Ein Quartiersbaustein in der Stadt

Wohnen im Projekt wagnisART, München

Gentrifizierung! Das Schreckensszenario ist bis dato das Hauptthema der Nachrichten, die man vom Münchner Wohnungsmarkt hört. Dass es auch anders gehen kann, zeigt das mittlerweile fünfte Projekt der Wohnbaugenossenschaft wagnis eG auf dem Gelände der ehemaligen Funkkaserne.

München ist beliebt. Besonders bei finanzstarken Kapitalanlegern, die die Preise für das Wohnen in den letzten Jahren haben explodieren lassen. Um diesem Trend entgegenzuwirken, hat die Stadt München verschiedene Maßnahmen ergriffen, die zum Erhalt der sogenannten Münchner Mischung führen sollen. Prozentual festgelegte Anteile städtischer Wohnbauflächen werden für den geförderten und den frei finanzierten Wohnungsbau vergeben, davon 20 bis 40 % der Gesamtflächen an Baugemeinschaften und Genossenschaften.

Ca. 40 Wohnungsbaugenossenschaften gibt es inzwischen in München, das entspricht ungefähr 5 % des Marktes. Die ältesten gründeten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts und verwalten bis dato primär den Bestand. Spannender sind die jungen Wilden wie die Genossenschaft wagnis eG, die seit der Gründung im Jahr 2000 bereits 425 Wohneinheiten in fünf Projekten neu gebaut hat. 135 weitere Wohnungen sind im Bau, Tendenz steigend. Als Mieter im eigenen Haus bieten die Wohnungsbaugenossenschaften eine attraktive Alternative zu den konventionellen Lösungen Miete und Immobilienbesitz. Wer hier wohnt, unterschreibt keinen Miet-, sondern einen Nutzungsvertrag, der bei wirtschaftlich vertretbaren Kosten lebenslang gilt. Doch das ist nicht alles. Wer Genossenschaftsmitglied ist, sucht ein verbindliches Miteinander – nicht nur eine Fläche zum Bewohnen.

Das Konzept

Im Projekt wagnisART verteilen sich 305 Bewohner, davon 107 Kinder, auf 138 Wohnungen in fünf Häusern, die durch Höfe und einen Ring aus umlaufenden Brücken miteinander verbunden sind. Basierend auf der städtebaulichen Neuplanung war das Grundstück neben dem städtischen Atelierhaus der ehemaligen Künstlerkolonie als Schlusspunkt der gesamten Quartiersplanung entlang der Domagkstraße schon frühzeitig als Grundstück für Genossenschaften vorgesehen. Um die Entscheidung für eine Bewerbergruppe nicht von der Finanzkraft abhängig zu machen, vergibt die Stadt München Grundstücke an Genossenschaften in einer sogenannten Konzeptausschreibung. Dazu gehören nicht nur soziale Durchmischung und Angebote an die Gemeinschaft, sondern auch quartiersrelevante Themen. „Wir versuchen immer ein Konzept zu realisieren, das mehr bietet als nur Wohnungen“, beschreibt Elisabeth Hollerbach, Initiatorin der ersten Stunde, die Grundidee. „Es gibt deshalb nicht nur Gemeinschaftsräume für uns, sondern auch Einrichtungen, die das Quartier mit einbeziehen. Bei wagnisART ist dies ein großer Veranstaltungssaal, das genossenschaftlich geführte Café, Gäste-Apartments, Werkstätten, Praxen, Ateliers, Musikübungsräume und andere Infrastruktur-Einrichtungen wie Car-Sharing, so dass da von Anfang an städtisches Leben passiert.“ Die Vision geht auf, der öffentliche Raum zieht sich durch die angeschlossenen Nutzungen in der Erdgeschosszone für alle erlebbar durch die Anlage.

Dass die fünf Gebäude, die als Passivhäuser auch den Nachhaltigkeitsgedanken der Genossenschaft erfüllen, in ihrer Form so selbstverständlich dastehen, war kein leichter Weg. Der Bebauungsplan für das Areal und eine sehr konkrete Gestaltungsfibel der Stadtplaner ergaben eine seltene Chance. Nämlich die Potenziale der Rahmenbedingungen kreativ auszuloten und die Vorgaben auf eine umlaufende Baugrenze und maximale Geschossigkeit zu minimieren.

Aus der Luft erscheinen die Baukörper wie zufällig gesetzte Steine, deren Verortung und Ausrichtung verschiedene Schichtungen von öffentlich bis privat ermöglicht. Die kompakten Volumen mit polygonalen Zuschnitten und einer großen Tiefe schaffen Aufenthaltsräume, wo andere nur Erschließungsflächen sehen. Die Treppenhäuser sind weitläufig und luftig und ermöglichen als Kommunikationsraum schon mal ein spontanes Happening zwischen den Geschossen. Verbindendes Element – und das nicht nur optisch – sind die Brücken, die je nach Bedarf und Spontaneität genutzt werden können. Neben den begrünten Dachterrassen finden sich auch hier Flächen für gemeinsame Aktivitäten, Pflanzbeete und kreative Freiräume.

