden, wäre die Welt weniger vom Aberglauben beherrscht, von vorgefassten Meinungen und dem scheinbar ewig Gültigen.
Gibt es noch etwas, das Sie entmystifizieren wollen?
Mein Ansatz in der Arbeit des Entmystifizierens – der sich natürlich wesentlich auf die Ingenieurslehre bezieht – kommt nicht spontan, weil ich mir das so vorgenommen hatte. Hier folge ich Roger Bacon [engl. Philosoph des 13. Jh.; Be. K.], einem frühen Empiriker: Das Problem erkennen, dazu experimentieren, die Parameter separieren und dann einen theoretischen Zusammenhang bilden. Roger Bacon habe ich relativ früh für mich entdeckt, er war für mich sehr wichtig bei meiner Ehrenpromotion in Kassel im Jahr 1985.
Von Bacon habe ich grundsätzlich übernommen, die Vorschriften zu hinterfragen. Danach zu fragen, wieso und wann er oder sie oder die Gruppe an Vorschriften gearbeitet haben und zu welchem konkreten Zweck. Und diese Fragestellung muss eine kritische sein. Dieser kritische Ansatz muss natürlich auch gegen den Kritiker selbst angewandt werden. Wir müssen uns immer fragen, wie wir unsere Grundsätze unseren Schülern dargeboten haben, mit welcher nötigen Distanz und Selbstreflektion.
Es gibt diese Geschichte vom Frühstart Ihrer Professorenlaufbahn an der TU Berlin. Damals waren sie gerade einmal 35 Jahren alt. In dieser Geschichte kommt immer der Hinweis vor, dass Sie eigentlich erst mit 37 Jahren Professor sein wollten. Warum das?
Ich wollte – oder ich dachte, ich müsste es – noch ein paar Veröffentlichungen vor der Berufung machen. Ich fühlte mich noch nicht so weit. In Ungarn hatte man die Promotion abgeschafft, der Doktortitel wurde nur noch von der Akademie verliehen, wie in Russland. Die Promotion war damit nicht mehr als die Ernennung zum Doktor, also eine Auszeichnung, die viele Gründe haben konnte. Als ich nach Deutschland kam, musste ich erst einmal arbeiten und Geld verdienen, was mir nicht erlaubte, mich mit einer Dissertation zu befassen. Aber da hatte schon Ungers angerufen.
Ungers kannte Sie woher?
Ich hatte damals einen guten Kontakt zu Stefan Wewerka und der hatte mich en passant mit Ungers bekannt gemacht. Ich war dennoch von dem Anruf sehr überrascht, weil ich gar nicht wahrgenommen hatte, dass Ungers auf mich aufmerksam geworden war.
Können Sie sich noch daran erinnern, ob die Jugend, die einem professoralen Habitus entgegensteht, Einfluss hatte auf Ihren Umgang mit den StudentInnen?
Ich erinnere mich hier natürlich an diese spezielle Zeit der 1968er-Jahre in Berlin, die mich sehr geprägt hat.
In welcher Weise?
Ich habe in diesen Jahren gelernt, mit den StudentInnen mitzudenken. Und ich glaube auch, dass ich mit meinen StudentInnen sehr gut zurechtgekommen bin, auf einer partnerschaftlichen Ebene. Das denke ich heute. Damals war für mich ganz klar, dass der Kunde König ist und unsere Kunden sind die StudentInnen. Also gehe ich auf sie zu. Wie gehe ich mit ihnen um? Ich berate sie mehr, als dass ich sie belehre. Ich frage, was sie haben wollen, und ich bespreche mit ihnen, wie sie das haben wollen. Ich wollte den StudentInnen nie etwas beibringen, ich wollte sie nur neugierig machen, und dann habe ich ihnen geholfen, ihre Neugier zu befriedigen.
Hat die Frage nach dem Warum bei Ihnen in Ihrer Arbeitstätigkeit auch schon einmal dazu geführt, dass Sie selber keine Antwort gefunden haben und dann ein Projekt auch einmal abgesagt oder infragestellt haben?
