Im Gespräch mit … Prof. Nikolaus Hirsch, Berlin www.2038.xyz

Auf jeden Fall eine neue Ästhetik

Im vergangenen Jahr sollte planmäßig die 17. Architekturbiennale in Venedig starten, es kam anders. Nach einer Verschiebung in den Herbst starte die Ausstellung dann im Mai 2021 und läuft noch bis Ende November dieses Jahres. Alles anders? Tatsächlich, insbesondere bezogen auf den deutschen Beitrag, der sich unter dem Titel „2038 – The New Serenity“ in einem erstmals in der Ausstellungsgeschichte komplett ausgeräumten Pavillon präsentiert. Wir sprachen darüber mit einem der vier Kuratoren, mit Nikolaus Hirsch, virtuell, dem Ausstellungskonzept wie der Situation insgesamt angemessen.

Lieber Nikolaus, Gelassenheit. Wie gelassen können wir sein? Nicht 2038, sondern jetzt? Und: Dürfen wir noch gelassen sein?

Nikolaus Hirsch: Heute sind wir nicht gelassen. Aber aus der Rückschau von 2038 wäre etwas Gelassenheit vielleicht angebracht. In 2021 erleben wir eine Krise und es wäre wahrscheinlich zu kurz gegriffen, zu denken, dass diese schnell vorbeigeht. Aber wir schauen ja zurück, von 2038 auf heute. Als wir mit dem Projekt 2038 vor zwei Jahren begannen, war interessanterweise schon eine Krise da, vor Corona. „Fridays for Future“ und andere Initia­tiven schufen ein Gefühl, dass da irgendetwas kommt, dass die Dinge nicht so weitergehen können. Es hätte nahe gelegen, eine Dystopie zu entwickeln. Das fanden wir aber wenig interessant, wir hatten das Gefühl, niemand braucht jetzt noch eine weitere Dystopie. Das Biennale-Motto „How will we live together“ war explizit ein Aufruf, in die Zukunft zu denken. Uns interessierte, eine positive, produktive Utopie, die Architektur in einem größeren gesellschaftlichen Kontext verortet. Da mussten wir uns dieses narrativen Kniffs bedienen, die Geschichte in einem Rückblick aus dem Jahr 2038 zu erzählen, wie wir aus der Krise herausgekommen sind und wie dabei Architekten ihr Berufsbild neu definiert und neue Rollen gefunden haben.

Warum 2038? Bedeutet die Zahl etwas?

2038 erschien uns aus zwei Gründen interessant. Zum einen liegt das Datum nicht zu weit in der Zukunft, sondern in einem realistischen Planungszeitraum, so dass Bezüge zwischen heutigen Praktiken und Projekten noch darstellbar sind. So haben wir beispielsweise das Ökohaus von Frei Otto miteinbezogen und gewissermaßen in die Zukunft extrapoliert. Das war das eine. Das andere ist der historische Aspekt; 1938 wurde dieser Pavillon von den damaligen Machthabern im Dritten Reich umgestaltet, ja uminterpretiert – ein Bezug, der den Zusammenhang zwischen Architektur und Politik verdeutlicht.

Bevor wir zum Pavillon, zum Umgang mit diesem Bau kommen, die Frage nach dem Team. Ihr seid zu viert. Wer hatte die erste Idee?

Initiiert wurde das Projekt von uns vieren, von Arno Brandlhuber, Olaf Grawert, Christopher Roth und mir.

Wie kamt ihr zusammen?

Arno, Olaf und Christopher arbeiten schon seit Längerem zusammen. Ich kenne Arno schon seit einer gefühlten Ewigkeit, seit dem Studium in Darmstadt. Christopher ist der einzige Nicht­architekt – er kommt vom Medium Film, das den Pavillon ganz wesentlich prägt. Was uns zusammenbringt, ist, dass jeder von uns immer wieder das herkömmliche Berufsbild des Architekten hinterfragt. Wir alle sind stark in der Lehre engagiert und haben dort die Möglichkeit gehabt, die tradi­tionelle Praxis auch immer von den Rändern her zu bearbeiten. Ich denke, das spürt man auch bei unserem Beitrag in Venedig.

Ihr seid aber nicht bei euch vieren geblieben. Am Ende sind es knapp 200 Menschen, die involviert sind. Ist das der erfolgreiche Aufruf in ein großes Netzwerk?

