Radikalmethodik
Fotografie, die nicht nur abbilden, sondern vorstellen möchte, hat ein wesentliches Problem: Sie ist im Ergebnis (dem Abzug) zweidimensional. Im Gegensatz zum ebenfalls zweidimensionalen Film liegt dem Foto zudem das Statische inne, was es wiederum distanzierend macht.
Wie nun aber ein Haus so fotografieren, dass wir die Distanz überbrücken, seine inhärente Räumlichkeit nachvollziehen, im besten Fall spüren können? Beim Film verschiebt sich mit dem Kamerastandpunkt die Einzelbildperspektive, wir können in der Bewegung, in den Bilderfolgen den Raum in der Kamerafahrt „erfahren“. Hiervon ausgehend haben in der Vergangenheit immer wieder Fotografinnen die Kamerafahrt für Bilderfolgen nachgebaut, haben das Objekt mit Einzelbildern eingekreist. Klassische Architekturfotografie geht meist vom Rundgang außen über den Eingang, das Foyer nach innen und endet schon mal auf dem Dach oder im Keller.
Ulrich Schwarz hat sich nun eines Gebäudes angenommen, das so einfach nicht räumlich erfahrbar gemacht werden kann. Er hat die Neue Nationalgalerie Mies van der Rohes, Potsdamer Straße 50, in Berlin besucht. Der von Achsen in einem klaren Raster geprägte Ausstellungsbau ist als Ganzer vielleicht noch in der Totalen, im Detail zum Ganzen aber kaum fotografisch vorzustellen. Ulrich Schwarz antwortet auf die Schwierigkeit mit der Entwicklung eines eigenen, dem Mieschen Raster analogen Laufschemas. In 15 Sequenzen, die entweder parallel zum Raster des Gebäudes oder im 45 °-Winkel dazu Fotoreihen um, am und durch den Bau zeigen, wandert die Kamera mit immer gleichem Augpunkt von West nach Ost, Nord nach Süd und umgekehrt. Durchfährt dabei die Glasfassade oder Leichtbauwände (im UG), öffnet neue Blicke nach rechts und links zur Fotoachse und endet auch schon einmal direkt vor dem Material. Noch nie habe ich einer Fußleiste unterhalb einer weißen Wand diese Bedeutung zugesprochen erlebt!
Das Durchwandern auf klaren Linien erklärt den Bau und offenbart seine Raffinesse, die gewollt oder aus der unbedingten Totalität der Maße ganz natürlich erwachsen ist. Und selbst wenn man das Haus nach seiner Sanierung in den vergangenen Jahren wiederholt aufsuchte, selbst dann erscheint es noch einmal ganz anders.
Es fehlen Räume, die aber in dieser Radikalmethodik schwer zu fassen sind; die neue Garderobe beispielsweise oder die Treppenanlage auf der Nordseite. Und: Es fehlen Menschen. Die Bilder von perfekter Machart sind leer; gesäubert? Da scheint es passend, diesem haarscharfen, chirurgischen Ansatz einen Text von Ulf Erdmann Ziegler als ein pastoses Gegenüber zur Seite zu stellen. Der zu dem Schluss kommt, dass Häuser dieser Art Tempel sind, in denen es auch darum geht, das, was man nicht sehen kann, zu erspüren, „eine Stimme, die immer da ist, die erklärt und betört, die summt und flüstert.“
Dass eine solch elaborierte – auch gestalterisch feine – Arbeit nicht viele Objekte aus der Baugeschichte erfahrbar machen kann, liegt auf der Hand. In der Neuen Nationalgalerie hat der Fotograf ein ideales Objekt gefunden. Ab heute werde ich noch einmal ganz anders durch den Tempel laufen; Ulrich Schwarz sei Dank. Be. K.
103 Farbabb.48 €ISBN 978-3-96070-111-8