Philadelphia. Nicht nur Architektur. Ein Reisetipp

Von Manhattan nur eine gute Stunde mit dem Zug oder Auto entfernt liegt Philadelphia. Mit 1,5 Millionen Einwohnern ist sie die zweitgrößte Stadt an der US-Ostküste. Jeder fünfte in den Vereinigten Staaten praktizierende Arzt hat hier Medizin studiert. Nicht nur für Ärztekongresse wurde der ehemalige Bahnhof „Reading Terminal“ im Stadtzentrum Mitte der 1980er Jahre stillgelegt und in ein neues Kongresszentrum integriert, das sich nun über vier Straßenblocks in Center City zieht. Sehr zu empfehlen ist ein Imbiss im Reading Terminal Market mit mehr als 80 Ständen, an denen Landwirte aus der Amish County ihre Produkte anbieten. Schräg gegenüber steht der erste moderne Wolkenkratzer der Stadt. Das PSBS-Building – 1932 von George Howe und William Lescaze für die Philadelphia Savings Fund Society entworfen – beherbergt heute ein Luxushotel. Direkt nebenan füllt das Kaufhaus Macys einen weiteren Block. Der Kaufmann John Wanamaker ließ es 1910 von Daniel Burnham errichten. Faszinierend ist die größte Pfeifenorgel der Welt, die in diesen Konsumtempel integriert ist. Einmal täglich gibt es Orgelkonzerte zwischen Designerkollektionen und Parfumkreationen.

Die Wege sind kurz in Philadelphias Stadtzentrum. So sind es nur 4 Kilometer vom Schuylkill-River bis zum Delaware-River, den beiden Flüssen, die das historische Zentrum begrenzen. Das Rathaus (City Hall) ist das größte, städtische Verwaltungsgebäude der USA. Auf dem Rathausturm thront eine 11m hohe Statue von William Penn, die Alexander Calders Großvater geschaffen hat. Es dauerte 30 Jahre bis das 182 m hohe Rathaus 1901 fertig war. Immerhin ist es ein reiner Massivbau, errichtet ohne Stahlskelett, mit bis zu 6 m dicken Fundamenten aus Granit. Bis 1987 durfte kein Gebäude höher als das Rathaus gebaut werden. Erst dann entstanden die beiden postmodernen Türme Liberty Place One und Two von Murphy & Jahn, und seit 2008 krönt das Comcast-Center von Robert A. M. Stern mit 297 Metern Höhe die Skyline.

10 Blocks weiter östlich oder eine kurze Fahrt mit dem Bus von den Wolkenkratzern entlang der Chestnut Lane – und man ist im Herzen des historischen Unabhängigkeitsdistrikts. Glücklich ist, wer nicht Schlange stehen muss, um sich die berühmte Glocke mit Riss im Liberty Bell Center anzuschauen. Doch das Warten lohnt sich. Geschickt werden die Besucher durch den langen Bau an Ausstellungsstationen vorbeigeführt. Das Gebäude von Bohlin Cywinski Jackson wurde im Oktober 2003 eröffnet und ist Teil der Independence Mall, die nach einem Masterplan von 1997 historische Bauten wie die Independence Hall und Neubauten wie das National Constitution Center in einem Park verbindet. Leider ist das Gelände nur tagsüber von den Besuchern belebt, wirkt recht touristisch und wie ein Freilichtmuseum. Ein paar Straßen weiter südlich ändert sich das schlagartig. Hier wohnt man in historischen Reihenhäusern aus der Kolonialzeit, die sehr holländisch anmuten. Abends lohnt ein Besuch in einem der Lokale rund um den Rittenhouse Square. In dem etwas nobleren Viertel wohnt man und trifft sich auf ein Feierabendbier.

Vom Rittenhouse Square ist es nicht weit zur University City. 10 Blocks weiter westlich nach der Überquerung des Schuylkill-Flusses ist man im Herzen des Universitätsviertels. Hier hat Louis Kahn Architektur gelehrt. Das Fine Arts Building mit der School of Design liegt am Anfang des Locust Walks, einer Anlage wie ein traditionelles, englisches College. Louis Kahns Richard Medical Research Center mit seinen „dienenden“ Türmen ist ein Teil der zahlreichen verschiedenen medizinischen Ausbildungsstätten in Philadelphia. Im Okto­ber 2013 wurde das Krishna P. Singh Center for Nanotechnology der New Yorker Architekten Manfredi/Weiss eröffnet. Im Gegensatz zu den traditionellen Blöcken öffnet sich der Forschungsbau zur Straße und bildet einen grünen Hof. Seine Glasfassade eröffnet Ein- und Ausblicke nicht nur tagsüber sondern auch bei Nacht, wenn die orange verglasten Wände vor den Forschungslaboren leuchten.