Das Team 2038 ist ein sehr großes Netzwerk. Das ist in gewisser Weise die Vorwegnahme dessen, was wir uns für die Praxis 2038 vorstellen: weniger ein hierarchisiertes Star­architekten-System als vielmehr eine sich immer wieder verändernde kollaborative Konfiguration. So konnten wir deshalb produktiv an einem komplexen Filmnarrativ arbeiten, weil wir einen Writers Room etablierten. Mit den Autoren haben wir zunächst über Methodologien diskutiert, dann wurden erste kleine Texte geschrieben, Szenarien für den Film. Manches davon ist später nicht mehr aufgetaucht, aber das Meiste hat Einfluss auf das Narrativ gehabt. So basiert der Film „Interrail 2038“ wesentlich auf einem Text des Schriftstellers Leif Randt. Es handelt sich um eine Art Prolog zu 2038, in dem zwei Jugendliche, die während der Pandemie 2021 geboren wurden, im Jahr 2038 in Venedig auf der Biennale sind und zurückschauen auf ihr Leben. Diese Geschichte hätten wir gar nicht ohne ein großes Netzwerk schreiben können. Daneben gibt es Kollaborationen wie zum Beispiel mit Google Arts and Culture, mit denen wir den virtuellen Pavillon entwickelt haben. Auch das ist ein wichtiges Thema: die Frage nach dem Ort. Nicht jeder hat das Privileg, nach Venedig zur ­Biennale reisen zu können, eher die paar Glücklichen, die ein Preview-Ticket und vielleicht das Geld haben, um zu kommen. Es ist doch klar: Wir verhandeln im deutschen Pavillon nicht nur deutsche Themen oder venezianische. Wir konnten gar nicht anders, als die globale Vernetzung strukturell zur Grundlage des Projekts zu machen. Dabei spielt der virtuelle Pavillon eine wesentliche Rolle, der sowohl die globale Teilnahme als auch die zeitliche Offenheit über den Biennale-Zeitraum hinaus garantiert.

Damit ist euer Projekt erstmal unbefristet angelegt? Wer wird das weitertreiben und: finanzieren?

2038 hat ein offenes Ende. Das Projekt ist – trotz unserer Freude, den deutschen Pavillon kuratieren zu können – so angelegt, dass es nicht nur für die Biennale Bestand hat, sondern darüber hinaus weiterläuft. Das heißt, wir werden in Zukunft an verschiedenen Orten in Zusammenarbeit mit dem Goetheinstitut in São Paulo, Seoul oder Johannesburg Veranstaltungen machen, die aber auch im virtuellen Raum erlebbar sein sollen. Dort werden wir für unseren History-Channel und die darin versammelten Experten – die fiktional sprechen und von 2038 zurückblicken – weitere Experten einladen und weitere Filme mit lokalen Akteuren entwickeln. Das halten wir für ein wesentliches Element in unserem Projekt: ein Maßstab, der über Venedig zeitlich und räumlich ­hinausgeht.

Offenheit bedeutet manchmal auch Auseinanderfallen. Viele der hier Ausstellenden machen einen Katalog. Habt ihr einen?

Braucht 2038 einen Katalog? Uns war klar, dass wir ein anderes Medium brauchen, das auch die Frage der Distribution und der Öffentlichkeit einer Biennale neu stellt. Wir wollten unbedingt Architekturthemen mit anderen sozialen Kontexten verbinden und da war klar, dass wir eine anderes Medium als den klassischen Katalog brauchen. Deswegen haben wir mit „Arts of the Working Class“ zusammengearbeitet, ein Autoren- und Verlegerkollektiv, mit denen wir eine Straßenzeitung entwickelt haben. Die zweite Ausgabe von 2038 wird im Sommer publiziert. Wir halten dieses Medium auch deshalb für interessant, weil es von Straßenverkäufern wie Obdachlosen verkauft wird, die den Erlös behalten.

Also wollte ihr die Zielgruppe drastisch erweitern, die Katalogeinkäufer sind tatsächlich meist nicht diejenigen, die man erreichen sollte … und Kataloge stehen häufig ungelesen im Regal. Gibt es eine Möglichkeit zu verfolgen, wen ihr mit euren Botschaften über die Straßenzeitung erreicht?

Neben dem physischen und virtuellen Pavillon und der Zeitung haben wir eine Reihe weiterer Formate entwickelt: kollaterale Formate bis zum Ende der Biennale im November. Darüber hinaus machen wir mit dem Goethe-Institut eine Serie, die global aufgesetzt ist, im Herbst startet und ins nächste Jahr hinein geht.

Man spricht zurzeit gerne von Narrativen, ihr auch. Wie würdest du das Narrativ 2038 zusammenfassen?

Wir nehmen Bezug auf das Biennale-Thema „How will we live together“. Das heißt unter anderem: „Wie funktioniert Demokratie?“. Dazu haben wir eine der ProtagonistInnen der Diskussion gewinnen können, die Digitalministerin Taiwans, Audrey Tang. Ihr Blick geht auf direkte Demokratie, digitale Verfahren und die Art und Weise, wie überhaupt Gesellschaft konstruiert wird. Wie gehen wir mit Daten um? In der Architektur ist es doch offensichtlich, dass es immer mehr um Dinge wie Facility-Management geht, um Gebäudezyklen. Da werden im Augenblick noch nur die Daten abgeschöpft, die Gewinner sind Google und andere Techgiganten. Wir brauchen gerade hier Möglichkeiten, unsere Daten autonom zu verwalten, zu kontrollieren und damit selbstständig zu entscheiden. Ein weiteres Thema ist die Frage: Wie bauen wir? Hierzu haben wir unterschiedliche Büros wie  beispielsweise Oberhuber Rau eingeladen, die sich mit zirkulärem Bauen, einer zirkulären Ökonomie befassen.

