„Wir brauchen Menschen, die man heute für bekloppt hält!“ NEXT Expertenforum

Wenn schon der Moderator ein ausgewiesener Experte ist, wer müssen dann die eingeladenen Experten der Gesprächsrunde sein? Die Frage, der in Frankfurt a. M. organisierten Runde nachgegangen wurde, nämlich „Welche Möglichkeiten bieten adaptive Fassaden bei der Planung von zukunftsgerechten, nachhaltigen, komfortablen und ästhetisch anspruchsvollen Gebäuden?“ zielte tatsächlich auf einen überschaubaren Kreis von Fachleuten. Eingeladen zum ersten virtuellen NEXT Expertenforum am 22. September im NEXT Studio by Wicona + Partners in Frankfurt waren: Dipl.-Ing. Lars Anders (Geschäftsführer Priedemann Fassadenberatung), Prof. Dr.-Ing. Daniel Pfanner (Partner/Geschäftsleitung Bollinger+ Grohmann), Rudi Scheuermann (Director und Global Leader Building Envelope Design Arup) und Martin Zitto (Senior Business Development Manager Merck). Der Moderator der, wie man heute so gerne schreibt, „hybriden Veranstaltung“ war Prof. Dr.-Ing. Ulrich Knaack (TU Darmstadt/TU Delft). Geht mehr Fachkompetenz aus Architektur, Fassadenplanung und Forschung?

Vielleicht international geschaut, aber ansonsten war sämtlichen Randgesprächen vor und nach der live gestreamten Veranstaltung abzulauschen, dass beinahe alles, was nicht privater Natur war, den neuesten Personalien, den neuesten Neubesetzungen, den wahrscheinlichsten Übernahmen oder möglichen neuen Ausgründungen gewidmet war. Und immer: Kennst du nicht noch jemanden, der bei diesem oder der mitarbeiten möchte? Doktoranden-/Professoren-/Geschäftsführer-/Forschungsantragsbewilligungsverfahrensgeschichten.

Details dürfe er nicht zeigen

Stichwort Forschung: Daniel Pfanner, der in seinem Vortrag Technik und Möglichkeiten des „Fluid­ Flow Glazings“ vorstellte, zeigte in einem Schema einen kleinen Kasten, der verantwortlich ist für die Steuerung des zwischen den Fenstergläsern ausströmenden Wassers. Der Kasten sei hier nur schematisch wiedergegeben, so Daniel Pfanner, Details dürfe er nicht zeigen, das Projekt sei sensibel im Hinblick auf die Wahrung des Entwicklungs- und Knowhow-Vorsprungs. „Fluid Flow Glazing“ ist ein Verfahren, das seit geraumer Zeit im Rahmen des internationalen Forschungsprojekts InDeWag mit mehreren Partnern entwickelt und getestet wird. In ihm wird der Scheibenzwischenraum einer Isolierverglasung von (durchsichtigem) Wasser durchströmt. Das leitet die solare Energie ab und man kann, so der Ingenieur, auf einen konventionellen Sonnenschutz verzichten. Die immer transparenten Scheiben erlauben andererseits bei Wasserstillstand ausreichenden Wärmeeintrag, so dass „wir die Heiz- und Kühllasten im Gebäudeinneren so reduzieren, dass wir nahezu ein Nullenergiehaus-Niveau erreichen.“ Bei einem spanischen Partner der Kooperation (der mit der Geheimhaltungsweisung) ist seit vielen Jahren ein ständig optimierter Prototyp im Einsatz. In einem Pavillon mit einer „Fluid Flow Glazing“-Fassade an der Bulgarischen Universität Sofia finden intensive Monitorings und Simula­tionen statt – mit dem Ziel, das anpassungsfähige System marktreif zu machen.