Umgang mit Gemeinschafts- und individuellen Räumen

„Die prominentesten Plätze sind für die Gemeinschaft reserviert“, beschreibt Rut-Maria Gollan, die als Bewohnerin und Mitglied des Vorstands bei wagnisART die Pionierarbeit ihrer Vorgängerin Elisabeth Hollerbach übernommen hat, eines der Grundprinzipien der Genossenschaft. „Denn die Frage ist doch, ob ich alles privat besitzen muss, oder ob es ausreicht, die Dinge bei Bedarf zu nutzen, von der Gemeinschaft auszuleihen.“ Durch diese Auslagerung der Nutzflächen können die individuellen Wohnflächen kleiner werden, ohne dies als Verlust zu empfinden. Auch bei der Wohnungstypologie ging man neue Wege. Neben den konventionellen Wohnungen wurden 30% der Wohnfläche für die sogenannten Wohn-Cluster vorgesehen. Nicht zu verwechseln mit einer Wohngemeinschaft, ordnen sich unterschiedlich große, autark mit einer Küche und Bad ausgestattete Apartments an einen gemeinschaftlich nutzbaren, großen Wohn- und Kochbereich an. Mit dem Künstler-Cluster ARTrefugio findet auch wieder die Verortung zu Münchens ehemals größter Künstler­kolonie auf dem aufgelassenen Kasernengelände statt. Dass die Bewohner die Angebote unterschiedlich intensiv wahrnehmen, muss jedem klar sein. Es gab seit Bezug vor knapp zwei Jahren aber auch kaum Umzüge.

Dass die finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen sich dem Solidaritätsprinzip unterordnen, zeigt die Ver­teilung der Wohnungen im Quartier. Wer denkt, die Penthäuser mit bester Aussicht seien die frei finanzierten Wohnungen, wird eines Besseren belehrt. „Wir bauen mit einem Standard, der EOF-fähig ist (einkommensorientierte Förderung), und das ist die Maßgabe für alle. Die Wohnungen haben alle die gleiche Ausstattung!“, erklärt Rut-Maria Gollan. Eine weitere Vorgabe, die von Anfang an von allen mitgetragen wurde, war die Entscheidung für den Mehrwert der Gemeinschaftsflächen, wie zum Beispiel die umlaufenden Brücken, die die fünf Häuser neben der baulichen auch in gesellschaftlicher und sozialer Ebene verknüpfen. Solche Extras müssen von der Gemeinschaft mitfinanziert werden, was bedeutet, in den eigenen vier Wänden bei gutem Standard auf Boni wie eine Fußbodenheizung zu verzichten. Dafür ermöglicht der partizipative Ansatz eine Teilhabe, die sonst gar nicht umsetzbar wäre. So durften die Bewohner die Fassaden nach einem Baukastensystem aus drei verschiedenen Fensterformaten unter Einhaltung weniger Regeln frei gestalten: Es gab je drei horizontale und zwei vertikale Achsen, entlang derer die Fenster positioniert werden durften, es wurde nicht am „eigenen“ Haus gearbeitet, und man durfte in der eigenen Wohnung ein Fenster verändern. Nicht nur in diesem Fall vermeidet der von der Mehrheit getragene Beschluss Konfliktpotenzial. Auch die Wertschätzung von Gemeinschaftseigentum steigt immens.

Partizipative Prozesse

Die Architekten, die Arbeitsgemeinschaft aus bogevischs buero und shag, Udo Schindler und Walter Hable Architekten, sind maßgeblich beteiligt, dass Partizipation hier nicht nur theoretisch konzeptionell gedacht, sondern auch praktisch umgesetzt wurde. Zum Teil schon erfahren mit partizipativen Prozessen konnte der Anspruch der wagnisART-Mitglieder an die Architektur in einem außergewöhnlichen Entwurfskonzept umgesetzt werden. „Der Kern und das Besondere ist der Entstehungsprozess“, erklärt Rainer Hofmann von bogevischs buero. „Man muss sich von der klassischen Autonomie des Planers verabschieden und eine neue Rolle des Dirigenten einnehmen. Der gelebte partizipative Prozess der Gestaltfindung führt zu einer anderen Architektur, bei der nicht die Individualisierung der eigenen Wohnung im Vordergrund steht, sondern der Gemeinschaftsgedanke. Das zeigt sich insbesondere in den halböffentlichen Freiräumen, die eine Art unsichtbare Codierung und damit Kultivierung erfahren. Das Private ist präsent auch dann, wenn die Bewohner nicht anwesend sind. Das ist eine unheimliche Qualität.“ Auch Walter Hable schätzt das Abenteuer, auf das er sich eingelassen hat: „Im Gegensatz zu klassischen Wohnungsbauprojekten, wo der Dialog nur zwischen Bauträger und Architekt geführt wird, geht das Projekt wagnisART meilenweit über die Grundbedürfnisse einer schützenden Hülle hinaus. Ich würde sogar so weit gehen, das hier entstandene Projekt mit dem konservativen Begriff ‚Heimat‘ zu betiteln. Es ist identitätsstiftend, ein Quell an Aktivität und Ideen, was einem ein Bewusstsein dafür gibt, wie Gesellschaft eigentlich funktionieren sollte ...“