Nein. Meine Zusammenarbeit mit den Architekten war meist so, dass ich versucht habe, sie behutsam zu lenken. Wir haben sehr intensiv die Planung besprochen, immer anhand der konkreten Baupläne. Dabei war es mir wichtig, zu verstehen, was sie haben wollten und warum so. Und erst dann habe ich mit der Tragkonstruktion auf das Warum eine Antwort gegeben.
1973, Anfang der Siebziger ging es dann an die Universität nach Dortmund. Da haben Sie zusammen mit Harald Deilmann die Gründung der Abteilung Bauwesen vorangetrieben wie ebenso das „Dortmunder Modell Bauwesen“, das
u. a. die gemeinsame Ausbildung von Ingenieuren und Architekten propagierte. Was war da das Wichtigste in dieser Zeit?
Am wichtigsten in dieser Zeit war Harald Deilmann. Damals war er der Vorsitzende des Gründungsausschusses der Fakultät geworden. Und er hat in dieser Zeit interessante Ingenieure zum Gespräch eingeladen. Mich hatte er auch eingeladen. Die anderen waren alle ältere Semester, vielleicht ist Harald deshalb bei mir einfach hängengeblieben. Wir haben uns sofort sehr gut verstanden.
Warum? Sind Sie die gleichen Typen gewesen?
Ja, vielleicht waren wir irgendwie verwandt. In jedem Fall hatten wir die gleiche Geschwindigkeit.
Zurück zum „Dortmunder Modell“. Warum sollten Architekten und Ingenieure wieder zusammen in einen Studiengang?
Aber darum ging es doch gar nicht. Wir wollten ja keine Trennung aufheben, ich glaube, das wird häufig so verkürzt dargestellt. Es ging doch eher darum, verlorene Schnittstellen wiederzubeleben. Damals wie heute, immer noch geht es im Bauingenieurwesen stark in Richtung Mathematik. Man glaubte, dass die Mathematik zuverlässige Ergebnisse liefere, und so wollten alle alles rechnen. Damals kam noch hinzu, dass man im Zuge einer allgemeinen Technisierung die Bauten grundsätzlich mathematisch beschreiben wollte. So hat man die Mathematiker in den Studiengang dazugeholt. Aber mit ihnen kamen die Architekten nicht so gut zurecht. Kein Wunder, denn die Mathematiker haben sie dazu bewegen wollen, solche Bauten zu machen, solche Konstruktionen, die sie rechnen konnten. Architektur, die auch und vor allem von der Bauart her richtig ist, war damit ausgeschlossen.
Wie hat die Begegnung mit dem Tausendsassa Wewerka auf Sie gewirkt?
Die Freundschaft zu Stefan Wewerka war für mich sehr wichtig, auch, weil ich in einer fremden Stadt auf Menschen angewiesen war, die selbst ein großes soziales Umfeld hatten. Wewerka hat mich mit vielen wichtigen Menschen bekanntgemacht, so mit Josef Lehmbrock und mit Oswalt Mathias Ungers. Ihm habe ich sehr viel zu verdanken.
1995 wurden Sie in Dortmund emeritiert. Sie sind da sicherlich nicht ein Loch gefallen?
Nein, ich habe zu tun bis heute. Obwohl damals, nach der Emeritierung, hatte ich keine so rechte Lust mehr, mich um mein Büro zu kümmern, vielleicht war ich von den alltäglich anstehenden Aufgaben, auch dem ganzen administrativen Einerlei ein wenig müde. Ich hatte mein Büro also an einen gut vernetzten Karnevalisten verkauft. Er konnte mit dem Büro nicht umgehen und löste es in ein paar Monaten auf. In einem zehnjährigen Gerichtsprozess mit wechselnden Vorsitzenden und mit Hilfe meines Anwalts hat das Gericht den Kaufvertrag für nicht gültig erklärt. Von einer Instanz, die den Baggerführer zum Verursacher des Archiveinsturzes erklärt, kann man nichts anderes erwarten.
