Brutalismus. Architekturen zwischen Alltag, Poesie und Theorie

Internationales Symposium in Berlin. Von Cordula Rau

Der Brutalismus hat gegenwärtig Konjunktur. So kam das Symposium in der Akademie der Schönen Künste in Berlin genau zum rechten Zeitpunkt. Schon lange befassten sich Florian Dreher und Werner Sewing an ihrem Lehrstuhl in Karlsruhe mit dem Thema und dem Gedanken, ein internationales Symposium zu veranstalten. Es sollten „Kriterien und Maßstäbe für die Bewertung der brutalistischen Architektur begründet und erprobt“ und „rechtzeitig für diese bedrohte Baukultur eine sensible Wahrnehmung kultiviert werden.“

2009 hielten sie in Karlsruhe ein Seminar für die Studenten ab. Nun fand am 10. und 11. Mai in Berlin die geplante Tagung statt. Ohne Werner Sewing. Er verstarb im Sommer 2011 nach langer Krankheit. „Ja, das hätte ihm gefallen, wäre er jetzt unter uns“, würdigt ihn Werner Durth in seiner Eröffnungsrede in der Berliner Akademie der Künste. Mit Durths Vortrag über die Geschichte der Akademie ging es in die erste Runde.

 

Von nah und fern war man angereist, um der Tagung beizuwohnen. Ein beindruckendes Team internationaler Experten hatte sich zusammen gefunden. Am Vorabend sorgte der Empfang in der Tschechischen Botschaft für den Auftakt. Die brutalistische Architektur des Botschaftsgebäudes in der Wilhelmstrasse bot den adäquaten Rahmen. Lauschte man den Stimmen der Gäste, hatten viele – auch alteingesessene Berliner  – den beeindruckenden Veranstaltungsraum noch nie von innen gesehen. Nach mehreren Begrüßungsrednern ­– unter ihnen der Botschafter der Tschechischen Republik – widmete Vladimír Šlapeta seine Einführung dem „Brutalismus im Osten Europas“. Beim anschließenden Apéro am Buffet waren Constanze Lohbecks Architekturnachbildungen in Plätzchenform begehrtes Highlight.

 

Zu Tagungsbeginn zeugte reger Andrang vom Interesse der Besucher. Das zweitägige Symposium war in vier Blöcke unterteilt. Es begann mit Beiträgen der „Elder Statesmen“, der Ehrengarde der Architekturtheorie. Hintereinander sprachen Werner Oechslin, Stanislaus von Moos und Kenneth Frampton. Sie beleuchteten Theorie und Begriffsgeschichte des Brutalismus und analysierten den Stand der Forschung. Blieb der Begriff zunächst diffus, da es laut Joan Ockman einfacher ist, zu beleuchten, „was Brutalismus tat, als was er ist“, so wurde spätestens nach einem erläuternden Publikumsbeitrag klar, dass der aus dem Französischen stammende Begriff „Béton Brut“ wenig zu tun hat mit dem deutschen Wort „Brutal“.

Als vielschichtige Bewegung ging der Brutalismus aus dem Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM) hervor. In den fünfziger und sechziger Jahren aus dem Ursprungskontext in Großbritannien kommend, avanciert der Brutalismus bald zum internationalen Projekt von Japan bis nach USA. Die vorgetragenen Länderstudien zeigen Laboratorien in Großbritannien, Frankreich und der Schweiz. Reyner Banhams Kodifizierung zieht sich in den Vorträgen durch wie ein roter Faden. Tom Avermaete berichtet über Frankreich, Luca Molinari aus Italien. Sicherlich ist eines der populärsten Beispiele die Unité d’habitation von Le Corbusier. Doch auch heute werden Interpretationen des Brutalismus gebaut, wie Stephen Bates und Philip Ursprung betonen. Spannend gestalten sich Jörg Gleiters Ausführungen über nationale Traumata nach 1950 und ihre Auswirkungen auf die Architektur am Beispiel Japan.

Als Sinnbild der deutschen Brutalismus-Bewegung gilt Werner Düttmanns Kirche aus den sechziger Jahren. Sie ist erhalten geblieben. Den geplanten Abriss der Robin Hood Gardens in London kann man jedoch als bedrohliches Signal gegenwärtiger Brisanz der konservatorischen Debatte auffassen. Wie gehen wir künftig um mit dem Erbe dieser Architektur?

Es geht um den Authentizitätsanspruch von Gesellschaft und Architektur, meint Werner Durth. „Brutalismus ist zunächst ein diffuses Projekt der Generation, die mit einer fast fundamentalistischen Rückkehr zu den Materialien der Moderne und ihrer unvermittelten sinnlichen Anmutung im Béton Brut als Ästhetik der Wahrhaftigkeit zugleich Ethik beansprucht. Diese Ethik bezieht sich auf die alltägliche Rolle des Gebauten im Leben der Bewohner, Everyday statt High Culture.“

Was bleibt, ist, die Wirkungsgeschichte des Brutalismus bis in die Gegenwart zu behandeln, Forschungsfelder zu erschließen und Anschlussfragen zu formulieren. Eine umfangreiche Publikation der Veranstalter wird folgen und dazu beitragen, die anspruchsvolle Botschaft des Symposiums weiter zu tragen.

Weitere Informationen zum Kongress unter www.brutalismus.com

Thematisch passende Artikel:

10/2011

Werner Sewing 1951-2011

Er hatte eine eher selten anzutreffende Profession, der 1951 in Bielefeld geborene Werner Sewing: Er war Architektursoziologe. Nach dem Studium der Soziologie, Geschichte und Politikwissenschaften in...

mehr

Brutalismus. Architekturen zwischen Alltag, Poesie und Theorie

DBZ: Ihre Tagung zum Brutalismus am 10. und 11. Mai in Berlin war sehr gut besucht - es werden insgesamt an die 1.000 Besucher gewesen sein. Für eine Veranstaltung, in der es um Architekturtheorie...

mehr
11/2017

Zuversicht vermitteln, dass man die Welt verändern kann Im Gespräch mit Werner Durth, Darmstadt

Wie fühlen Sie sich, lieber Werner Durth, kurz vor dem Abschied von der Uni? Sind da Lachen und Weinen? Werner Durth: Ja, sicherlich beides. Ich freue mich darauf, nicht mehr täglich von diesem...

mehr

Schelling Architekturpreis 2010

Öffentliche Preisverleihung am 14. November 2010, Karlsruhe

Der mit insgesamt 30 000 € dotierte Preis der Schelling Architekturstiftung geht in diesem Jahr an die chinesischen Architekten Wang Shu & Lu Wenyu von Amateur Architecture Studio (Kategorie...

mehr
10/2019

Menschen: Rolf Disch, Natalie Eßig, Santiago Calatrava, Andreas Meck, Werner Durth

Rolf Disch, Solarenergie-Pionier der ersten Stunde mit Wohnsitz in Freiburg i. Br., feierte in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag. Grund genug, ihn zu einem Gespräch zu besuchen (DBZ.de) und ihm zu...

mehr