Vom lebendigen Universitätsviertel geht es am AMTRAK-Bahnhof 30th Street Station zurück über den Fluss in die Center City. Hier steht auf dem Logan Square die bekannte „LOVE-Skulptur“, die der Künstler Richard Indiana 1976 zur Zweihundertjahr-Feier der Unabhängigkeitserklärung der Stadt schenkte. 100 Jahre zuvor gab es in Philadelphia zum Jubiläum eine Weltausstellung. Aus dieser Zeit stammt der Benjamin Franklin Parkway, ein Boulevard im französischen Stil, an dem sich ein Museum an das andere reiht. Die Prachtallee führt zum Fairmount Park, dem Weltausstellungsgelände von 1876, zu dem auch der Philadelphia Zoo gehört. Am Anfang des Parks thront das Philadelphia Museum of Art wie ein griechischer Tempel und als Abschluss des Boulevards. Kinofans mögen das Museum von der Leinwand kennen. Als Training lief Sylvester Stallone alias Rocky die Stufen zum Tempel hinauf. Sonntags ist „pay as you wish“, das heißt, jeder Besucher zahlt als Eintritt nur den Betrag, den er möchte – auf Wunsch auch gar nichts. Ein anderes Ausstellungsgebäude, der Neubau der Barnes Foundation von Williams/Tsien, steht seit 2012 am Benjamin Franklin Parkway. Ursprünglich war die exzentrische Sammlung des Pharmamagnaten Dr. Albert Barnes (mit einer Bandbreite von impressionistischen Gemälden über afrikanische Skulpturen bis zu eisernen Beschlägen) in seinem Anwesen in Merion beheimatet. Im Museumsneubau der Barnes-Stiftung mussten die New Yorker Architekten Tod Williams und Billie Tsien die Zimmer von Merion originalgetreu nachbauen mit der eigenwilligen Hängung von Barnes. Kein leichtes Unterfangen. Es gab drei verschiedene Konzepte. Entstanden ist nun ein langgestreckter Bau mit Natursteinwänden, über dem sich ein gläserner Riegel erhebt, der auf spektakuläre Weise Tageslicht in das Museum lenkt. Das Museum besticht räumlich besonders in den öffentlichen Bereichen und durch seine sehr guten Details, von den Außenanlagen bis zur Lichtführung.

Bei einem mehrtägigen Aufenthalt in Philadelphia lohnt sich eine Fahrt in den Vorort Chestnut Hill. Man erreicht die Endstation der Chestnut Hill West Line vom Stadtzentrum nach ungefähr 45 Minuten. Durch den Bau der Bahnlinie ist dieser Villenvorort Ende des 19. Jahrhunderts erst richtig aufgeblüht. Hier stehen viele Häuser im vikto­rianischen Stil. Und doch finden sich auch zwei Highlights aus den 1960er Jahren, die nur ein paar Schritte voneinander entfernt sind. Vanna Venturis House, besser bekannt als „My Mother’s House“, ist das Haus, das Robert Venturi 1963 für seine Mutter baute und das den Beginn der Postmoderne markiert. Um die Ecke befindet sich das Esherick House, ein One-Bedroom-House von Louis Kahn 1960 für Margaret Esherick errichtet. Es steht seit einigen Jahren zum Verkauf. Nicht nur die Finanzkrise scheint ein Grund dafür zu sein, dass es sich immer noch nicht hat veräußern lässt, sondern auch die Tatsache, dass das sanierungsbedürftige und seit 1992 unter Denkmalschutz stehende Haus nur ein Schlafzimmer besitzt.

Von diesen beiden Architekturikonen ist es nicht mehr weit zur Germantown-Avenue mit ihren kleinen Läden und Restaurants, die den Ausflug in den gediegenen Vorort abrunden. Zurück im Stadtzentrum bietet sich ein abendlicher Konzertbesuch im Kimmel Center for Performing Arts an. Rafael Viñolys Bau aus dem Jahr 2001 mit dem markanten Tonnendach aus Glas beherbergt zwei Auf­führungs­säle quasi als Häuser im Haus, von denen der kleinere flexibel nutzbar ist u. a. für Tanztheater. Für alle, die nicht sobald nach Philadelphia reisen können, bleibt die Leinwand. In den letzten 30 Jahren wurden hier in Philadelphia über 50 Kinofilme gedreht (nicht nur „Rocky“ sondern unter anderem auch „Der einzige Zeuge“, „Twelve Monkeys“ oder „Philadelphia“).

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