Grandiose Möglichkeit

Wie viele Male bin ich schon die Via Mala im Schweizerischen Graubünden gefahren auf dem Weg zum Passo San Bernardino!? Viele Male. Und dabei immer wieder staunend über Brücken gefahren, deren Bauart aus einer anderen Zeit zu kommen scheint und die ich immer mit Robert Maillart verbunden habe. Seine Salginatobelbrücke an der Verbindungsstraße nach Schuders fehlt in keinem Inge­nieurfachbuch zum Brückenbau, auch touristisch orientierte Publikationen zeigen den schlangen Dreigelenkbogen aus Stahlbeton. Dass dieser Bau – und viele weitere, prominente und bestaunte Brückenbauten wie die Viadukte von Solis, Wiesen und Langwies, Brücken der Rhätischen Eisenbahn – so nicht hätten in die wilde Landschaft gesetzt werden können, hätte nicht der Zimmermann und Techniker Richard Coray mit seinen Leuten oft waghalsige Lehrgerüste für das Darübermauern, Betongießen etc. erstellt, das wird selten hinterfragt. Sogar in seriösen Projektbeschreibungen zu diesen Brückenbauten fehlt der Name Coray.

Richard Coray (1869–1946) muss ein Ausnahmetalent gewesen sein, er hatte, neben aller Zähigkeit und Willenskraft offenbar auch ein gutes Auge, die Fähigkeit, Konstruktionen intuitiv zu denken und mit jedem Projekt weiterzuentwickeln. Dass wir heute nur noch Spuren seiner Arbeit finden, die das Besondere allenfalls dem zeigen, der über die Hintergründe Bescheid weiß, das liegt in der Sache begründet: Nach Fertigstellung des Bauwerks wurden die Helfsbauten abgesenkt, abgebaut und – weil meist aus Massivholz – für weiteres Bauen wiederverwendet.

Aber jetzt! Bei Scheidegger & Spiess gibt es nun eine äußerst beeindruckende, großformatig gewichtige (4,5  kg) Arbeit zu Leben und Werk dieses Mannes, den manche Fotos hier im Buch hoch oben auf seinen Konstruktionen freistehend zeigen, zig Meter über dem Talgrund, den die spätere Brücke einmal überspannen wird. Die Arbeit zeichnet den Lebensweg Corays vom Bauernsohn bis zum Unternehmer nach, und das anhand einer Chronologie seiner immer anspruchsvollen Gerüstbauten. Viele Pläne, Zeichnungen und Textteile, vor allem aber zahlreiche Fotografien mit teils atemberaubender Perspektive und fotografischer Qualität lassen den Verlust des umfangreichen Werks ein wenig gemildert empfunden sein. Und als wäre es ein Kinderspiel (Tragwerk, Material, Verbindungen etc.), liest und schaut man auf diese komplexen Hilfsbauten, deren Leistungsfähigkeit, deren Bauen und Abbauen man zu verstehen glaubt, so anschaulich wird das alles dargestellt.

Und dann kommen noch zahlreiche Fotografien von Lehrgerüstbauten als 1 : 100 Modelle, sämtlich in hunderten Stunden gebaut von Peter Gysi, Anschauungsobjekte, jedes ein kleines Kunstwerk für sich. Und eine gran­dio­se Möglichkeit, die Arbeiten, die ja längst verschwunden sind, einmal plas-tisch vor Augen geführt zu bekommen. Dann kommt eine Fotosammlung zu den Brücken, dann die Ingenieure, die die Brücken planten, Literatur, ein Personen- und Ortsregis-ter, Schluss. Dass Jürg Conzett die Tragwerke, dass Johann Clopath das Biografische, dass Andreas Kessler das Gerüst für die Maillart-Brücke detailliert darstellt, alles das macht diese Arbeit zu einer „Hommage“ (Verlag) nicht nur an den Unternehmer Coray. Sie steht vor allem auch für die gelungene Darstellung einer äußerst spannenden Baugeschichte (der Schweiz), die in dieser Art einmalig gemacht ist und weil enthusiastisch gefördert, ist sie auch zu einem überraschend niedrigen Preis zu erwerben. Be. K.

Johann Clopath, Richard Coray (1869–1946), Leben und Werk. Lehrgerüste für Brücken und Viadukte. Mit Beiträgen von Jürg Conzett und Andreas Kessler. Scheidegger & Spiess, Zürich 2021, 504 S., 43 Farb- u. 380 sw-Abb., im Schuber77 €, ISBN 978-3-03942-045-2
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