Stuttgart 21 – das „am besten kalkulierte Projekt aller Zeiten“?

Das Bahnprojekt Stuttgart 21 (S21) wurde jetzt mit den Stimmen der CDU / SPD-Koalition im Bundestag abgesegnet

Es ist vollbracht. Das Bahnprojekt Stuttgart 21 (S21) ist mit den Stimmen der CDU / SPD-Koalition im Bundestag abgesegnet worden, nachdem vorige Woche der Haushaltsausschuss die Weichen gestellt hatte. Die Absegnung im Bundestag war gestern nur noch eine Formalie, die Entscheidung aber ist wieder einmal ein Beispiel, dass es in der Politik nicht um Vernunft geht, sondern um Prestige. Mit der Unterzeichnung der Verträge zum Bau des Milliardenprojektes S21 wird eine Jahrhundertchance verpasst.
 
Die Geschichte um das Bahnhofsprojekt, das schon vor 14 Jahren angedacht wurde, ist lang und kompliziert. Um es kurz zu machen: Die Umgestaltung des Stuttgarter Bahnhofes mit der Anbindung des Flughafens und die Schnellbahnstrecke nach Ulm wird viele Milliarden Euro kosten, wie viel genau lässt sich heute nicht sagen – ob es die Verkehrsprobleme der Region Stuttgart und des Mittleren Neckarraumes, immerhin nach dem Ruhrgebiet und Berlin die drittgrößte Metropolregion in Deutschland mit dreiprozentigen Wachstumszahlen, nachhaltig lösen wird, ist mehr als fraglich. Aber darum ging es den Befürwortern nicht und genau darin liegt die verpasste Chance.
 
Dem Betrachter stellt sich das Dreigestirn um Bahnchef Mehdorn, Stuttgarts OB Schuster und Baden-Württembergs Ministerpräsident Oettinger gegen Ende des Ringens um Milliarden als ruhmheischender Männerbund dar, der – um sein Leben kämpfend – nur noch dieses eine Projekt durchboxen wollte, um sich dann zur Ruhe zu setzen. Mit Vernunft hat diese Entscheidung aber nichts zu tun. Durch das Projekt wird es zwar gelingen, die Landeshauptstadt als einen Durchgangsbahnhof an die Strecke Paris – Bratislava (Werbeslogan: Das neue Herz Europas) anzubinden, und es wird gelingen, den Flughafen an die Schnellbahnstrecke in Richtung München anzubinden – mehr aber auch nicht!
 
Für eine vernünftige, zukunftsorientierte Verkehrspolitik wäre aber mehr nötig gewesen. Stuttgart 21 hätte zukunftsweisend sein können. Die Chance hätte darin bestanden, den Verkehrknotenpunkt Stuttgart völlig neu zu denken und zu strukturieren. Aber selbst der tägliche Verkehrskollaps auf den Straßen rund um die baden-württembergische Landeshauptstadt und die durch die Energieknappheit angeheizte Debatte um alternative und für den Verbraucher bezahlbare Verkehrskonzepte ließen die Investoren aus Bund, Land und Bahn nicht umdenken. 1994 wurde mit den Planungen begonnen, heute entsprechen sie nicht mehr den Erfordernissen. Auch in Zukunft wird in der Hauptstadt des Automobils – obwohl das paradox klingen mag (denn es wird ja in die Schiene investiert) – auf die Straße gesetzt werden. Vom wirklichen Umbau des Verkehrswegenetzes zum Wohle einer mobilen Gesellschaft, mit der Möglichkeit zur Nutzung verschiedenster Verkehrssysteme, ist in Stuttgart und der Umgebung fast nichts zu spüren. Hier wird konsequent auf die Straße gesetzt. Und der Ausbau des öffentlichen Verkehrs (höhere Taktzeiten bei S- und U-Bahnen, konsequenter Ausbau des Streckennetzes, generelle Mitnahmemöglichkeit von Fahrrädern), schnelle und damit zum Auto konkurrenzfähige Zugverbindungen in alle Richtungen (zum Beispiel eine neue Trasse vom Flughafen Richtung Süden) und ein vernünftig ausgebautes Radwegenetz wird es auch nach der Fertigstellung von S21 nicht geben, denn dazu wird dem Land und Stadt einfach das Geld fehlen.