Kommen wir noch mal auf das Architektenbild, über das wir am Anfang kurz sprachen. Welche Rolle haben denn die ArchitektInnen 2038 noch? Sind sie neben politisch denkenden ­AktivistInnen auch noch GestalterInnen?

Gestaltung bleibt essentiell – aber sie wird sich dramatisch verändern. Es wird auch in Zukunft eine ästhetische Dimension im Architektenberuf geben. Wir sehen eine neue Ästhetik, die nicht nur an der Oberfläche, am Objekt klebt, sondern systemische Zusammenhänge mitdenkt. Die Architektur der vergangenen drei Jahrzehnte ist doch von einem gewissen Fokus auf das Objekt und seine skulpturalen Eigenschaften geprägt. Wir haben gesehen, dass dieser Objektfetischismus gerade in der jüngeren Generation eine sys-temische Kritik erzeugt hat. Wir beschreiben rückblickend aus 2038 den Anfang der zwanziger Jahre als einen historischen Moment, in dem soziale und politische und ökonomische Systeme hinterfragt werden.

Müssen wir 2038 in neuen Häusern leben?

Ja, es wird auch neue Häuser geben. Aber vor allem einen Bestand, mit dem sehr viel intensiver gearbeitet werden wird.

Wie sehen die neuen Häuser aus?

Die neuen Häuser bestehen vornehmlich aus natürlichen Materialien. Die klassischen Materialien der Moderne – Stahl, Glas und Beton – werden zunehmend kritisch hinterfragt. Die ganze Materialwirtschaft wird sich neu erfinden.

Ihr wollt einen breiten Diskurs, der die Systemgrenzen überspringt. In welcher Sprache wird zukünftig dieser Diskurs geführt?

Wir gehen davon aus, dass Coding [Programmieren; Be. K.] das Alphabet der Zukunft ist. Wer nicht coden kann, wird bald schon mit einer ­Situation konfrontiert, in der er oder sie entmachtet wird und die privaten Daten von privaten Unternehmen oder Staaten kontrolliert werden. Die Daten werden uns gehören müssen.

Hat es euch nicht doch ein bisschen in den Fingern gejuckt, den jetzt so gut wie leeren deutschen Pavillon anzufassen, ihm etwas mitzugeben für die Monate der Ausstellung? Oder ist die Leere im Pavillon Konzept?

Der leere Pavillon ist Konzept. Wir wollen damit die Besucher in Venedig auf die gleiche Stufe stellen wie die, die nicht in Venedig sein können. Beide Pavillons, der virtuelle und der physische, sollen sich möglichst stark verhaken. Hier und dort kann man sich treffen und austauschen, auch zwischen beiden Welten. Von 2038 betrachtet wird sich die Biennale verändert haben. Diese Kulturkarawane, die zu den Biennalen kommt, ist ein phantastisches Spektakel, aber es hat es sich zu Tode spektakelt. Auch deswegen ist unser Projekt im leeren Pavillon ein Kommentar zur Biennale.

Vorletzte Frage: Wie sind die Reaktionen der BesucherInnen auf die Leere im ansonsten prallvollen Umfeld?

Die Besucher reagieren sehr unterschiedlich, das hat etwas mit unterschiedlichen Generationen zu tun und mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen. Es ist durchaus gewünscht von uns, die üblichen Erwartungshaltungen an eine Biennale zu hinterfragen.

Zum Schluss gefragt: Hast du für uns eine Empfehlung? Was sollten wir nicht verpassen?

Es gibt hier nicht den großen Wurf auf der Biennale. Auf jeden Fall sollte man die Hauptausstellung im Arsenale besuchen, die Hashim Sarkis komplett kuratiert hat. Die Thematik ist politisch, sozial und ökologisch – doch es bleibt ein eher traditioneller Fokus auf eine Architektur der schönen Objekte. Es zeigt sich einmal mehr, dass die vorhandenen politischen Ansprüche nur mehr schlecht als recht ins Medium der Architektur zu übersetzen sind. Wir ahnen alle, dass etwas in der Luft liegt, aber noch fehlen die adäquaten Instrumente der Repräsentation. Das ist der Grund, weshalb wir gesagt haben: Von 2038 zurückgedacht sind die Instrumente da.

Also: Verzweifelt nicht, wir schaffen es?!

Genauso ist es.

Mit Prof. Nikolaus Hirsch unterhielt sich DBZ-Redakteur Benedikt Kraft via Zoom am 4. Juni 2021 vom Homeoffice aus.

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