Integral gedacht
Brücke Graf-AdolfStraße, Lünen

Wer immer entgegen den Herausforderungen und nicht mit ihnen plant, bekommt am Ende womöglich nicht das heraus, was im westfälischen Lünen als schlankes und äußerst dynamisch anmutendes Brückenbauwerk über die Lippe gelungen ist. Die Ingenieure erkannten in dem Problem, große Versorgungsleitungen an einem Brückenbauwerk unterbringen zu müssen, die Chance für eine ganz besonders einleuchtende Lösung.

Voraussetzungen / Städtebau

Die westfälische Stadt Lünen ist dem einen oder anderen wegen der Scharoun-Schule bekannt (Scharouns zweiter Schulbau mit dem im naheliegenden Marl) oder dem Rathausentwurf von den Berliner Architekten Rausch und Stein. Dass die Kleinstadt an der Lippe natürlich auch ein paar Brücken hat, konnte in der Vergangenheit niemanden so richtig interessieren. Was möglicherweise jetzt anders ist, denn mit dem Ersatzneubau an der Graf-Adolf-Straße hat die Stadt ein modernes Brückenbauwerk erhalten, dessen intelligente Konzeption und bauliche Ausführung Vorbild sein könnte für vergleichbare Brückenaufgaben.

Die alte Brücke über die Lippe war auf Grund ihres Zustands nicht mehr in der Lage, alle Fahrbeziehungen aufzunehmen, insbesondere die seitlich an der Konstruktion befestigten Elemente zur Aufnahme des Fußgängerverkehrs machten altersbedingt erhebliche Probleme. Die Stadt entschloss sich also, über einen Wettbewerb einen Entwurf auszuwählen, auf dessen Grundlage ein Verfahren mit vier eingeladenen Planungsbüros in Anlehnung an einen freiraumplanerischen Wettbewerb durchgeführt wurde. Gewonnen hatte dieses Verfahren das Ingenieurbüro SchülkeWiesmann aus Dortmund.

Entwurf / Tragwerkskonzept

Den Dortmundern war von Beginn an klar, dass ihr Entwurf in der Tradition der Fluss- und Kanalbrücken in Westfalen als Bogenbrücke realisiert werden sollte. Allerdings, anders als bei klassischen Stabbogenbrücken, sahen die Ingenieure mit langer Brückenbauerfahrung nur einen statt der sonst häufigen zwei Bögen vor, der in der Brückenmitte angeordnet wurde. Dieser hat – um sich in die innenstadträumliche Silhouette mit St. Marienkirche nordöstlich und südöstlich hoch ragendem Rathaus einzupassen – einen Stich von nur etwa 1/10. Der Bogen ist mit fachwerkartigen räumlichen V-Hängern versteift, wobei das jeweils zweite Paar, von den Widerlagern aus gezählt, als Druckstäbe wirkt. Die Fahrbahnplatte wurde als Halbfertigteil-Verbundplatte auf Fischbauchquerträgern ausgeführt.

Mittiger Einzelbogen und flacher Stich zeichneten den Entwurf im Wettbewerbsverfahren schon aus, hinzu kam die intelligente, statisch wirksame Einbindung der Versorgungsleitungen (Fernwärme, Gas, Ab­wasser etc.), die in der Vergangenheit über eine schlichte Rohrleitungsbrücke parallel zur Fahrbrücke geführt worden waren. Gemäß Versorgervorgaben mussten diese Leitungen (weil über Fließwasser) in stählernen Schutzrohren geführt werden. Diese interpretierten die Ingenieure ein­fach als Verbundträger, indem sie auf die Röhren einen Steg nebst Flansch und Kopfbolzendübel aufsetzen, die später mit der Fahrbahnplatte vergossen wurden. Diese integrale Konstruktion übernimmt die antimetrischen Lasten der Brücke aus Verkehr, die allein über den mittig gesetzten Bogen mit den relativ kleinwinklig abgespreitzten Hängern nicht hätten kompensiert werden können. Dennoch nutzen die Ingenieure den schmalen Winkel, um die Hänger offen an die Querträger zu schweißen. Dadurch wird die Brücke in der Mitte zu einem extrem gestreckten Oval geöffnet, dessen Schwung die Planer in den Straßenverlauf weiterführten: Wer über die Brücke fährt, der muss eine leichte Kurve fahren; was sich positiv auf die Fahrgeschwindigkeit auswirkt.

