M9. Museum, Bildung, Shopping, Stadterneuerung

Ein Baustellenbesuch im vielleicht nicht größten, auf jeden Fall spannendsten und anspruchvollsten Architekturprojekt in Mestre/Italien

Mestre hat keinen guten Ruf. Denkt man. Steht im Schatten der Wunderstadt Venedig, von welcher Mestre verwaltungstechnisch noch immer ein Teil ist. Noch immer, denn, Mestre möchte auf die eigenen Beine. Wirtschaftlich gesehen könnte der Vorort der Touristenmetropole und – wie der Autor findet – immer noch schönsten Stadt der Welt tatsächlich sehr gut ohne. Allerdings möchte die kleine Industriestadt nicht ganz ohne Venedig sein, denn während die Lagunenstadt unter der Last der zig Millionen Durchreisenden in jedem Jahr stöhnt, greift sich Mestre die Übernachtungen ab. Einen kleinen aber stetig wachsenden Teil der Übernachtungen. Gibt man Venedig und Mestre in eine Suchmaschine zeigen die Treffer, wohin dort die Reise geht: lieber Mestre oder doch Venedig, um Venedig zu besuchen?

Günstiger sind die Hotels dort, das Essen besser, der Cafe sowieso. Und besser auch und freundlicher der Service. Wie das überall auf der Welt ist, nahe den Touristenhochburgen. Die Busfahrt aus Mestre-Zentrum über die Inselbrückenstraße nach Venedig dauert eine knappe halbe Stunde und kostet – noch – unter 2 €. Wer nicht morgens ganz früh nach Venedig fährt oder abends zur Tagesschau wieder im Hotel in Mestre sein möchte, hat den Bus auch mal für sich. Ansonsten heißt es: Stehplatzkampf. Und wirklich ist die Stimmung der Einwohner Mestres auch schon mal gespannt, wenn wieder einmal kofferbeladene Touristen den Kinderwagenplatz okkupiert haben oder auf dem Fensterplatz beharren, selbst dann, wenn zugestiegene Pendler deutlich älter sind. Man will eben aus dem Fenster schauen können, wenn man über die Brücke über die Lagune einläuft und auf der Piazzale Roma aus dem Bus geworfen wird: Prego, signori, girate a destra!

Vor der Brücke über die Lagune hat man – wenn man nicht in Kampfhandlungen um einen guten Platz verwickelt war – zahlreiche Baustellen gesehen. Entlang der Einfallstraße Strada Regionale 11 und der parallel dazu verlaufenden via Ca' Marcello werden im Augenblick neue Hotelburgen aus dem Boden gestampft. Hunderte, tausende neue Zimmer, deren Zweck einzig und allein der ist, noch mehr Gästen aus aller Welt den Besuch Venedigs zu ermöglichen. Aus dem Zimmer, dem Fahrstuhl, dem Foyer hinein in den Bus, die Bahn und auch den Pkw wenn gewünscht. Auch das ein Grund zunehmender Aggressivität. Die Ausbreitung der Massen in den Rückraum, dorthin, wo man zwar gerne mitverdient, andererseits aber auch seine Ruhe haben möchte, macht Angst. Die Tageszeitungen Mestres sind zweigeteilt in ihrer Bewertung der Sache. Während die einen jubeln schreiben die anderen vom „degrado“, von der Zerstörung der Stadt (das „Demütigen“ steckt ebenfalls in diesem Wort).

In dieses alles hinein dann im Jahr 2010 ein internationaler Wettbewerb für das Herz der ebenfalls alten Stadt, die allerdings weniger geschützt war und darum heute dem Besucher gar nicht mehr so alt erscheint. Gesucht wurde seitens der Fondazione di Venezia das „M9 New Museum for a New City“, entschieden wurde damals für den Entwurf von Sauerbruch Hutton Architekten, Berlin, die sich damit erfolgreich gegen die französischen Architekten der Agence Pierre-Louis Faloci, das italienische Carmassi Studio di Architettura, David Chipperfield Architects, das spanische Büro Mansilla+Tuñón Arquitectos sowie gegen Souto de Moura Arquitectos durchsetzten. Ihr Entwurf überzeugte die Jury vor allem durch seinen städtebaulichen Ansatz. Die beiden neuen Volumen formen eine Diagonale, die zu einer belebten Gasse werden soll. In der Erdgeschossebene über Glasfronten geöffnet, einen Platz bildend und Straßenraumkanten neu definierend, setzen die Neubauten zusammen mit dem komplett entkernten Konvent auf der nördlichen Seite des Areals auf eine Entwicklung auf, die in diesem Viertel schon seit ein paar Jahren in Bewegung ist und sich durch Bürgerengagement mit kommunaler Initiative vermischt.

Während die großen Flächen im Altbau - einer Vierflügelanlage aus dem späten 16. Jahrhundert - im Wesentlichen dem Retail und der Gastronomie nutzen werden, wird der Museumsbau hinter der bunten Keramikverkleidung der Kunstsammlung der Stiftung dienen, die schwerpunktmäßig zeitgenössische Kunst umfasst. Der mittels einer Leichtbaukonstruktion überdachte Innenhof des Konvents - die Dachflächen schweben als leichte Membran-Konstruktion leicht über den historischen Dachflächen ohne diese an irgendeinem Punkt zu berühren - dient ganzjährlich Veranstaltungen, ist aber auch als zentrale Erschließung und (fast) ganz alltäglicher Platz zu verstehen (Bänke?!).

Öffentlichkeit ist auch im Ausstellungsvolumen vorgesehen, zumindest das Erdgeschoss mit seinem großen Amphi-Theater und umliegenden Flächen soll bis in die Nacht geöffnet bleiben. Ende 2018 sollen die meisten Arbeiten abgeschlossen sein, wann die Kunst einzieht ist noch ungewiss und hängt sicher vom Raumklima ab. Was nicht daran hindern sollte, das M9 in großen Teilen schon in das lebendige Viertel als quirliges neues Zentrum aufznehmen. Be. K.

Sauerbruch Hutton, Berlin

M9 Museum

Fondazione di Venezia

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