Weiterer passender Artikel: Passivhäuser - wagnisART im DomagkPark

Baudaten

Objekt: Genossenschaftliche Wohnanlage wagnisART
Standort: Fritz-Winter-Straße 4–16, München
Typologie: Wohngebäude
Bauherr: Wohnbaugenossenschaft wagnis eG
Projektleiter: Elisabeth Hollerbach
Architekt: ARGE bogevischs buero architekten & stadtplaner GmbH, München, www.bogevisch.de und SHAG Schindler Hable Architekten GbR, München, www.sh-ag.org Mitarbeiter (Team): Rainer Hofmann, Julius Klaffke, Cornelia Müller, Udo Schindler, Walter Hable, Christoph Schäfer, Johannes Duarte
Bauleitung:
Architekturbüro Christian Köhler
Projektsteuerung: EDR GmbH, München
Bauzeit: Januar 2013 – September 2016

Fachplaner

Außenanlagen: ARGE bauchplan Landschaftsarchitekten und Stadtplaner, München, www.bauchplan.de und Auböck + Kárász, Landscape Architects, Wien/AT, www.auboeck-karasz.at
Tragwerksplaner: Henke Rapolder Frühe Ingenieurgesellschaft mbH, München, www.hera-ing.de
TGA-Planer: Ingenieurbüro EST Energie SystemTechnik GmbH, Miesbach, www.energiesystemtechnik.de
Akustikplaner: Steger + Partner GmbH, München, www.sp-laermschutz.de
Energieplaner: Ingenieurbüro EST Energie SystemTechnik GmbH, München, www.energiesystemtechnik.de
Energieberater: Herz & Lang, Weitnau, www.herz-lang.de
Brandschutzplaner: K33, München, www.k33-brandschutz.de

Projektdaten

Grundstücksgröße: 20 275 m²
Grundflächenzahl: 0,79
Geschossflächenzahl: 1,58
Nutzfläche: 10 835 m²
Brutto-Grundfläche: 20 275 m²
Brutto-Rauminhalt: 63 300 m³

Baukosten

KG 300 (brutto): 18 Mio. €
KG 400 (brutto): 5,4 Mio. €
KG 500 (brutto): 1,5 Mio. €
Gesamt brutto: 25 Mio. €
Gesamt netto: 20,25 Mio. €

Energiekonzept

Dach: Stahlbeton / MW 60 cm
Außenwand: Holzständer / MW 50 cm
Fenster: Kunststoff - 3-fach Verglasung
Boden: Stahlbeton / MW 40 cm
Primärenergiebedarf: 120 kWh/m²a
Jahresheizwärmebedarf: 15 kWh/m²a
Gebäudeheizlast: 10 W/m²

Gebäudehülle

U-Wert Außenwand = 0,11 W/(m²K)
Als „zertifiziertes Passivhaus“ erfüllt das Projekt die Kriterien des Passivhaus Institut

Hersteller

Dach: Paul Bauder GmbH & Co. KG, www.bauder.de
Fenster: REHAU AG + Co, www.rehau.com
WDVS: Sto SE & Co. KGaA, www.sto.de
Wandinnenbekleidung:
Knauf Gips KG, www.knauf.de
Dämmung: Knauf Insulation GmbH, www.knaufinsulation.de
Sonnenschutz: Nova Hüppe Sonnenschutzsysteme GmbH, www.novahueppe.de; WAREMA Renkhoff GmbH, www.warema.de
Türen/Tore: Hörmann KG, www.hoermann.de
Brandschutzklappen: TROX Group, www.trox.de
Linoleum: Forbo Flooring GmbH, www.forbo.com
250kW Fernwärmekompaktstation: PEWO Energietechnik GmbH, www.pewo.com
Pufferspeicher: BTD Behälter- und Speichertechnik Dettenhausen GmbH, www.btd-gmbh.de
Wohnungslüftung:
Helios Ventilatoren GmbH & Co. KG, www.heliosventilatoren.de
Clusterlüftung: Zehnder Group Deutschland GmbH, www.zehnder-systems.de, J. Pichler Gesellschaft mbH, www.pichlerluft.at

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