Die Kosten für das Projekt S 21, mit der Anbindung zur Schnellbahnstrecke Stuttgart-Ulm, Bahnhofsneubau, Anbindung des Flughafens mit über 40 km Tunnelbauten, werden von offizieller Seite auf 3,077 Milliarden Euro beziffert. Ein Gutachten des Planungsbüros Vieregg / Rößler (stoppte mit seinen Prognosen 2007 den Transrapid) kommt auf 8,7 Milliarden Euro, der Bundesrechnungshof immerhin auf 5,3 Milliarden. Aber auch dieses letztere Rechenergebnis einer eigentlich neutralen Instanz ließ die Verantwortlichen unbeeindruckt. Gebetsmühlenartig wird seit Monaten versichert, dass das Projekt „solide geplant sei“, von der Bahn wurde es sogar als das „am besten kalkulierte Projekt aller Zeiten“ dargestellt. Weshalb dann ein Risikofonds von 1,3 Milliarden bereitgestellt wurde bleibt lässt die Kritiker ein weiteres Mal punkten. Soll keiner glauben, dass dieses Polster nicht angerührt würde.

Leider tragen an der Stuttgart 21-Misere auch die Projektgegner Schuld. Sie versteiften sich seit geraumer Zeit auf die Erhaltung des Bahnhofs des Architekten Paul Bonatz, der mit dem Neubau des Durchgangsbahnhofes um die Seitenflügel gestutzt werden soll. Es gelang ihnen zwar, rund 60.000 Menschen zu mobilisieren, die sich mit ihrer Unterschrift gegen den Abriss des Bahnhofs und gegen S21 aussprachen, allerdings kam dieser Aufschrei zu spät. Die Frist für ein Bürgerbegehren war längst abgelaufen. Nur logisch, dass niemand im Rathaus zurückrudern wollte oder auch konnte, auch wenn OB Schuster zuvor ein süffisantes Versprechen abgegeben hatte, dass bei erheblichen Mehrkosten des Projektes ein Bürgerentscheid zum Tragen komme. Anstatt aber die Argumente zu bündeln und eine wirkliche Alternative aufzuzeigen (zum Beispiel die Forderung eines Fernbahnhofes am Stuttgarter Flughafen wie in Frankfurt, der als zentraler Bahnhof mit Autobahnanschluss hätte entstehen können) wurde mit aller Kraft am Erhalt des alten Bahnhofes festgehalten; oder es wurden Lösungen präsentiert, die nicht finanzierbar waren. Eine Refinanzierung durch freiwerdende Gleisflächen (wie bei der nun geplanten Lösung) konnten die Gegner nie präsentieren.
 
Allerdings sind für ein solches Verkehrsprojekt, das den Steuerzahler Milliarden Euro kosten wird, Visionen gefragt und man hätte Visionäre fragen sollen, die sich mit soziostrukturellen und verkehrstechnischen Veränderungen der Zukunft befassen und mehr als nur den vollständigen Erhalt eines Bahnhofes oder einen futuristischen Durchgangsbahnhof fordern. So aber haben sich einige Politiker ein Denkmal gesetzt und die Projektgegner werden noch lange den abgerissenen Bahnhofsflügeln nachtrauern. Eine nachhaltige Lösung, die auf Dauer den Verkehr auf die Schiene lockt und nicht nur schnell reisende Fahrgäste bedient, die dann auch noch im Untergrund in Stuttgart ankommen, wurde leider vertan.
 
Rüdiger Sinn, Stuttgart

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