Kölner Klüngel. Aber was haben Sie dann gemacht? Sie waren sicherlich immer noch ein gefragter Mann?
Ich kooperiere mit ehemaligen Mitarbeitern, so mit dem Büro Schülke Wiesmann aus Dortmund. Mit denen bin ich heute noch in gutem Kontakt, da ist immer noch eine sehr gute Freundschaft. Und dann habe ich noch zwei Patente.
Patente? Welcher Art?
Das eine Patent berührt den Stahlbetonbau. Hier forsche ich schon lange zu Elementen mit bügellosen Bewehrungen. Die Bügel liegen naturgemäß nah zur Betonoberfläche. Im Bereich der Zugspannungen provozieren sie Risse, Wasser dringt ein, der Stahl rostet und schädigt den Beton.
Die andere Neuerung besteht darin, dass man die wesentlich tragenden Bauteile mit der technischen Gebäudeausrüstung koppelt und zwar genau zwischen Bad und Küche. Diese dann im Werk vorgefertigten Elemente können auf dem Bauplatz zu variantenreichen Gebäuden zusammengefügt werden. Auch hier werden die Wände ohne Bewehrung gefertigt.
Was glauben Sie in der Rückschau, war Ihr wichtigstes Bauwerk, das kompromisslos Ihre Konstruktionsprinzipien, die tragenden Linien, tragenden Flächen verkörpert? Was wäre das, wo Sie sagen, das ist der Polónyi?
Dürfen es zwei sein? Also einmal ein Bauwerk für die tragenden Linien: die Tiergartenbrücke in Dessau über die Mulde. Kister Scheithauer Gross sind die Architekten, von mir kommt die Objekt- und Tragwerksplanung. Und die Schale der St.-Suitbert-Kirche in Essen-Überruhr, ein Entwurf mit Josef Lehmbrock für die tragende Fläche.
Nun komme ich auf Ihren Beitrag, den wir in der Februarausgabe der DBZ veröffentlicht haben unter dem Titel „Der Beton und seine zweckmäßige Armierung“. Müssen wir Normen und Vorschriften neu denken und haben wir noch Zeit dazu? Und überholt Sie nicht gerade die Entwicklung des Carbonbetons?
Ein klares Nein zu Letzterem. Stahlbeton, armierter Beton, den ich beschrieben habe, und Carbonbeton haben eine gewisse Ähnlichkeit, aber letztlich nichts miteinander zu tun.
Zu meiner vorletzten Frage: Was wünschen Sie denen, die immer noch den Beton lieben?
Dass sie mit dem Material so umgehen, wie ich das beschrieben habe. Kritisch, lernend, bereit für das Neue und verantwortungsvoll. Und dass sie nicht auch dort Stahlbeton machen, wo der Beton längst ausreichen würde.
Meine vielleicht letzte Frage – die auch eine persönliche ist: Wo in Ihrem Haus fühlen Sie sich am meisten zu Hause?
Eigentlich überall. Hier oben, wo ich gerade mit Ihnen telefonieren, sitze ich an den Möbeln vom Wewerka vor dem Computer. Hier kann ich gut arbeiten, hier fühle ich mich wohl. Wenn ich etwas lese, dann fühle ich mich auf der Gartenseite am wohlsten. Und wenn wir Gäste haben, Abendgäste, dann an dem Tisch von Wewerka für 14 Personen. Im Januar waren wir hier noch um diesen Tisch versammelt mit lieben Menschen, eine große Runde im Andenken an meine verstorbene Frau.
Herr Polónyi, ich danke Ihnen für das offene Gespräch und wünsche im Namen der Redaktion eine gute Zeit und Erfolg für Ihre Arbeit.
Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen und mit mir ein solches Gespräch gesucht haben. Ich wünsche diesem Text viele Leser. Mit einem Dank und Tschüss.
Mit Prof. em. Dr.-Ing. E. h. mult. Stefan Polónyi unterhielt sich DBZ-Redakteur Benedikt Kraft am 5. Mai 2020 telefonisch. Das Gespräch ist in ganzer schöner Länge hier auf DBZ.de nachzulesen.