Lars Anders sprach aus seiner Rolle des Geschäftsführers zum Thema „Competitive Agility: Wie sichern wir unseren Erfolg?“ Dass er hier seine Kompetenz als Fassadenexperte über Stichworte ausspielte, wie Anpassung an Umgebungsveränderungen, Senkung der Energiekosten, Nutzerkomfort und Raumklima mit Akustik, war erwartbar. Dass er Prototypen zeigte, die in der Entwicklung mit der Industrie entstanden, machte das Allgemeine anschaulich nachvollziehbar.

Zurück zur Natur?

Rudi Scheuermanns Vortrag „Beyond Smart By Nature“ zog sämtliche Register, die nicht technischer Art waren, erstaunlich für ein mit Hightech assoziiertes, international ausgerichtetes Ingenieurbüro wie Arup es nun einmal ist. Der Architekt setzte den Akzent deutlich auf ein Zurück zur Natur, die er als wertvolle Inspirationsquelle für die Gestaltung und den Bau von adaptiven Gebäudehüllen sieht. Nun ist diese Blickrichtung keine – neue bionische Ansätze gibt es immer schon –, dennoch muss man feststellen, dass sie mehr und mehr aus dem Fokus geraten sind. In die gleiche Richtung zielte sein Verweis auf den „sinnvollen Einsatz“ natürlicher Lüftung in Fassadenkonzepten: Per Handkurbel betriebene Fensteröffnungen im Flughafen seien hier „natürlich Quatsch!“ wie ebenso auf die Bedeutung der begrünten Gebäudehülle (Mikroklima, Akustik, Luftfilter etc.) insbesondere auch mit Blick auf den Energieverbrauch der Gebäude selbst – ein wichtiges Argument für Mehrkosten in der Planung und Erstellung gegenüber den Bauherrn.

Fassade und Pharmariese: geht das?

Zum Abschluss sprach Martin Zitto über „Dynamisches Glas als Kern der adaptiven Fassade“, ein Geschäftsfeld, das man vielleicht bei einem Pharmaunternehmen zuerst nicht vermutet hätte, das aber durchaus Sinn macht im großen Ganzen des Portfolios. Das dynamische (steuerbare) Glas biete viel Gestaltungsfreiheit, ermögliche einen effektiven Sonnen- und Blendschutz mit sekundenschnellen Schaltzeiten und sorge für ein jederzeit auf die Umgebungsbedingungen abgestimmtes angenehmes Raumklima. Die Bedeutung dieser Technologie hatte ja auch schon unser Heftpartner, Ralf Rache von Rache Engineering, Aachen, für die kommenden Jahre festgestellt (DBZ 09|2020).

Wird Standard? Commissioning Building

Zwei Aspekte, die in der Schlussrunde noch einmal auftauchten, sollen nicht unerwähnt bleiben. Zum einen der Aspekt des „commissioning building“, über das der Auftraggeber erst dann die restlichen 10 oder mehr Prozent der Vertragssumme auszahlt, wenn sich nach einer vereinbarten Nutzungszeit die zugesagten Leistungen (der Fassade) auch erfüllen. Diese spezielle Vertragsform werde sich, so Lars Anders, international mehr und mehr durchsetzen. Mit allen Konsequenzen, so unter anderem mit dem verstärkten Monitoring der Gebäudeleistung über im Bauprozesse installierte Sensorik. Und Daniel Pfanner machte klar, dass man immer wieder Antreiber brauche, die man „für bekloppt erklärt“, so wie es der Firma Gartner mit ihren CCF Fassaden (Closed Cavity Façade) ergangen sei, die heute zum internationalen Fassadenstandard gehören und Gartner ein riesiges Geschäftsfeld geöffnet haben. Und vielleicht wäre das genau der Ansatz für die Folgeveranstaltung bei Wicona: Einmal auf das zu schauen, was an den Rändern passiert, das scheinbar Kuriose, das Verrückte und Bekloppte. Das Fassadenthema ist dafür eine ideale Spielwiese! Be. K.

www.next-studio.de
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