In der Brückenmitte – hier ist sie auch am höchsten, was eine Entwässerung zu beiden Seiten leicht ermöglicht – haben die Planer je zwei Bänke aufgestellt. Mit dem Rücken zum Verkehr können Fußgänger von hier aus auf die Lippe schauen – oder auf die Stadtsilhouette mit Kirche.

Details

Herausforderungen in der Realisierungsphase gab es einige, so beispielsweise die, wie ein Rohr (zunächst noch in vier Teilen) mit einem Durchmesser von 60 cm und einer Wandstärke von 70 mm zu biegen sei. In Deutschland konnte das keiner, schließlich fand man eine Spezialfirma im britischen Birmingham.

Eine Überrascung (möglicherweise nur für den Brückenbaulaien) gab es bei der Besichtigung der Brücke vor Ort: Da die Konstruktion in integraler Bauweise ausgeführt wurde, konnte auf Gleitlager und Dehnfugen verzichtet werden: Bohrpfähle, Widerlager und Brückenüberbau sind monolithisch und damit lagerlos miteinander verbunden. Die Gründung je Widerlager erfolgte auf vier Großbohrpfählen.

Ebenfalls überraschend für den Laien ist die große Herausforderung, die Hänger so in den Bogen zu führen, dass sie passgenau oben und unten im Rohr schrittweise zu verschweißen waren. Die Öffnungen für die Hänger, welche schiefwinkelig und exzentrisch in die gebogene 70 mm starke Rohrwand einlaufen, mussten rechnerunterstützt konstruiert und gefräst werden. So kommt der Anschluss von Hänger und Bogen ohne die im Brückenbau üblichen Knotenbleche aus.

Montage

Montiert wurde die Brücke nicht – wie sonst oft üblich – durch Einschwimmen der Teile. Da die Lippe in diesem Bereich nicht schiffbar ist, musste die Stahlkonstruktion am südlichen Ufer zusammengebaut werden und dann mit einem Kran als komplettes, 230 t schweres Bauteil in die Widerlager eingehoben werden. Da hier nicht bloß die Anschlüsse an den Brückenlagern (Bogenlager), sondern auch die an den Rohren passen mussten, war diese Arbeit vor dem Betonieren der Fahrdecke der vielleicht anspruchsvollste Montageakt.

Da das Brückenbauwerk mitten in der Stadt Lünen liegt, wurde es auch im Detail architektonisch aufwendig gestaltet; so wurden z. B. Edelstahlgeländer mit integrierter LED-Beleuchtung installiert.

Fazit

Die neue Brücke über die Lippe überzeugt durch ein gestalterisches Konzept, das durch Dynamik und Intelligenz gekennzeichnet ist. Dynamisch wirken der extrem flache Bogen mit den filigranen Hängern sowie der Schwung des Fahrbahnverlaufs. Intelligenz zeigt sich in der integralen Planung des statischen Konzepts, das die vorgegebenen Anforderungen, Versorgungsleitungen aufzunehmen, nicht als zusätzlichen Ballast interpretiert, sondern sie ganz im Gegenteil als eine Chance begreifft. Durch die Definition der Versorgung als Verbundträger konnten die Ingenieure ihr schlankes Brückenbauwerk überhaupt erst so realisieren. Dass am Ende aus Kosteneinspargründen die Fahrbahn schmaler als geplant realisiert wurde, ist insofern bedauerlich, weil damit die Öffnungsweite an den beiden Brückenzugängen, die durch den nötigen Einschwung der Edelstahlgeländer vorgegeben wird, für ein entspanntes Nebeneinander beim Schlendern ein wenig knapp ausgefallen ist. Be. K.

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